Halleluja

Der Prediger spricht zur Menge in seiner Kirche, die aus einem weißen Zelt besteht: „Ihr alle, keiner ist ausgenommen, habt euch von Gott abgewendet. Glaubt ihr etwa, ihr seid seine Diener bei euren alltäglichen Sünden, großen Sünden, kleinen Sünden? Ihr habt überhaupt keine Chance, nach eurem irdischen Dasein in den Himmel aufzufahren. Der Höllenfürst wird sich um eure Seelen kümmern, und glaubt mir, das wird kein Spaß für euch.“ Er hält das Mikrophon in die Menge. „Halleluja“, erschallt es. „Das gibt mir etwas Zuversicht, meine Anhänger. Wollt ihr euch wieder dem Herrn zuwenden?“ „Jaaa“, ertönt es. „Das gefällt mir schon ganz gut“, sagt der Prediger. „Er hält wieder das Mikrophon in die Menge. „Ich will wieder das Wort mit H hören.“ „Halleluja“, ruft die Menge.

Puh, denkt der Prediger, bei dieser Hitze ist so ein Gottesdienst ganz schön anstrengend. Dann muss er sich aber auch rentieren, sonst kann ich gleich für Lieferando arbeiten. „Und jetzt kommt der Klingelbeutel, Leute!“, ruft er.

Die Geteilte Kirche Sankt Maria zu Gmünd

Die Geteilte Kirche Sankt Maria zu Gmünd

Johannes Tosin
(Text und Foto)

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An die Brandung

Du gischtverhangene Wolke
Du kennest nicht Rilke, noch Nolte
Du wolkenverhangene Gischt
Auch du brauchst der Feder nicht

Ihr hebet von selbst und ihr senkt euch
Wie mach ich’s nur, dass auch ich euch gleich
Dann würd’ es mir wieder lichtel
So bleib ich Verseschmiedwichtel

Ach, hätt’ meine Seel’ endlich Fried!
Nicht den! Der war auch Verseschmied.

Bernd Remsing
http://fm4.orf.at/stories/1704846/

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Vielleicht klingt es wie Thomas Bernhard

Also sagte sie, nachdem sie den Lehrling, der ahnungslos war, nämlich von so einer großen Ahnungslosigkeit, wie sie nur den Lehrlingen eigen sei, und diese Lehrlingsahnungslosigkeit, das sei doch eigentlich das Schlimme, nicht wahr, es gebe nur Weniges, was von ebendieser Ahnungslosigkeit übertroffen werde, dieser Dumpfheit und Gleichgültigkeit. Ebenjener Lehrling, dieser Dümmling, der es doch fertiggebracht habe – und das müsse man sich einmal vorstellen –, ja, das könne man sich eigentlich gar nicht vorstellen, wenn man es recht bedenkt, so wie die meisten Leute es eben bedenken, dieser Lehrling hat es doch fertiggebracht, dass er diesen Waschlappen, diesen Fetzen Stoff von billigster Ausschussqualität, diesen Wegwerflappen –  und es seien dies heutzutage nur noch Wegwerflappen, so wie alles heutzutage nur noch Wegwerfprodukte von billigster Ausschussqualität –, in die Wäscherei bringt und dafür noch eine Rechnung von zwei Euro neunundneunzig bekommt. Diesen Waschlappen, diesen billigen Ausschusstextilwegwerflappen habe sie sich, weil sich die Gelegenheit biete, und diese biete sich ja und umso mehr als studierte Kunsthistorikerin, das solle man sich einmal vorstellen, sie habe, sagte sie mir, sich diesen Wegwerflappen in ihr Büro hängen und rahmen lassen, und der Rahmen, nicht wahr, verändere ja alles und mache diesen Wegwerflappen zu einem Kunstobjekt und – das wäre nicht das  Erstaunliche – jetzt sehe er ja aus wie Kunst und es könnte ja von Joseph Beuys, was ja der ungelernte, der ahnungslose Betrachter nicht wissen könne, und da sei sie jetzt stolz, und nachdem sie das sagte, notierte ich mir diese dümmliche Geschichte, wie beinahe das ganze dümmliche Geschwätz, das sich ja letztlich nur noch um sich selbst im Kreise drehe, um den eigenen Status zu bestätigen, denn den Dümmlichen sei ihr Status gewissermaßen heilig und ebenjene  Person, deren Stolz jene verblödete Geschichte, die sie mir erzählte, und heutzutage häuften sich diese verblödeten  Geschichten ja, ebenjene Person brachte mich auf die Idee, eine Idee, die vielleicht selbst dieser Verblödung nichts entgegenzusetzen hätte, aber immerhin hätte es mich auf die Idee gebracht, diese Geschichte, wie sie sagte, zu erzählen (und durch meine Worte, meine jämmerlichen Worte bewegten doch nichts, eben das sei ja das Tragische) und sich dabei zu denken, dabei sei das Denken in diesem Moment überhaupt nicht förderlich, ja das Denken sollte in solchen Fällen verboten werden: Immerhin klingt es jetzt ein wenig wie Thomas Bernhard.

