Ein Stück Papier

Gestern saß ich in meiner Stammbuchhandlung und blätterte in einem Buch von Joseph Roth, den ich sehr schätze.
Die Tür ging auf und eine Familie betrat den Laden. Der Mann war westlich gekleidet, seine Frau trug ein langes Kleid und war verschleiert, zwei kleine Kinder, ein Junge und ein Mädchen, hielten ihre Hände. Ich schenkte den Menschen keine Beachtung und las einige Sätze in verschiedenen Essays und Reportagen Roths. „Was ist ein Mensch ohne Papiere? Weniger als Papier ohne einen Menschen.” Dieser Satz brachte mich zum Nachdenken.
„Wie”, fragte ich mich, „wird diese Familie in Anbetracht der gegenwärtigen Situation in Europa wahrgenommen? Werden diese Menschen als potenzielle Gefahr angesehen, oder werden ihnen Respekt und Mitmenschlichkeit entgegengebracht?” Ich legte das Buch zur Seite und beobachtete die Situation an der Kasse, wo der Mann der Aushilfskraft dahinter in gebrochenem Deutsch verständlich zu machen versuchte, dass er einen Stadtplan von Graz erwerben wollte, um problemlos die Standorte diverser sozialer Einrichtungen ermitteln zu können.

Die Körpersprache der Angestellten, die ich noch nie in der Buchhandlung arbeiten gesehen hatte und die von einem Schildchen auf ihrer Bluse als Hilde ausgewiesen wurde, ließ deutlich erkennen, dass sie keine Freude daran hatte, sich mit offenkundig vor einem Krieg geflohenen Menschen abgeben zu müssen. Sie hatte zwar die freundlichste Miene aufgesetzt, zu der sie in dieser Situation wohl fähig war, doch ihre blauen Augen blickten kalt auf die Kundschaft und sie sprach absichtlich in so schlechtem Deutsch, dass ich mich des Eindrucks nicht erwehren konnte, dass sie den Mann spöttisch nachäffte.
Ich blieb im bequemen Ledersessel sitzen und dachte mir: „Was gehen mich die Probleme dieses Mannes, sich verständlich zu machen, an? Jeder Mensch muss selbst sehen, dass er zurande kommt.” Diese Überzeugung hatte ich mein ganzes Leben lang, also neundreißig Jahre.

Der Mann, der sich im Laufe der Diskussion mit Hilde als Flüchtling zu erkennen gab, hatte sehr wohl bemerkt, dass die junge Frau ihm nicht gewogen war, und wandte sich an seine Ehefrau, die, da ihre Hände in denen ihrer Kinder lagen, mit dem Kopf in Richtung Tür deutete. Ich wandte meinen Blick von der Szene ab und richtete ihn auf die Buchrücken, die mich umgaben. Ich sah Werke von Faulkner und Hemingway in den Regalen, dann die Fitzgeralds, meines Lieblingsautors.
Das kleine Mädchen begann zu weinen, einerseits, weil es die unschöne Szene mitbekam, und andererseits, weil es von seiner Mutter an der Hand gehalten wurde und nicht von Neugierde getrieben durch den Laden laufen konnte. Da fiel mir ein Satz von Fitzgerald ein: „Mit achtzehn sind unsere Überzeugungen Berge, von denen wir herunterschauen; mit fünfundvierzig sind es Höhlen, in denen wir uns verstecken.”

Plötzlich überdachte ich meine Überzeugung, dass jeder Mensch sich selbst zu helfen habe. Mir wurde bewusst, dass ich mich in einer Höhle befand, und das ganze sechs Jahre vor meinem fünfundvierzigsten Geburtstag. Ich war erschrocken über den Menschen, zu dem ich mich entwickelt hatte, und musste handeln.
Also erhob ich mich aus dem Sessel, ging zu der Familie und kaufte einen Stadtplan von Graz, welchen ich dem Mann gab, und wünschte ihm auf Französisch viel Glück in der Steiermark. Das Ehepaar bedankte sich sehr herzlich, und bevor ich die Buchhandlung verließ, riet ich Hilde, künftig ausschließlich mit ihrem Papagei in bemüht schlechtem Deutsch zu sprechen, denn der Vogel wäre wohl das einzige Lebewesen, das von ihr etwas lernen könnte.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 16109