Rosenkranz für die Freiheit

Jeder Montag begann mit dumpfem Grollen und Knirschen auf Kies, mit schweren Schritten und tiefen Männerstimmen. Davon wurden wir wach.
Da huschte die Tante Sefi ins Kinderzimmer und klatschte in die Hände
Kinder, aufwachen, aufstehen, Rosenkranzbeten!
Tante Sefi war die jüngste Schwester meines Vaters, ein ehe- und kinderloses Fräulein von der Post. Sie kümmerte sich um die größeren Kinder. Die Mutter war mit Haushalt und den Kleinen beschäftigt, der Vater während der Woche Gastarbeiter bei Wien. Er war ein Wochenendvater.

Es war noch dunkel, als uns Tante Sefi aus den Stockbetten stamperte. Wir knieten in Pyjama und Bademantel neben den Betten, die Hände vor der Brust gefaltet. Es war kalt, wir bibberten. Der einzige Ofen, der Meller-Dauerbrandkamin stand zwischen dem Eltern- und Kinderzimmer und war schon ausgekühlt. Tante Sefi stimmte mit ihrem Glockensopran den Rosenkranz an. Es wurde um einen halben Grad wärmer. Viele Vaterunser und GegrüßetseistduMaria und gebeneideitseideinLeib. Vermaledeit lernte ich erst später mit den Flüchen der Bierführer. Tante Sefi sang im Kirchenchor und in den Hochämtern die Soli der Deutschen Messe. Auch Orgel konnte sie spielen.

In aller Herrgottsfrüh fuhren Onkel Klaus und seine Bierführer Franzl und Toni nach Linz in die Brauerei zum Bierfassen. Vor dem Haus, unter unseren Fenstern, luden sie die leeren Fässer auf den Saurer-Lastwagen. Der Onkel betrieb eine Bierniederlage, von der aus er das Bier zu den Wirten im Unteren Mühlviertel lieferte. Ich fuhr gerne mit und war in allen Wirtshäusern zu Hause. Besonders in denen mit hölzernen Kegelbahnen. Sein Vater, mein Großvater, war der letzte Bierbrauer im Strudengau, in einem Gewirr von weitläufigen Gebäuden, die man seit sechshundert Jahren Bräuhaus nannte. Dazu gehörte eine Landwirtschaft mit einigen Feldern und Wiesen, viel Wald – ein ganzer Berg trug unseren Namen – dazu Obst- und Gemüsegärten. Wir hatten sogar eine eigene Kapelle auf dem Grundstück, errichtet zum Gedächtnis an Kaiser Franz Joseph, der auf der Brautfahrt mit Sisi fast gekentert wäre und 1854 den Haussteinfelsen in der Donau-Mitte wegen des gefährlichen Strudels sprengen ließ. Das stand oben in großen, goldenen Lettern zwischen dorischen Säulen.

Jeden Samstag ging ich mit meiner Großmutter zur Kapelle, sie zu putzen und mit Blumen neu zu schmücken. Heilige Handlungen. Ich fühlte mich damals dem Kaiserhaus sehr verbunden. Das Schönste aber waren die Ställe. Zwei Arbeitspferde, den Hansi und die Lies, auch Schweine und Hühner gab es. Alles für den Eigenbedarf der Großfamilie mit vier Generationen unter einem Dach. Dort bin ich geboren und die ersten zehn Jahre aufgewachsen. Das war Heimat. Nahe Menschen. Frieden und Freiheit. Der Geruch von Gras, Heu, Holz Moos, Harz, Erde und Donaualgen ist mir bis heute lieber als der von Konditoreien oder Parfümerien. Ich mochte die Geräusche der frühen Montage: das Rollen der mit Eisenringen beschlagenen Holzfässer über das Pflaster, das Knirschen im Kies des Vorplatzes, das Quietschen der metallenen Rutschen, zuletzt das dumpfe Aufkrachen auf der Ladefläche und das Rasseln der Ketten, wenn Toni die Planen festzurrte. Flaschen in Kisten kamen erst später auf. In meinen Ohren klang alles einladend und heimelig. Wir Kinder lebten recht frei, weil die Erwachsenen zu beschäftigt waren, um uns zu beaufsichtigen. Trotz aller Gefahren zwischen Donau und Bahn, Bächen und Wehren. Ich glaube, sie vertrauten uns, weil sie sich vertrauten. Daheim waren.

Einmal durfte ich in die Linzer Brauerei mitfahren, das aufregendste Erlebnis meiner Kindheit. Auf dem Schoß von Onkel Klaus, daneben Franzl und Toni im Führerhaus. Ich fühlte mich wie eine Welteneroberin. Die Reise in die Großstadt, die Hochöfen und Schlote der VOEST, gewaltig wie ein Gebirge, die riesigen Hallen der Brauerei, die endlosen Bierlager, in denen sogar Kräne und Eisenbahnen auf Schienen fuhren. Diese Gerüche. Das Linzer Lager war damals die am häufigsten getrunkene Marke. Der Weihnachtsbock mit dem grünen Schildchen kam vor dem Christkind. Biertrinkerin wurde ich trotzdem nicht.