Michael Bauer

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BTS

„Suga, ich will ein Kind von dir!“, ruft mir eine sehr junge Frau zu. Eine besonders hübsche, wie ich bemerke. „Ein Kind von mir?“, frage ich mich. „Das ist nicht möglich. Ich bin doch ein Loser, ein Niemand, und noch dazu ständig pleite. Außerdem heiße ich anders.“ „Tschuldigung“, ruft mir nun die sehr junge Frau zu. „Ich habe nur geübt, fürs nächste BTS-Konzert, wissen Sie?“

Der rote Frauenmund

Der rote Frauenmund

Johannes Tosin
(Text und Foto)

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Understanding Mölzer. Ein Essay

In den letzten Wochen ist es immer wieder zu Diskussionen über die Äußerungen von Andreas Mölzer gekommen. Wie ist damit umzugehen? Es gibt die eine Fraktion, die zu Recht empört ist und die Äußerungen Mölzers als neuesten verbalen Tiefpunkt in der österreichischen Politik ansieht. Beschweren sich nun Erstere über die unhaltbaren und unerträglichen Sätze, werden diese wiederum als linkslinke Wortverdreher abqualifiziert und Mölzer als deren Opfer stilisiert.

Was können wir als langfristig daraus lernen? Dass wir mit unserer medialen Empörung der FPÖ in die Hände spielen, möglicherweise.

Versuchen wir doch einmal, Mölzer wortwörtlich zu nehmen und uns in seine Gedankenlogik hineinzuversetzen. Als Erstes wäre da der Textausschnitt aus dem SZ-Magazin. Darin behauptet der EU-Abgeordnete:

Es ist eine Frage auch des gestalterischen, des Arbeitsethos, was aus diesem Europa wird:
Entweder sind wir ein Negerkonglomerat, totales Chaos, sage ich jetzt bewusst brutal
politisch nicht korrekt. Wo das Chaos sich vermehrt, wo Massenzuwanderung, wo
institutionelles Chaos, wo wirre Konzerninteressen …(SZ-Magazin)

Was will uns Mölzer also damit sagen? Er entwirft in diesen Sätzen ein Krisenszenario, das er durch seine Wiederwahl ins Europäische Parlament zu verhindern hofft: also ein durch ein wie auch immer beschaffenes Konglomerat ausgelöstes oder kultiviertes Chaos, das Massenzuwanderung und Konzerninteressen nichts entgegenzusetzen habe. Dies sage er „bewusst brutal politisch nicht korrekt“. Andererseits beklagt er sich wieder darüber, dass es „sicher nicht so viele Regeln und Vorschriften, Gebote und Verbote“ in den „düstersten Systemen“ des 20. Jahrhunderts gegeben hätte. Wie passt dies alles zusammen?

„Und allmählich dämmerte es ihm, … dass er von jetzt an, falls es ein Von-jetzt-an für ihn
geben sollte, sein krankhaftes Streben nach Ordnung aufgeben und sich ein wenig Chaos
gönnen musste; denn Ordnung war nachweislich kein Ersatz für Glück …“ (John Le Carré)

Schon ein Blick in den Duden „Abwesenheit, Auflösung aller Ordnung; völliges Durcheinander“ hätte genügen müssen, um zu sehen, dass ein Konglomerat, das totales Chaos in sich birgt, nicht viel mit „Regeln, Ge- und Verboten“ zu tun haben kann. Weitere Quellen oder Beispiele für seinen eigenartigen Vergleich nennt er natürlich keine. Was kann es denn dann sein, das den EU-Abgeordneten Mölzer so sehr an seiner Institution zweifeln lässt? Wozu möchte Mölzer dann in das EU-Parlament gewählt werden? Und wie stellt er sich eigentlich die EU vor, für die er doch kandidieren möchte?

Gehen wir dafür nun einen Schritt weiter mit unserer Analyse und nehmen wir uns die Interpretationsansätze zu Hilfe, die Mölzer selbst nachgeliefert hat. Es könnte ja Mölzer durchaus – und besonders als Österreicher – ein Freudscher Versprecher unterlaufen sein und er sich „zu den Wünschen bekannt“ haben, welche er als seiner „Persönlichkeit nicht gemäß und als peinlich abgewiesen hat“.

