Die Zeit vor der Zeit

Ich gestehe: In der Welt bin ich früher nicht sehr herumgekommen. Nicht nur, dass ich keine Möglichkeit dazu hatte, sondern auch, dass mich Reisen im Kopf mehr befriedigten.
Dazu bedurfte es nicht einmal eines Weltatlas.

In Berichten im Fernsehen, in Filmausschnitten, in Blogs erkannte ich das Lebensgefühl der Hippie-Generation: Frei sein, high sein, überall dabeisein. Was aber leider schon Vergangenheitsform für mich hatte.

Damals wollten alle nach Indien. Und wenn nicht dorthin, so doch wenigstens nach Istanbul oder nach Portugal. Es bedurfte nicht immer eines eigenen Fahrzeugs, manchmal reichte auch das Interrailticket oder der Autostopp. Wonach strebten sie damals? Nach Exotik? Nach Begegnungen? Nach Der-Weg-ist-das-Ziel-Erfahrungen?

Die Welt hat sich gedreht. Aber wäre es möglich, dies zu wiederholen?

Reisen ist zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Wir reisen immer weiter, immer öfter. Und welchen Sinn hat das dann noch, wenn wir das Reisen in unsere Innenwelt verlernen?

In meinem Kopf ging ich den alten Reiseberichten noch einmal nach. Und mein Plan war drauf und dran zu gelingen: Ich recherchierte Reisewege und informierte mich über verschiedene Länder. Und ich bekam eine Vorstellung von den Eindrücken, von den Worten, die auf diesen Reisen gewechselt wurden.

Bruchstückhaft holte ich diese Erfahrung später mit eigenen Reisen an die damaligen Orte, nun aber in der Jetztzeit, nach.

Ich bestaunte den Torre de Belém. Und den Weißen Turm. Ich badete im Atlantik und überquerte den Bosporus.

Michael Bauer

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Vergangene Nacht

Die unruhige Nacht war es.
Die Nacht fast ohne Schlaf.
Die Nacht, die man vergisst,
sobald sie vorüber ist.

Der Lendkanal Richtung Osten in der Nacht des 16. Dezember 2021

Der Lendkanal Richtung Osten in der Nacht des 16. Dezember 2021

Johannes Tosin
(Text und Foto)

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Die Seele des Reisens

ist eine tiefe
unergründliche Sehnsucht
einschließlich des nie
endenden Verlangens
das Bild einzufrieren
an dem du vorübergehst

Frank Joussen

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Das Meer

Wer von uns kann schon ermessen,
wie es vorher ist gewesen?
Wie hat alles bloß begonnen,
bevor die Wasser sind geronnen?

Glühendheißes Magma war
vor dem großen Regen gar.
Dann regnete es, viele Jahre,
und das Meer war da, das klare.

Gott Taʼaroa ganz in Trauer,
Tränen flossen lang auf Dauer,
die die Ozeane füllten,
und die Erd’ damit umhüllten.
Salzig sind nun mal die Tränen.
Kein Meerwasser zum Trinken nehmen!

Das Meeresufer scheint semantisch
für mich allein schon hochromantisch.
Immer noch lauf ich zum Strand
und liege faul im weichen Sand.

Wenn eine leichte Brise weht
und mir die Zeit zu schnell vergeht,
im Sonnenschein bleib am Gestade
ich, bis dass die Sonne sinkt, wie schade!

In eine and’re Zeit versetzt,
indes zu Land die Zeit langhetzt,
so zwischen Flut und zwischen Ebbe
im Sand ich den Entspannten gebe.

Aber langsam wird mir klar,
das Meer ist, wo es immer war.
Ringsherum verändert sich,
beinah alles, so auch ich.
Das Meer, ein Ort der Ewigkeit,
bereitet mir Glückseligkeit.

Der Wind am Watt weht aus dem Westen.
Bei Nebel ist es echt am besten,
wenn man eine Jacke nimmt,
weil dann der Wind von Norden kimmt.

Dann tu ich auf die Wellen hören,
und auf Laute, die mich stören.
Man muss auch auf die Ströme achten,
und auf die Möwen, wenn sie lachten.

Am Meer droh’n Unheil und Gefahren,
das kann man sich ganz leicht ersparen,
wenn man es von Grund auf meidet,
und sich nur fürs Land entscheidet.

Seine Kraft und seine Weite
merkt man erst auf hoher See.
Ist man ihm erst ausgeliefert,
ist verloren man, oje!

Des Meeres Schönheit eingefangen,
vom sich’ren Strand aus rumgehangen.
Meine Angst schien überwunden,
doch jetzt hat sie zurückgefunden.

Es steigt der Spiegel rasch des Meeres,
dort steht ein Inseldorf, ein leeres.
Und unter Palmen, ganz geduckt,
ganz viele, bald vom Meer verschluckt.

