Ansichten eines Sonnenschirms

„Kopf hoch, mein Lieber!“

Endlich. Endlich nach dunklen kalten Monaten darf ich wieder raus.

Mir ist gerade schwindelig, sie hat einfach kein Taktgefühl, Frau Kaiserin.

Sie dreht mich in drei Sekunden um und mir wird übel.

Diesmal werde ich im Aufzug transportiert, was ist denn los? Ich erreichte sonst den Strand wie ein Baguette unter dem muskulösen Arm von Frau Kaiserin.

„Ach du meine Güte, der Rücken tut so weh. Ich bin nicht mehr die Jüngste.“

Sie schaut sich im Spiegel des Lifts an, sie ist ganz ernst. Sie zupft an der Haut der Wangen, kämmt die Augenbrauen mit dem Zeigefinger und geht mit der Hand durch ihre Haare. Sie sind ganz wenig und dünn. Sie färbt sie anscheinend nicht mehr, sie ist nun grau meliert.

Was ist denn mit ihr los?

Die Türe öffnet sich, wir sind im Erdgeschoss angekommen. Ich werde auf einen Wagen gestellt und an die Liegen gebunden. Ein Mann kommt und schiebt den Wagen. Für einen Augenblick befürchte ich, nach zehn Jahren Dienst auf den Müllabladeplatz transportiert zu werden, aber Frau Kaiserin ist eine treue Person.

Sie ist zwar hart, aber sehr zuverlässig, und ich sehe noch sehr gut aus.

Die Sonne scheint, aber es weht eine kühle Brise. Der Strand ist sehr still. Ich werde wie ein Baum im Sand gepflanzt, der Schirm wird aufgemacht und der Wind weht durch den blauen Stoff.

Ich fühle mich wie ein Drache, der frei im Himmel fliegt.

„Hallo Schatz, wann kommst du denn?“

Schatz? Frau Kaiserin hat ein Herz? Da bin ich mal sehr gespannt.

„Ich liege schon an der Sonne, ich warte auf dich und dann essen wir zusammen zu Mittag.“

Und dann hängt sie eine schwere Tasche unter meinen Schirm.

Drachengefühl weg!

„Hallo Karen, na gehen wir was essen? Du kannst diese Tasche auf dem Sand unter den Schirm stellen, die ist schon sehr schwer.“

Die Stimme ist sanft, mein Retter scheint Frau Kaiserin elegant im Griff zu haben. Sie widerspricht ihm nicht, küsst ihn und gibt mir mein Drachengefühl zurück.

Ich bin wieder allein, die Täubchen sind essen gegangen.

Eine Möwe gleitet auf meinen Schirm: „Bist du wieder da?“

Ich bleibe einen Moment still, kenne ich sie?

„Ich bin Uwe, weißt du nicht mehr?“

Ach, Uwe die Möwe. Jaja, jetzt weiß ich wieder.

„Wie geht’s denn, Alter? “

„Blendend. Wenn so wenige Menschen unterwegs sind, ist es wunderschön, und ich verbringe gerne Zeit am Strand.“

„Schau, eine Möwe!“

Ach Mensch, Frau Kaiserin ist wirklich ganz weich geworden, jetzt begeistert sie sich sogar für Möwen. Was ist dann mit ihr passiert? Einerseits scheint sie krank zu sein, andererseits ist sie verliebt und lebendig wie noch nie!

Uwe ist weggeflogen, er hält Menschen nicht aus.

Ich spüre die Wärme der Sonne auf meiner Spitze, es ist sehr angenehm. Warum lassen sie mich auch im Winter nicht am Strand? Es ist so schön, draußen zu sein!

Hilfe, ich atme nicht mehr. Was ist los? Eine enge Hülle drückt mich, jemand entführt mich.

Hilfeeeeeeeeee!

„So hältst du länger, mein Lieber, und bist vor der nächtlichen Feuchtigkeit geschützt.“

Ach, die Frau Kaiserin. Was hat sie sich dabei jetzt gedacht? Ich will nicht in dieser Plastikhülle bleiben, Mist!

Der Liebhaber ist anscheinend einverstanden, er hat nix kommentiert. Er schien anders als sie zu sein, aber es gibt einen Grund, wenn sie sich gefunden haben.

Hilfeeee, ich will raus!

„Schau mal was für einen eleganten Anzug du anhast. Hast du heute Abend ein Date?“

Jemand kräht und kichert, das ist Uwe!

NEIN, ich wurde in diese Tüte gezwungen, ich will raus.

„Warte mal, das kriegen wir schon hin.“

Ich spüre eine andere Möwe auf meiner Spitze, sie nimmt die Hülle in den Schnabel und Uwe schiebt sie nach oben von unten.

„Ich bin wieder frei, ihr seid so lieb! “

„Komm, wir gehen weg.“

„Wo denn? Ich bin seit zehn Jahren da, was macht Frau Kaiserin ohne mich? “

„Sie wird einen neuen Sonnenschirm kaufen, was glaubst du? Du bist nicht unersetzbar.“

Uwe kann sehr direkt sein, er hat ein gutes Herz, aber manchmal treffen mich seine Worte wie ein Splitter im Stoff und hinterlassen einen Riss.

Er hat aber Recht.

„Willst du weiter jeden Abend im Sommer mit dem Kondom eingeengt werden und keine Sterne sehen? Es ist deine Wahl, aber schrei bitte nicht um Hilfe das nächste Mal, okay?“

„Tja, Recht hast du, Alter. Ich komme mit, aber ich habe Angst, ich bin nie geflogen.“

„Hab Vertrauen, du lernst es schon.“

Die kühle Brise weht noch, ich werde ganz leicht, drehe mich um mich selbst, der Strand entfernt sich mehr und mehr und die Sterne nähern sich.

Es ist so schön, frei zu sein!

Copyright: Annamaria Bortoletto
Copyright: Annamaria Bortoletto

Annamaria Bortoletto
https://laltraidea.wordpress.com

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 25185