Setzt man nun in den oben genannten Text ein – Zitat „nekrophiles Konglomerat“ ein, so könnte auch Mölzer selbst – immerhin mit seinen 61 Jahren auch nicht mehr der Jüngste – und seinem Wunsch nach – ich zitiere: „nicht so viele[n] Regeln und Vorschriften, Gebote[n] und Verbote[n]“ in den düstersten Systemen (Stichwort: Nekrophilie!) vielleicht ja selbst Teil dieses Problems sein, ohne es sich überhaupt bewusst geworden zu sein. Wie heißt es doch im Matthäusevangelium 7, 3 (Jawohl, Abendland in Christenhand!): „Den Splitter im fremden Auge sehen, aber nicht den Balken im eigenen.“

Auch die Phonetik birgt manchmal größere Schwierigkeiten in sich, als sie auf den ersten Blick vermuten lässt: Trotz oberflächlicher Ähnlichkeit kommt das N-Wort von „niger“ (schwarz), „nekrophil“ hingegen von „nekros“ (tot). Und dann wären wir wieder einmal beim Thema Freudscher Versprecher: Vielleicht hat das Ausländerbild der FPÖ schon dazu geführt, beides in eine  besorgniserregende semantische Nähe zu rücken: Omofuma oder die jüngsten Ereignisse im Mittelmeer zeigen es ja.

Es ist darum fast schon schade, dass Mölzer sich nicht so elegant und einfach – dem Vorbild seines Parteivorsitzenden Strache folgend – aus der Sache herausredet, er habe doch nur so ganz spontan während des Interviews etwas Trinkbares bestellen wollen (Drei Bier! – Konglomerat).

Spätestens hier aber rudert Mölzer zurück und entschließt sich für eine andere Argumentationsstrategie: Er geht noch einmal zurück zum N*-Wort und behauptet offensiv:

„Das Wort Neger als solches ist ein normales deutsches Wort, das weder eine Wertung noch sonst etwas beinhaltet. Das kann man verwenden, genauso wie das Wort Zigeuner.“

Was heißt das? Will Mölzer etwa damit sagen, dass nur ein „normales deutsches Wort“  die Weltsicht des „normalen Deutschen (oder Österreichers)“ im FPÖ-Sinn repräsentieren darf? Dann scheint diese Aussicht logisch. Vielleicht ist auch Mölzer jemand, der sich im Gegenzug sehr gerne als Gringo, Gadscho, Langnase, Bleichgesicht bezeichnen lässt, denn wenn schon biologische und rassische Taxonomien, dann bitte richtig!

Warum stand Mölzer dann anfangs nicht zu seinem N*-Wort,wenn es doch so ein „normales deutsches Wort“ ist? War es für sein Über-Ich vielleicht nicht ebenfalls ein genauso „normales deutsches Wort“? Oder war es ebenfalls wieder nur der Freudsche Versprecher, der im Übrigen besonders häufig im Vergessen fremdsprachlicher Worte zu Tage tritt: Natürlich bedeutet die metasprachliche Äußerung „brutal politisch nicht korrekt“ auch dasselbe wie „satirisch-ironisch“. Ist ja eh wurscht, sind ja alles Fremdwörter. Da kann man ruhig auch mal „satirisch-ironisch Tacheles“ reden, wie er auf seiner Webseite schreibt.

Was sollte dann auch der Begriff N* für Mölzer beinhalten? Einen Menschen, möglicherweise? Vielleicht definiert ja der freiheitliche EU-Abgeordnete „normale deutsche Wörter“ einfach so, dass sie „weder Wertungen noch sonst etwas beinhalten“. Damit ist schon einmal ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur De-Chiffrierung Mölzers getan. Sollte es sich am Ende gar noch herausstellen, dass es sich bei ihm um einen Sprachskeptiker Wittgensteinscher Prägung handeln sollt?

Vielleicht hat die sprichwörtliche FPÖ-typische Gedankenfreiheit einfach schlicht Angst vor der bösen EU und der noch viel böseren NSA und dafür eine dem Laien unverständliche Chiffrensprache entwickelt?

Es stimmte übrigens auch: Das N*-Wort ist rückwärts gelesen, ein ganz normales deutsches Wort: Es bedeutet nämlich „Regen“. Diese Lesart (engl.: Backward Messaging) ist natürlich berechtigt – ein jeder Fan von Led Zeppelin, Nirvana und Co. weiß das. Vielleicht sei das N*-Wort ja als dezenter Hinweis darauf gedacht gewesen. In diesem Sinne:

„Tkerrok tchin hcsitilop laturb tssuweb tztej hci egas, soahC selatot, taremolgnokregeN nie riw
dnis redewtne.“ (saerdnA rezlöM)

Quellen:

Geschrieben im Vorfeld der EU-Wahl 2014 anlässlich der Kandidatur Andreas Mölzers

Michael Bauer

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Lesen, ein Fenster in die Welt hinaus

„Die Sprache macht den Menschen – die Herkunft macht es nicht“, meinte im Film „My Fair Lady“ der erfolgreiche Sprachforscher Professor Higgins.

