Jedes Jahr gibt es im April einen bestimmten Tag, an dem mir feierlich zumute ist und dem ich aus diesem Grund kulinarisch besonders huldige – mit Eiernockerln und grünem Salat.
So war es auch heuer wieder.
Ich besorgte beste Zutaten: Eier von den Hühnern meiner lieben Nachbarin, Mehl und Milch aus dem Bioladen und Butter von der Käserei meines Vertrauens. Ich scheute keine Kosten.
Dann machte ich mich an die mühevolle Zubereitung des Teiges. Zwar gilt das Erschaffen eines Teiges nicht unbedingt als die Königsdisziplin der kulinarischen Betätigung, doch für mich ist sie zumindest nahe dran.
Dennoch hat das Kneten des Teiges eine kontemplative Seite, für mich wenigstens.
Als ich das glatte Mehl Typ 480 in die Schüssel leerte und aufmerksam beobachtete, wie die digitale Anzeige der Küchenwaage unfehlbar immer mehr Gewicht angab, dachte ich an den Mann, zu dessen Ehren ich an diesem Tag kochte, und schon ersparte ich mir ein Gramm Salz. Er war ein Held gewesen, der unbeirrbar seinen Weg gegangen ist, bis zum bitteren Ende und ohne Rücksicht auf Verluste.
Ich wischte die Tränen weg, denn ich wollte die Speise nicht versalzen, und zwang mich, an etwas anderes zu denken.
Das gelang mir, als ich die Eier in die Schüssel schlug.
Als die Eiklar und die Dotter sich langsam mit dem Mehl vermischten, kam mir der Staat in den Sinn.
Das Mehl hatte für mich etwas Standhaftes, wahrscheinlich weil ich es vor den Eiern in die Schüssel gegeben hatte. Es war der von der hohen Schüsselwand beschützte Berg, der kräftigen Winden standhalten konnte, ohne Schaden zu nehmen. Die Dotter und Eiklar jedoch, die ihn langsam, zähflüssig und unerbittlich einkreisten, seinem Fundament die Luft nahmen, erinnerten mich an die Bedrohung, welcher der Berg ausgesetzt war. Die Eiklar zerrannen zu einer schleimigen Masse, die allerdings nicht für sich selbst stehen respektive rinnen konnte, denn da gab es noch die Dotter. Diese waren heil geblieben und thronten gleichsam auf den Eiklar, wie der Turm eines Unterseebootes.
Erst als ich die Dotter anstach und sie zerflossen, vereinten sie sich mit den Klar zu einer Einheit. Das erinnerte mich an die vielen kleinen und großen Skandale und Verbrechen, welche die Menschen oben mit jenen unten wieder gleich machten, denn plötzlich waren aus Lichtgestalten und Helden Schattenwesen und Gauner geworden.
Ich gab eine Prise Salz hinzu und würzte mit Muskatnuss. Ich hatte ein großes Päckchen Muskatnüsse in einem indischen Supermarkt gekauft. Ich kaufe dieses Würzmittel immer dort ein, denn so kann ich mir einbilden, einen kleinen Beitrag zur Wiedergutmachung zu leisten für die Verbrechen, die Europäer in den Anbaugebieten des Muskatnussbaumes verübt haben.
Ein verstorbener Spitzenkoch, mit welchem ich mich einige Male unterhalten durfte, hatte mich eines bierseligen Abends mit der Begeisterung für das Würzen mit Muskatnuss angesteckt, und seitdem setze ich sie gerne ein. Dieser Mann war es auch, der mir bei einem zufälligen Treffen auf einem bekannten Markt das Rezept für eine herrliche Cranberry-Orangen-Sauce verriet. Danke, Reinhard.
Ich salzte und begann den Teig zu kneten.
Wieder dachte ich an den Mann, zu dessen Gedenken ich die Eiernockerln zubereitete, und wieder stiegen mir Tränen in die Augen. Wie weit hätte er es bringen können? Wie viel Gutes hätte er noch bewirken können? Ich hatte ihn nie persönlich kennenlernen dürfen, er war lange vor meiner Zeit gestorben. Dennoch sah ich ihn vor mir, wie er das Land, das ihm bis in alle Ewigkeit zu gehören schien, formte, oft auch mit Druck, so wie ich meinen Teig.
Ich brachte Salzwasser zum Kochen und kochte darin den Teig mithilfe eines Nockerlsiebes und einer Teigkarte ein. Mit einem Kochlöffel rührte ich im Topf, um Klumpenbildung zu verhindern, und schon waren die Nockerln fertig.
In einer Pfanne schmolz ich Butter, schwenkte darin die Nockerln, salzte sie und schlug drei Eier hinein. Schon war das Mahl gerichtet.
Ich bereitete noch einen grünen Salat zu, mit bestem Kürbiskernöl, und war stolz auf meine kulinarische Leistung.
Eiernockerln mit grünem Salat war nämlich die Lieblingsspeise des Mannes, dessen Andenken ich an diesem Tag im April hochhalten wollte.
Ich wollte mich an den Tisch setzen und mit dem Verzehr der Köstlichkeit beginnen, als mein Telefon läutete. Nachdem das Gespräch geendet hatte, warf ich zufällig einen Blick auf das Display meines Mobiltelefons und erschrak.
Ich begann zu weinen und konnte das Gericht nicht anrühren. Ich nahm den Teller, lief nach draußen zum Zaun der Nachbarin und leerte die Nockerln in den für diese Zwecke bestimmten Teil des Hühnerauslaufes. Den Salat leerte ich auf unseren Komposthaufen.
Dann setzte ich mich wieder an den Tisch, aß ein Stück Brot und weinte abermals.
Ich hatte die Eiernockerln mit grünem Salat am zwanzigsten April zubereitet. Doch mein lieber Erbonkel Anselm, auf dessen Bauernhof ich heute lebe und dessen Leibspeise eben diese Nockerln waren, hat erst am einundzwanzigsten April Namenstag.
Michael Timoschek
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