Copyright: Norbert Johannes Prenner
Copyright: Norbert Johannes Prenner

Norbert Johannes Prenner (Text und Grafik)

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Ansichten eines Sonnenschirms

„Kopf hoch, mein Lieber!“

Endlich. Endlich nach dunklen kalten Monaten darf ich wieder raus.

Mir ist gerade schwindelig, sie hat einfach kein Taktgefühl, Frau Kaiserin.

Sie dreht mich in drei Sekunden um und mir wird übel.

Diesmal werde ich im Aufzug transportiert, was ist denn los? Ich erreichte sonst den Strand wie ein Baguette unter dem muskulösen Arm von Frau Kaiserin.

„Ach du meine Güte, der Rücken tut so weh. Ich bin nicht mehr die Jüngste.“

Sie schaut sich im Spiegel des Lifts an, sie ist ganz ernst. Sie zupft an der Haut der Wangen, kämmt die Augenbrauen mit dem Zeigefinger und geht mit der Hand durch ihre Haare. Sie sind ganz wenig und dünn. Sie färbt sie anscheinend nicht mehr, sie ist nun grau meliert.

Was ist denn mit ihr los?

Die Türe öffnet sich, wir sind im Erdgeschoss angekommen. Ich werde auf einen Wagen gestellt und an die Liegen gebunden. Ein Mann kommt und schiebt den Wagen. Für einen Augenblick befürchte ich, nach zehn Jahren Dienst auf den Müllabladeplatz transportiert zu werden, aber Frau Kaiserin ist eine treue Person.

Sie ist zwar hart, aber sehr zuverlässig, und ich sehe noch sehr gut aus.

Die Sonne scheint, aber es weht eine kühle Brise. Der Strand ist sehr still. Ich werde wie ein Baum im Sand gepflanzt, der Schirm wird aufgemacht und der Wind weht durch den blauen Stoff.

Ich fühle mich wie ein Drache, der frei im Himmel fliegt.

„Hallo Schatz, wann kommst du denn?“

Schatz? Frau Kaiserin hat ein Herz? Da bin ich mal sehr gespannt.

„Ich liege schon an der Sonne, ich warte auf dich und dann essen wir zusammen zu Mittag.“

Und dann hängt sie eine schwere Tasche unter meinen Schirm.

Drachengefühl weg!

„Hallo Karen, na gehen wir was essen? Du kannst diese Tasche auf dem Sand unter den Schirm stellen, die ist schon sehr schwer.“

Die Stimme ist sanft, mein Retter scheint Frau Kaiserin elegant im Griff zu haben. Sie widerspricht ihm nicht, küsst ihn und gibt mir mein Drachengefühl zurück.

Ich bin wieder allein, die Täubchen sind essen gegangen.

Eine Möwe gleitet auf meinen Schirm: „Bist du wieder da?“

Ich bleibe einen Moment still, kenne ich sie?

„Ich bin Uwe, weißt du nicht mehr?“

Ach, Uwe die Möwe. Jaja, jetzt weiß ich wieder.

„Wie geht’s denn, Alter? “

„Blendend. Wenn so wenige Menschen unterwegs sind, ist es wunderschön, und ich verbringe gerne Zeit am Strand.“

„Schau, eine Möwe!“

Ach Mensch, Frau Kaiserin ist wirklich ganz weich geworden, jetzt begeistert sie sich sogar für Möwen. Was ist dann mit ihr passiert? Einerseits scheint sie krank zu sein, andererseits ist sie verliebt und lebendig wie noch nie!

Uwe ist weggeflogen, er hält Menschen nicht aus.

Ich spüre die Wärme der Sonne auf meiner Spitze, es ist sehr angenehm. Warum lassen sie mich auch im Winter nicht am Strand? Es ist so schön, draußen zu sein!

Hilfe, ich atme nicht mehr. Was ist los? Eine enge Hülle drückt mich, jemand entführt mich.

Hilfeeeeeeeeee!

„So hältst du länger, mein Lieber, und bist vor der nächtlichen Feuchtigkeit geschützt.“

Ach, die Frau Kaiserin. Was hat sie sich dabei jetzt gedacht? Ich will nicht in dieser Plastikhülle bleiben, Mist!

Der Liebhaber ist anscheinend einverstanden, er hat nix kommentiert. Er schien anders als sie zu sein, aber es gibt einen Grund, wenn sie sich gefunden haben.

Hilfeeee, ich will raus!

„Schau mal was für einen eleganten Anzug du anhast. Hast du heute Abend ein Date?“

Jemand kräht und kichert, das ist Uwe!

NEIN, ich wurde in diese Tüte gezwungen, ich will raus.

„Warte mal, das kriegen wir schon hin.“

Ich spüre eine andere Möwe auf meiner Spitze, sie nimmt die Hülle in den Schnabel und Uwe schiebt sie nach oben von unten.