Ja, die Sprache formt den Menschen, und erst mit der Sprache kann er Bildung erwerben. Wobei die Sprache bereits Teil der Bildung ist. Und wie ein Mensch ist, weiß man erst, wenn man mit ihm gesprochen hat. Man wird eingeschätzt, wie man sich neben Erscheinung und Benehmen auch sprachlich gibt. Das Kind lernt von Eltern und Umgebung, sich auszudrücken und zu verstehen, was von ihm erwartet wird. Das genügt vorerst zum täglichen Gebrauch. Später wird verlangt (und auch vom Kind selbst gewollt), mehr von der Welt der Erwachsenen zu verstehen, auch seltener verwendete Wörter richtig zu interpretieren. Dafür sind die Gespräche der Erwachsenen untereinander so wichtig, bei denen die Kinder zuhören und mitlernen („Papa, was ist ein …?“). Hand in Hand geht damit auch das Erlernen und Anwenden des „kleinen Einmal eins“, der Umgang mit kleineren Zahlen fürs tägliche Leben. Spätestens mit der Schulreife wird ja das (eigene Taschen-)Geld sehr wichtig.

Lesen in der Praxis:

Ohne Lesefähigkeit könnte man in unserer westeuropäischen Welt kaum überleben: Nicht nur, dass Lesenkönnen selbstverständliche Voraussetzung für jede Arbeitsstelle ist; man könnte heute nicht einmal mehr den Einkauf für das tägliche Leben bewältigen. Bei Tiefkühlpackungen ist noch abgebildet, was enthalten ist, aber schon bei den vielen Molkerei- und Fertigprodukten weiß man, ohne Lesen zu können, wirklich nicht mehr, was drin ist. Wobei es uns oft – meinen Zyniker – bei den vielen Farb-, Geschmacks- und Haltbarkeitszusätzen aus den chemischen Labors manchmal den Appetit verderben würde, wenn man das alles lesen und verstehen könnte. Und natürlich ist zum Erlernen einer Fremdsprache die Grundvoraussetzung, lesen zu können. So hatte zum Beispiel in Dänemark eine englische Touristin das Pech, immer wieder „sauer gewordene“ Milch zu erwischen, wenn sie ihrem Kind einen Kakao machen wollte. Erst nach späterer Rückfrage bei ihrer Zimmerwirtin klärte sich auf, dass sie die grüne Packung, in der Sauermilch war, für Frischmilch („grün = frisch?“) gehalten hatte.

Einer der Gründe, warum die jungen Menschen von heute ihre Sprache nur mehr rudimentär gebrauchen können (beherrschen wäre hier wohl das falsche Wort) ist der Umstand, dass ihr Sprachschatz eher klein geblieben ist – und damit auch ihr Sprachverständnis und die Orthographiekenntnisse. Warum? Weil sie viel zu wenig gelesen haben. Denn je mehr man liest (gute Literatur natürlich), desto mehr Wörter lernt man kennen – und damit auch deren Schreibweise und Bedeutung. Ganz ohne Schule!!! Hier eignen sich die oft als ebenso unmodern wie unnötig empfundenen „Klassiker“ wie Schiller, Goethe, Lessing und die deutschen „Romantiker“ sehr gut als Meister einer flüssigen, einprägsamen und eleganten Sprache. Und erst die Märchenbücher! Schon in der Volksschule sollte man hier ansetzen und auch der Lyrik ihren Platz einräumen – schließlich gehen Gedicht und Phantasie Hand in Hand.

Lyrik merkt man sich nämlich sehr gut, Übung macht auch hier den Meister – es muss ja nicht gerade Schillers „Glocke“ sein, die man früher so manchem unwilligen Schüler als Strafarbeit zum Auswendiglernen zugemutet hatte. Und wer in der Schule die bei uns ehedem üblichen Lieder (zum Beispiel: „Wenn alle Brünnlein fließen“, „In die Berg bin i gern“, „Das Wandern ist des Müllers Lust“ usw.) gelernt und gesungen hat, wird diese Texte (und deren Aussagen und Stimmungen) bis ins hohe Alter behalten.

Lese-Erfahrungen des Autors

Meine Mutter hat mich, seit ich laufen konnte, immer zum Einkaufen auf den Hannover-Markt in Wien-Brigittenau mitgenommen. Ich bin gerne dabei gewesen, weil es dort so viel zu sehen und zu riechen gab. Da waren das Fischgeschäft, der Kaffeeröster und der Sauerkräutler, und die vielen Obst- und Gemüsestandeln, wo es je nach Jahreszeit nach Erdbeeren, Pfirsichen, Äpfeln, Kohl oder Zwiebeln und Sellerie geduftet hat. Und natürlich auch nach Wurst, Selchfleisch und warmem Leberkäse beim Fleischhauer.

Aber eines hat mir immer gefehlt: Auf den Firmenschildern oben an den Kiosken waren Schriften in verschiedener Art und Farbe angebracht, die mich interessierten, welche ich aber nicht lesen/verstehen konnte. Oft und oft habe ich meine Mutter gefragt, welche Bedeutung denn diese Schilder hätten, aber sie hat mich immer auf die demnächst zu besuchende Schule vertröstet, und dass da nur der Name und Beruf der Geschäftsleute stünden. Nach zwei Klassen Volksschule stand endlich auch mir die Welt der (Druck-)Schrift offen – und einige der damaligen Kioskschilder sind mir ob der altmodischen Bezeichnungen bis heute in Erinnerung, wie zum Beispiel „Agrumen, Kolonialwaren, Grünwaren, Südfrüchte, Landesprodukte“ etc. Und etliche Namen der Händler spiegelten damals noch die Länder der K.- u.-k.-Monarchie wider.

