Alles und nichts

Alles ist viel, nichts ist wenig. Nein, nichts ist nichts. Als ich mich entscheiden musste, ob alles oder nichts, da wusste ich noch nicht, wie wenig alles sein konnte.

Eine Flasche Whisky, den billigsten Fusel natürlich, zwei Flaschen Bier, Pils natürlich, und zwei Schachteln Zigaretten, West, die ganz starken natürlich, für die Nacht. Der Alkohol sollte reichen, um mich warmzuhalten, und die Kippen lassen die quälenden Stunden bis zum Morgen zwar objektiv nicht schneller vergehen, subjektiv aber schon, ich habe dadurch etwas zu tun, den Glimmstängel zwischen meinen gelbverfärbten Fingern halten und den Rauch einziehen, ausblasen. Beim Einatmen komme ich runter, die Welt dreht sich langsamer, ich habe das Gefühl, alles mir tagsüber Unergründliche zu verstehen. Sobald ich den teergetränkten Rauch ausatme, dreht sich die Welt so schnell wie immer, sodass ich das Gefühl habe, ich könnte herunterfallen. Hinabstürzen in ein endlich großes Nichts und irgendwann aufschlagen, dort liegen und mich nie wieder aus diesem Nichts wegbewegen können.

Ich bin sehr dankbar, dass der Kioskbesitzer an der Ecke heute nichts für die Zigaretten berechnet hat. Er weiß, dass ich meistens genug Geld habe, und wenn nicht, bringe ich es ihm am nächsten Tag zuverlässig. Manchmal schenkt er mir Zahnpasta, und ich kann in seiner Toilette meine langsam braun werdenden Zähne putzen. Danach fühle ich mich schön und lächle den ganzen Tag alle Menschen an, die ich sehe, egal ob sie hersehen oder nicht.
Heute hatte ich nicht genug Geld für Zigaretten, nur für den Alkohol. Heute hat es stark geregnet und es war herbstlich kalt, weswegen nicht viele Menschen in der Innenstadt waren, die mir ein paar Münzen hätten abgeben können.

Ich bin eigentlich nicht dumm, weswegen ich mich oft frage, wie ich hier gelandet bin. Auf Pappkartons und zwischen Mülltonnen, die mich vor kaltem Nordwind schützen. Als Kind fand ich Mülltonnen immer eklig, weil sie so gestunken haben, mittlerweile bin ich sehr froh um meine Mülltonnen.
Ich habe einen tollen Platz, in einer ruhigen Gasse, ein paar Straßen von der Westkirche entfernt. Ich mag es, wenn die Kirchenglocken zu läuten beginnen. Meine Großmutter hat früher, als ich noch ein kleines Mädchen war, immer zu mir gesagt, hörst du die Kirchenglocken? Die Engel feiern ein Fest und trinken auf uns Menschen, weil es uns so gut geht. Ich schraube den Whisky auf und trinke auf meine liebe Großmutter.

Ich bin sehr froh, dass der Regen aufgehört hat und schlendere durch den Park. Sehe Bob auf einer Bank liegen, sein linker Arm hängt hinunter, der rechte Arm liegt ruhig auf seiner Brust. Sein Hund scheint auch zu schlafen. Er heißt Marley. Bob ist beliebt bei Neuankömmlingen, er zeigt ihnen sichere Schlafplätze. Auch mir hat er geholfen, das ist nun schon Jahre her.

Diese Nacht ist ruhig, und ich genieße es sehr, ich muss mich nicht verstecken. In der Dunkelheit sieht niemand, wie schmutzig ich bin. Ich versuche mich einigermaßen sauber zu halten, im Gegensatz zu anderen Obdachlosen, die hier leben. Aber der Schmutz auf meiner Seele geht mit keiner Seife mehr weg.

Ich hatte bis zu dieser Nacht nie das Gefühl, dass ich nichts hätte. Ich fand, ich hätte zu wenig. Aber ich war gesund und trug Luft in meinen Lungen, ich versuchte zu überleben und das schon einige Zeit erfolgreich. Ich hatte also nicht nichts, aber wenig, von allem.

Aber in dieser Nacht, da habe ich erfahren, wie es ist, alles zu haben. Ich habe eine Handtasche gefunden, im Geldbeutel über 200 Euro Bares, sowie Bankkarte, Führerschein, Personalausweis und was die wohl gutbetuchte Dame noch alles in ihrer Tasche mitgeführt hatte, wagte ich kaum zu glauben. Schokolade, Pfefferspray, eine wunderschöne blaue Baumwollweste, einen edlen Schal, einen Regenschirm, allmöglichen Kosmetikkram von Wimperntusche bis Lidschatten, Hustenbonbons und ganz am Ende meiner Durchsuchungsaktion fand ich einen Scheck über 10.000 Euro. Ich malte mir ein völlig neues Leben aus, mein neues Leben, in dem ich reich war und alles hatte, was ich in meinen mutigsten Träumen nicht besaß.

Ich konnte es kaum erwarten, bis die Banken am nächsten Tag öffneten, damit ich das Geld abholen konnte. Ich sah mein neues Leben wie durch einen Trichter, einen Tunnel, ich musste nur einfach schnell an das wunderbare, lichtdurchflutete Ende gelangen, an dem Wohlstand auf mich wartete. Kaum sah ich die Sonne aufgehen, rannte ich los. Bis zur Bank war es ein weiter Weg.

Kurz bevor ich ankam, ich rannte noch immer, konnte ich die goldenen Lettern der großen Stadtbank schon sehen und hatte nur noch ein paar Straßen zu überqueren. Ich hörte die Kirchenglocken läuten, blieb instinktiv stehen und dachte mit einem Lächeln an meine Großmutter. Ich dachte, ja Oma, bald feiere ich wie die Engel.

Kurz bevor ich starb, wurde mir klar, wie wenig „alles“ war. Der Lkw erwischte mich mit voller Kraft, meine Blindheit aus Hoffnung, nun reich zu sein, vermischt mit den Erinnerungen, die die Töne der Kirchenglocken in mir hervorgerufen hatten, hatten mich in der Mitte der Straße zum Stehen gebracht. Ich sah noch die Scheinwerfer aufleuchten, und mir schoss durch den Kopf, wie viel ich von meinem Leben noch gehabt hätte, wäre ich bei meinem Nichts geblieben.

Lena Vilsmeier

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? |Inventarnummer: 16082