Die endlos wiederholten Absätze des Rosenkranzes liebte ich nicht. Je nach Jahreszeit stimmte Tante Sefi geistliche Lieder an. Im Mai Meerstern ich dich grüße, im Advent Maria durch ein Dornwald ging, vor Ostern Oh Haupt voll Blut und Wunden. Ich bin sicher, dass wir die Worte nicht wirklich verstanden und vieles verballhornten. Meerschweinichdichgrüße. Alle Kinder waren musikalisch und sangen gerne Lieder. Am Ende brauste immer das Großer Gott, wir loben dich durch das Kinderzimmer. Es erlöste uns vom Einerlei des Rosenkranzmurmelns und der Kälte. Erst als wir den Motor des Saurers aufheulen hörten und die tiefe Hupe, wenn er aus dem Dorf hinausfuhr, wurden wir aus unserer knienden Lage erlöst.

Meine älteren Brüder und Cousins gingen schon zur Schule und kannten viele Belustigungen. Sie waren alle Ministranten, gingen zum Dimbach Fische oder Krebse ausgreifen und spielten auf der Strudener Au Fußball. Sie organisierten sich in Banden und spielten Krieg gegen die Buben von Struden. Was die zwei älteren Schwestern den ganzen Tag trieben, daran erinnere ich mich nicht. Nur einmal nahmen sie mich mit in ihre Handfertigkeitsstunde mit Stricken, Sticken und Häkeln in der Volksschule. Das stumme Sitzen mit einer oder zwei Nadeln entsprach nicht meinem Temperament. Nach kurzer Zeit schlich ich mich aus der Klasse ans Donauufer und schaute den Schiffen zu oder der Zille beim Kastenhofer. Wer von unserem Ufer hinüber wollte, musste laut Üüüüberfuuuhr! rufen.

Zumindest für mich kann ich sagen: Ich liebte alle kirchlichen Zeremonien. Waren sie doch in diesem zwischen Donauufer und Bergen zersplitterten 700-Seelen-Dorf die einzigen Ereignisse. Meine Familie – 1944 Ausgebombte aus Wien – lebte dort weit weg von Theatern, Kinos und Cafés. Die Auferstehungsfeiern in der Osternacht, wenn wir die Weidenkörbe mit dem G‘söchten – dem Geselchten, Kren, Osterstrudeln und Eiern zur Weihe in die Kirche tragen durften, die Prozession um die Kirche herum im Dunkeln und wenn es beim dreimaligen Lumen Christi es immer heller wurde, die Erneuerung des Taufgelöbnisses mit dem Abschwören des Teufels – das war Drama pur.
Auf dem Rückweg dann das Abenteuer, wie wir uns bemühten, das Osterfeuer brennend nach Hause zu bringen, hinter der schützenden Hand die steile Blomü – Blochmühlgasse hinunter, über das Viadukt des Dimbaches und übers Danzerbergl drüber.

Natürlich versuchten die Buben den Mädchen die Flamme auszublasen, damit sie Sieger würden. Im Sommer, wenn der Himmel mit Gewittern oder Hagel die Ernte bedrohte, zog eine Prozession mit Fahnen durch die Felder und Wiesen, um den Schaden, der vom Himmel kam, abzuwenden. Dieselbe Zeremonie, wenn es zu wenig Regen gab. Pfarrer, singendes Volk und Kinder. Tante Sefi, mit ihrem klingenden Sopran, schritt voran. In ihrem Dirndl und mit der aufgesteckten Gretlfrisur, die ihre goldenen Locken bändigte, erschien sie mir wie ein Engel. Sie hat einen guten Draht zum Himmel. Alles ist gut, es kann nichts passieren, wir haben Schutzengel.
Das Grundgefühl meiner Kindheit. Die Fragen zum KZ Mauthausen, zur Mühlviertler Hasenjagd und zum Schloss Hartheim hatte ich erst rund zwanzig Jahre später.

Wir hatten Ratschen und Trommeln dabei, mit Klöppeln, mit denen wir herzhaft schlugen, um die Wolken zu vertreiben. Auch Nikolaus und Krampus, die Kreuzwegstationen, die Maiandachten, Taufen, Hochzeiten und Begräbnisse hatten ihre dramatischen Reize. Wir lebten im ewigen Kreislauf des Kirchenjahres. Diese Mischung aus heiliger Feierlichkeit, Spuk und Komik begeisterte mich schon in den frühen Kindertagen. Das war echtes, lebendes Theater. Ich war also gut auf Nietzsches Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik vorbereitet. Auch die heidnischen Bräuche wie das Winteraustreiben und die Sonnwendfeuer waren Höhepunkte im dörflichen Leben. Eine friedliche Heimatkultur.