Ich habe in meiner Nachkriegskindheit und -jugend, wo es die elektronische „Zerstreuung und passive Unterhaltung“, also den „Konsum“ geistloser Spiele, Shows und Werbung nicht gegeben hat, immer gerne und viel gelesen. Während meines „Seniorenstudiums“ habe ich besonders gerne halbe Tage in der National- und der Universitätsbibliothek verbracht. Einen Tisch, eine Leselampe und die ganze Welt der Bücher für sich zu haben, das hat schon was. Und rund um einen nur Ruhe und Menschen mit gutem Benehmen, welche diese geistvolle Umgebung ebenfalls schätzen. Man konnte förmlich hineinfallen in die Welt der Bücher. Ein angenehmer Nebeneffekt war auch, dass die Lesesäle der Nationalbibliothek und die der katholischen Fakultät unterirdisch angelegt, also in den heißen Sommern wohltuend kühl temperiert waren.

Warum Lesen?

Lesen ist nicht nur wichtig: Lesen ist schön, herrlich, interessant, phantastisch, ein Quell der Freude, ein angenehmer Zeitvertreib, ein gutes Werkzeug, ein Schlüssel zu vielen Türen, ein Fenster in fremde Welten, eine angenehme Art der Bildung, ein Zeichen von Würde und Menschlichkeit, ein Weg zum guten Leben und eine persönliche Stütze, wenn’s nicht so gut läuft. Oh ja, es gibt Bücher, die froh machen, Bücher, die Trost spenden, Bücher, die das Wissen erweitern und anregen u. v. m. Natürlich nur dann, wenn man sie auch liest! Und wenn sie „nur“ die trübsinnige Langeweile vertreiben, ist auch schon etwas gewonnen.

Wie schön, entspannend und gleichzeitig aufregend ist es doch, sich in einem schönen Wohnzimmer oder einer gut ausgestatteten Bibliothek mit einem dicken Buch in den Ohrenfauteuil zu setzen und beim Lesen die Zeit zu vergessen. Sich in die Geschichte hineinzuleben, die Gegend und Orte, die Personen der Handlung in der Phantasie auszumalen, ja zu erträumen, sich in die Gefühle und Denkmuster der Personen hineinzuversetzen, so quasi: „Was würde ich an deren Stelle tun“ oder so. Ein ganzer Nachmittag mit so einem Lese-Erlebnis ist ein Geschenk, ein die Phantasie bereicherndes und das Gefühl der Zufriedenheit hinterlassendes Abenteuer. Und ein erholsames Nervenbad obendrein. Der Autor hat einmal drei Wochen Spitalsaufenthalt mit Hilfe vieler schöner, interessanter Bücher sorglos und entspannt genossen. Endlich Zeit zum Lesen!

Sprachgefühl:

Wer viel (und sprachlich Gutes) liest, hat einen bedeutend größeren Wortschatz, kann sich „diplomatischer“ an verschiedene Gegebenheiten und Gesprächspartner anpassen und seine Ansichten und Wünsche besser, das heißt wirkungsvoller, präsentieren. Oder seine Verteidigung ohne Beleidigungen aufbauen, dem/den Anderen mit wirkungsvollen Argumenten und Einsichten eine bessere oder neue Sicht der Dinge ermöglichen. Und vor allem eine Prise Humor ins Gespräch einbauen, als immer willkommene Auflockerung im Dialog.

Gute Sprache ist auch ein Gleitmittel für ruppige Abläufe, ein Schlupfloch-Bohrer für ausweglose Situationen, ein Verbindungsseil zwischen auseinanderstrebenden Standpunkten, ein großer Pluspunkt bei Diskussionen und ein dicker Stein im Brett beim Kennenlernen/“Geneigt-machen“ des anderen Geschlechts, ein Türöffner und „Sympathisch-Macher“ beim noch unbekannten „Vis-à-vis“ u. v. a. An der Sprache seines Gegenübers erkennt/erfährt ein erfahrener, gebildeter Mensch auch viel über seinen Gesprächspartner, kann ihn besser einschätzen und mit ihm umgehen.

Was geschieht beim Lesen?