„Ich bin wieder frei, ihr seid so lieb! “

„Komm, wir gehen weg.“

„Wo denn? Ich bin seit zehn Jahren da, was macht Frau Kaiserin ohne mich? “

„Sie wird einen neuen Sonnenschirm kaufen, was glaubst du? Du bist nicht unersetzbar.“

Uwe kann sehr direkt sein, er hat ein gutes Herz, aber manchmal treffen mich seine Worte wie ein Splitter im Stoff und hinterlassen einen Riss.

Er hat aber Recht.

„Willst du weiter jeden Abend im Sommer mit dem Kondom eingeengt werden und keine Sterne sehen? Es ist deine Wahl, aber schrei bitte nicht um Hilfe das nächste Mal, okay?“

„Tja, Recht hast du, Alter. Ich komme mit, aber ich habe Angst, ich bin nie geflogen.“

„Hab Vertrauen, du lernst es schon.“

Die kühle Brise weht noch, ich werde ganz leicht, drehe mich um mich selbst, der Strand entfernt sich mehr und mehr und die Sterne nähern sich.

Es ist so schön, frei zu sein!

Copyright: Annamaria Bortoletto
Copyright: Annamaria Bortoletto

Annamaria Bortoletto
https://laltraidea.wordpress.com

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Eine Gestalt aus dem Schatten

nach einem kurzen Regenguss
musste die Außenluft
doch etwas kühler sein
erschöpft verließ ich das Krankenzimmer
um die gute Nacht zu begrüßen

auf das Dach des Nachbarhauses
stieg bedächtig eine mumienhaft
aussehende Gestalt
einen Schal über den Kopf gestülpt
in eine fadenscheinige Decke gehüllt
trat sie zögernd aus dem Schatten

oben auf der Treppe angelangt
wurde sie meiner Anwesenheit
auf dem Balkon gegenüber gewahr
sie lächelte mir zu und
warf mit einer einzigen Bewegung
Schal und Decke ab
sich als der Nachbarsjunge
von vielleicht acht neun Jahren entpuppend

ab da beachtete
er mich nicht weiter
sondern nahm graziös wie Gandhi
in Erwartung nächtlicher Kühle
im Lotussitz Platz
auf der Dachterrasse
seines Elternhauses
im südindischen Chennai
welches seine Großeltern
noch als Madras kannten

Frank Joussen

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Schöne Träume

Die Nacht kommt.
„Bist du bereit für mich?“, fragt sie.
„Wenn du schöne Träume für mich hast“, sagt die Frau.
„Aber sicherlich“, sagt die Nacht.

Der Blick nach Maria Loretto mit gelben und weißen Lichtern zur beginnenden Nacht des 20. Januar 2024
Der Blick nach Maria Loretto mit gelben und weißen Lichtern
zur beginnenden Nacht des 20. Januar 2024

Johannes Tosin
(Text und Foto)

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Lost

Es ist, als sei er in der leeren Welt.
Er erwachte aus dem Koma, kam zurück,
und niemand war mehr hier.
Einzig er.
Wofür dann leben, für Steine und Gestrüpp?

Gestrüpp auf der Schlangeninsel im Schnee am 31. Januar 2021
Gestrüpp auf der Schlangeninsel im Schnee am 31. Januar 2021

Johannes Tosin
(Text und Foto)

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Fiesole

wen wundert’s
dass hier oben
jemand ans Fliegen glaubte
oder dass eine Gruppe
schöner gebildeter Menschen
sich fantastische
lustige und erotische
Geschichten erzählen konnte
nachdem sie dem Tod im Tal
entronnen waren

wer hier oben aufwuchs
glaubt womöglich wirklich
dass der Mensch ein kultiviertes Wesen
werden kann
wenn man so hinunterblickt
auf das Arnotal und Florenz

doch was würden die Straßenkinder
die afrikanischen Händler
die Flüchtlinge dazu sagen
sollen wir noch einen Garten
mit schönen Menschen suchen
oder zu den Armen rund um
den Ponte Vecchio zurückkehren

Frank Joussen

www.verdichtet.at | Kategorie: hin & weg | Inventarnummer: 25137




Ein Leben im Turm

San Gimignano
E.M. Forsters Monteriano
den Ort gibt es wirklich
wo viktorianische Damen
sich in italienische Zahnärzte verlieben
wo zur Mittagszeit Musik
durch die Steine fließt
wo du in die Hölle blicken kannst
mitten in einer Kirche
wo Levkojen blühen
für die Schönheit einer Heiligen

aber wie war eurer Leben
Bewohner von San Gimignano
als ihr ungestört vom Tourismus lebtet
boten euch die Türme Sicherheit
machten sie euch engstirnig
ließen sie euch glauben
ihr wäret in einem Babylon der Toskana
oder hörtet ihr auf
eure Nachbarn zu bekriegen
brachtet ihr Schinken
Wein und Gesang
auf eurem Marktplatz dar
ließet ihr eure Türme
einfach hinter euch

Frank Joussen

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