Onkel Klaus und seine Bierführer hatten an den Montagen eine gefährliche Reise vor sich. Sie mussten über Grein, Perg und Mauthausen die Donau entlangfahren und bei Enns die Brücke queren. An der Zonengrenze standen sich die Sowjetarmee und die Amerikaner direkt gegenüber. Nur die Schranken trennten sie voneinander. Nirgendwo sonst war die Nachkriegssituation so greifbar. Nicht Krieg, aber auch kein Frieden. Es war der neuralgischste Punkt in ganz Österreich in den zehn Russenjahren, wie das hier hieß.
Damit die Männer frei hinüber- und zurückkamen, mussten die Kinder beten. Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelsreich.
Das Bild im Kinderkatechismus, wo Jesus im weißen, langen Nachthemd mit blonden Locken dasteht, links das rote Herz und die Hände weit ausbreitet, um die Kinder zu sich zu rufen, schaute ich besonders gern an. Es wurde erklärt, dass wir auserwählt sind, ganz nah bei ihm zu sein. Kinder können wegen ihrer Unschuld – sofern durch die Taufe von der Erbsünde befreit waren – auf direktem Wege Gottvater, seinen Sohn und dessen Mutter erreichen.

Nach den Erklärungen von Tante Sefi können die unschuldigen Kinder den Schutz und Segen Gottes runterbeten, herabflehen. Die komplizierte Diplomatie zwischen Himmel und Erde, das Verhandeln, Versprechen und Belohntwerden, können wir nicht durchschaut haben. Aber wir hatten eine Rolle, wurden beachtet und fühlten uns wichtig. Die Großen hatten große Angst vor den Russen. Außerdem war die Tschechei nicht weit weg, wo schreckliche Russen ihr Unwesen trieben. Mir hat sich das besonders eingeprägt, stand doch meine Geburt genau am 23. Februar 1948 mit dem kommunistischen Putsch in Prag unter keinem guten Stern. Immer wieder wurde mir erzählt, dass ich wegen der allgemeinen Aufregung einen Monat zu früh das Licht der Welt erblickt hatte. Das nördliche Donauufer gehörte zur Sowjetzone. Die Erwachsenen redeten davon, dass Menschen auf der Enns-Brücke verschwanden und nie wieder auftauchten. Einmal hatten sie sogar eine Frau entführt, eine Diplomatin, die erst nach vierzehn Jahren aus einem sibirischen Gulag freigelassen wurde.

Am späten Nachmittag sammelte Tante Sefi die Kinder in der Stube ein, aus all ihren Tätigkeiten zwischen dem Bräuhaus, der Donau, dem Gießen- und Dimbach. Manche wichen in die Wälder aus. Zu der Zeit, wenn die Mander, die Männer, aus Linz kommend die Enns-Brücke überqueren sollten, kam das zweite Rosenkranzbeten. Wenn sie uns damit auch aus den schönsten Spielen herausriss, war es doch weit weniger unangenehm als das im Morgengrauen, blühte uns doch ein freudiges Ereignis. Wenn die Bierführer mit Gotteshilfe und dank unserer Gebete die Rote Armee glücklich passiert hatten und sie mit vollen Fässern ins Bräuhaus zurückkehrten, gab Onkel Klaus den Erwachsenen ein Freibier aus. Das waren viele, lebten doch außer den Familienmitgliedern noch Knechte und Mägde im Bräuhaus. Dazu Sommergäste, Einlieger.

Wir Kinder bekamen ein Kracherl aus Bad Scharten und durften die Bier-Noagerl, die Neige, austrinken und den Schaum, den Fam, auflecken. Ich weiß noch gut, dass meine Finger noch zu kurz waren, um bis zum Boden zu gelangen. Am glücklichsten war immer Tante Sefi. Bei jeder Rückkehr war sie in ihrem Glauben gestärkt. Sie bespühte alle reichlich mit Weihwasser und lief dann zur Kirche in die Abendandacht, betete wieder den Rosenkranz, um sich beim lieben Gott für die Rettung der Mander zu bedanken.

Ich weiß nicht, ob sie jemals erfahren hat, worauf das Wunder auf der Enns-Brücke wirklich beruhte. Mir hat es Onkel Klaus, bei dem der Schalk immer locker saß, viele Jahre später anvertraut. Sobald sie mit dem Saurer am Ami-Posten ankamen, zeigten sie ihre Passierscheine vor und wurden schnell weitergeschickt. No problem. Go. Am sowjetischen Posten dauerte die Kontrolle länger, obwohl die Soldaten die Bierführer schon lange kannten. Während vorne am Führerhaus die Papiere immer wieder umgedreht wurden, machten sich zwei Soldaten hinten am Anhänger zu schaffen. Dort hatte Onkel Klaus ein 50-Liter-Fass für sie bereitgestellt, das sie sehr schnell in ihr Wachhäuschen rollten.

Ich nehme an, dass Onkel Klaus seine Schwester Sefi nie in ihrem Glauben an die göttliche Hilfe erschüttert hat. Sie ist hochbetagt und hochkatholisch verstorben. Soweit ich weiß, friedlich. Ich selbst kann mich bis heute nicht entscheiden, ob es das Linzer Lagerbier war oder unser Rosenkranzbeten. Jedenfalls sind die Männer in der Russen-Zeit immer unversehrt heimgekommen. Als im 55er Jahr die wirkliche Befreiung kam, wohnten wir bereits in Wien, sahen die Russen abziehen und hörten im Radio Österreich ist frei!

10.5.19

Veronika Seyr
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