Ganz schön viel, und das nebeneinander, gleichzeitig, nacheinander und oft noch, nachdem man aufgehört hat zu lesen! So wie der Musiker beim Notenlesen den „chiffrierten“ Klang hört, sich im dafür vorgesehenen Teil des Gehirns die soeben „gelesenen“ Töne bilden, so wird das aus Buchstaben gebildete Wort, der ganze Satz, die Aussage im Gehirn als Bildfolge plastisch und färbig wahrgenommen – „Kino im Kopf“ nennt man es recht zutreffend. Lesen weckt – bei interessiertem Tun – sogar Gefühle im Menschen, er träumt, bekommt Sehnsucht, empfindet Hunger, Angst, Hass, liebevolle Gefühle, Wehmut, Einsamkeit, Hoffnung – die ganze Skala ist möglich. Konzentriertes Lesen kann blind und taub für die Umwelt machen, man hört nicht mehr, was im Raum los ist, was gesprochen wird, empfindet weder Hunger noch Müdigkeit, man ist gespannt, was weiter passiert, und nimmt intensiv Anteil daran, bis man „aufwacht“ wie aus einem Traum. Hoffentlich aus einem schönen.

Aber es ist auch „gedankenloses“ Lesen möglich und gebräuchlich; man sucht oft etwas Bestimmtes und überfliegt dann mehrere Seiten, ohne den Inhalt richtig wahrzunehmen, weil man auf eine ganz besondere „Botschaft“ programmiert ist. So zum Beispiel ein Jurist, der einen ganz bestimmten Paragraphen, ein uraltes oberstgerichtliches Urteil sucht o.Ä. Auch jagen besonders jüngere Leser in einem Buch nur der Handlung nach, ohne die Persönlichkeiten der Figuren, deren Umgebung und Ursachen für deren Handeln mitzunehmen. Ein älterer Leser nimmt auch die Zeit und Umgebung der Geschichte wahr, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, wirtschaftliche Zusammenhänge und vieles andere.

Was auch bedacht werden sollte: Die „Rechtschreibung“, das rechte Schreiben also, lernt man ohne Mühe und wie von selbst durch das fleißige Lesen. Denn wenn man ein Wort zweihundertmal gelesen hat, dann weiß man ohne Regeln, wie das Wort zu schreiben ist. Auch das Gefühl für Satzzeichen entsteht beim Lesen (ein bibliophiler Freund von mir meint, überall dort, wo man beim Vorlesen Luft holt, gehört eines hin).

Wichtig und schön: Vorlesen

Bei Lesungen prominenter Autoren muss man sich schon rechtzeitig anmelden und Eintritt bezahlen, um den großen Schriftsteller original zu hören. Als Günter Grass aus seiner kompletten „Blechtrommel“ las, war das Theater tagelang ausverkauft.

Nicht nur Kinder lieben es, vorgelesen zu bekommen. Es war immer ein Festtag für Volksschulkinder und Lehrer/-innen, wenn vor den Ferien der Lesepate aus seinem großen Buch mit den schönen Bildern von der Mäusefamilie im Brombeerhag vorgelesen hat.

Vorlesen für Katzen:

Wissenschaftler in den USA fanden heraus, dass es Kindern mit Vorleseängsten und ähnlichen Problemen enorm helfen kann, wenn sie Katzen vorlesen. Dabei verspüren sie keinerlei Druck, und das macht das Lesen einfach und entspannt. Auch den Katzen bringt die Anwesenheit von Kindern im Tierheim viel. Dadurch, dass sie regelmäßig die menschliche Stimme in einem ruhigen, wohlwollenden Ton hören, lernen sie, dass von Menschen nicht zwangsläufig Gefahr ausgehen muss. Natürlich kommt auch das Kuscheln beim Lesen nicht zu kurz. Es gibt mittlerweile schon einige Tierheime, wo Volksschulkinder den dortigen Katzen vorlesen können.

Robert Müller

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 21123

 

 




Nachrufe

Anlässlich des Todes des / der Schriftstellers / Schriftstellerin x.

Textbaustein eins: Er / sie war ein / eine unermüdlicher / unermüdliche Mahner / Mahnerin gegen die autokratische Abnutzung der Gesellschaft.

Textbaustein zwei: Er / sie scheute sich niemals, seine / ihre Meinung kundzutun, obgleich er / sie damit ständig wirtschaftliche Nachteile in Kauf nahm.

Textbaustein drei: Bereits sein / ihr Frühwerk war durch eine hymnische Struktur gekennzeichnet. Er / sie war wahrhaft ein / eine Meister / Meisterin seines / ihres Fachs.

Textbaustein vier: „Sehenden Auges steige ich in den Abgrund“, schrieb er / sie einmal. „Und steige ich ihn wieder hinaus, schütte ich in zu.“ Mutige Worte eines / einer Staatsbürgers / Staatsbürgerin! Was ist dem anzufügen?

Textbaustein fünf: Wahrscheinlich dies, dass er / sie viel zu früh gestorben ist.

abschreiben

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Johannes Tosin
(Text und Foto)

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 21082

 




Alphabet

Unterschreiben ging immer. Ging noch. Mit einem Schreibgerät auf Papier. Kein Problem. Aber das war nur eine schwungvolle Kritzelei, angedeutete Buchstaben, man konnte aus ihnen den Namen nicht erkennen: Heinrich Mirnig. Wenn Heinrich versuchte, aus den passenden Buchstaben seinen Namen zusammenzufügen, es funktionierte nicht. Gleich ob Schreibschrift, Druckschrift, Blockschrift, unmöglich. Ein aussichtsloses Unterfangen. Auch am Computer, wo er jetzt saß, im Büro, keine Chance. Buchstaben, Wörter, Sätze waren ihm fremd geworden, als ob er sie nie gelernt hätte. Auch Lesen klappte nicht mehr. Er starrte auf den Bildschirm und hatte keine Ahnung, was da stand.
Er musste krank sein. Ein übersehener Schlaganfall? Sind bestimmte Gehirnregionen verletzt, wusste Heinrich, kann man nicht mehr lesen. Nur schreiben kann man dann doch. War er etwa psychotisch? Er fühlte sich nicht anders als sonst.

Nein, er war normal. War er etwa Analphabet, hatte sich eine übliche Schullaufbahn bloß eingebildet? Auch das kam nicht infrage, welche Firma würde einen Lese- und Schreibunkundigen als Einkäufer für Lebensmittel beschäftigen? Das war der Punkt, kein derartiges Unternehmen würde ihn auf der Gehaltsliste führen. Er musste aktiv werden. Sein Unwissen durfte nicht bekannt werden, sonst würde die Firma ihm kündigen. Er betrat das Büro seines Chefs: „Herr Gollinger, ich fühle mich entsetzlich.“ Noch einige Sätze, wie leid es ihm täte, er würde sich augenblicklich in ärztliche Behandlung begeben, mit doppeltem Elan alles nach überstandener Krankheit aufarbeiten.
Er ging nach Hause, wartete, sah in der Zeitung das Fernsehprogramm an, verstand nicht, nahm Schlaftabletten, mehr Tod als Schlaf, stand am nächsten Morgen auf, holte die Zeitung, rätselte über ihren Inhalt. Es war unverändert. Lesen und Schreiben waren für Heinrich Vergangenheit.

Mit der Zeit fiel es auf. Bald war es nicht mehr zu übersehen. In den Lokalen las kaum jemand mehr eine Zeitung, dafür stapelten sich alte Ausgaben in den Läden, weil ganz selten jemand eine neue kaufte, auf Handys wurde fast nicht mehr getippt, sondern sie wurden so gut wie ausschließlich zum Telefonieren genutzt. Eine Seuche beginnt mit einigen wenigen Krankheitsfällen, Epidemie, Pandemie, sie kann jeden Einzelnen betreffen, gleich einem breiten Strom, der als Gebirgsbach beginnt. Bisher hatte es nur körperliche Seuchen gegeben. Das hier war die erste geistige. Die einem das Lese- und Schreibverständnis nimmt, die Fähigkeit, eine Schrift zu erkennen. Am Schluss hatte sie niemand mehr. Zumindest war keiner bekannt.

Es nutzte auch nicht, dass Alphabetisierungskurse mittels vorproduzierter Lehrvideos abgehalten wurden, die sehr gut besucht waren. Die Buchstaben fanden keinen Platz mehr in den Köpfen der Menschen. Die Schrift war Vergangenheit. Es machte auch keinen Unterschied, in welcher Sprache etwas geschrieben war. Es war überall unlesbar und unschreibbar. Es war ein weltweites Phänomen.

Die Auswirkungen waren gravierend. Es war eine totale Umwälzung der Wirtschaft. Nicht nur, dass die Zeitungen und die Verlagshäuser pleitegingen, es gab keinen Schriftverkehr mehr, niemand konnte somit noch eine Steuererklärung erstellen, Handel wurde mündlich betrieben, wodurch er auf dringend benötigte Produkte beschränkt wurde.

Aber es hatte auch etwas Gutes. Um Nachrichten zu übermitteln, wurde, sieht man vom Fernsehen ab, gesprochen. Es wurde darum viel mehr miteinander geredet. Auch wenn es nur aus Notwendigkeit war, die persönlichen Kontakte nahmen stark zu. Bei einer Frage gab keine Suchmaschine die Antwort, sondern ein Mensch. Es entstand ein lebendiger Austausch an Informationen, an Befindlichkeiten. Die Menschen machten sich ihre Angelegenheiten wieder persönlich aus. Eigentlich war das positiv.

Dann geschah Folgendes: zwei Frauen beim Kochen. „Hertha, gibst du mir bitte ein Stückchen Butter?“ „-.“ Hertha verstand nicht.

Das war das erste Anzeichen der neuen Seuche, Epidemie, Pandemie. Die Krankheit der Sprachlosigkeit.

Drehen & Verstehen – Buchstaben – 5 – 6 JAHRE

Drehen & Verstehen – Buchstaben – 5 – 6 JAHRE

Johannes Tosin
(Text und Foto)

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Der Forstweg

Ich bin im Wald. Der Forstweg wird immer schmäler. Ist das noch ein Forstweg?

Forstweg Fragezeichen

Forstweg Fragezeichen

 Nein, das ist kein Forstweg mehr!

Johannes Tosin
(Text und Foto)

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Der Eierschlauch auf der Autobahn

Es begab sich auf der Heimfahrt von einer einwöchigen Sommerfrische, die zu diesem Zeitpunkt bereits, anstatt der vom Navigationsgerät veranschlagten vier, sechseinhalb Stunden gedauert hatte. Dieser Zeitverlust hatte sich ergeben durch kurze Rauch- und WC-Pausen, einige Baustellen und nicht zuletzt einen fast zweistündigen Stau.
„In einer Stunde sind wir zu Hause“,  konnte ich den Kindern endlich freudig verkünden und brauste auf der leeren dreispurigen Autobahn ganz rechts dahin, den Tempomat wie immer knapp unter der Toleranzgrenze der Radarfallen eingestellt, bis ich auf einen fetten weißen Mercedes mit deutschem Kennzeichen traf, der gemächlich auf der mittleren Spur dahinzuckelte.
Vorschriftsmäßig wechselte ich auf die linke Spur, überholte den Deutschen und setzte mich ob des etwas dichter gewordenen Verkehres vor ihn.

Es war wohl eine zu große Schmach, als stolzer Deutscher im Mercedes von einem Ösi im Peugeot überholt zu werden, jedenfalls gab er sofort Gas, um wieder den Platz vor mir einzunehmen und anschließend das Tempo zu reduzieren, sodass ich abbremsen musste.
Verärgert wechselte ich erneut die Spur, um wieder nach vorne zu kommen. Auf solche Autobahn-Spielchen hatte ich überhaupt keine Lust. Diesmal gab er Gas, während ich überholte, sodass ich die Toleranzgrenze der Radarfallen empfindlich überschreiten musste, um vor ihn zu kommen.
Kaum war das Manöver geschafft und ich wieder in Führung, setzte er sich mit Vollgas vor mich,  drosselte erneut das Tempo und ich musste aufs Neue hinter dem Piefke nachschleichen.

Die ganze Fahrt über war ich gut gelaunt gewesen und erst der lange Stau hatte mein Urlaubslächeln etwas kleiner werden lassen. Doch nun platzte es aus mir heraus: „Schau dir das an: zuerst überholen, dann bremsen. So ein deppertes Oarschloch!“
Die Reaktion der Kinder folgte prompt.
„Haha!“, krähte es von der Rückbank.
„Die Mama hat Arschloch gesagt!“
Die gesamte Autofahrt hatte ich bis dahin mit Bravour gemeistert und es sogar inmitten des langen Staus geschafft, die Kinder so zu beschäftigen, dass sie friedlich geblieben waren, indem ich, nachdem der letzte Vorrat an Süßigkeiten verfüttert und weder Rätsel- noch Malbücher den Nachwuchs mehr bei Laune halten konnten, ein neues Stau-Spiel erfunden hatte, bei dem der Fahrer ein Buch vorliest. Sobald sich die Kolonne bewegt, brüllen die Kinder laut „FAHREN!“, woraufhin die geschätzten drei Meter bis zum Vordermann aufgeschlossen werden.

Ich war so gut gewesen.
Und jetzt passierte mir dieser pädagogische Super-GAU.
„Nein, ich habe nicht ‚Arschloch‘ gesagt“, ruderte ich deshalb schnell zurück. „Das hast du falsch verstanden.“
„Was hast du denn gesagt, Mama?“
Während die Kinder die Ohren spitzten, überlegte ich angestrengt, was ich denn gesagt haben könnte. Armleuchter? Nein, das glaubten sie mir nie. Vielleicht etwas mit „Loch“? Gab es denn anständige Worte, die mit „Loch“ endeten? Loch … Schloch … Schlauch?
„Ich habe gesagt, so ein Schlauch.“
„Was für ein Schlauch?“
„Na ein, äh … Schlauch halt.“
„Also ein Eierschlauch.“
„Genau, mein Kind“, lächelte ich und setzte ein letztes Mal zum Überholen an.
Während ich an dem Mercedes vorbeifuhr, bedachte ich den Fahrer, einen Mann unbestimmten Alters mit Brille und Glatze, mit einem wütenden Blick, den dieser schuldbewusst erwiderte. Es war also sogar eine dreifache Schande für ihn gewesen, als männlicher deutscher Mercedesfahrer von einem weiblichen österreichischen Peugeotfahrer geschnupft zu werden. Wahrscheinlich hätte ich ihn ebensogut mit einem Messer entmannen können.

Nachdem ich zur Sicherheit gleich noch ein paar Autos überholt hatte, begann ich über den eben mit den Kindern geführten Dialog zu philosophieren.
Bei näherer umgangssprachlicher Betrachtung war es nämlich ganz logisch: Eier (Oar) + Schlauch (Schloch) = Eierschlauch (Oarschloch).
Der Mercedes hatte mich übrigens nicht mehr einholen können.

Lydia Kellner

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 20106