Schneeschmelze

Rosa lief mit der Öllampe in der Hand durch die finstere Nacht, ein eisiger Wind peitschte ihr die Schneeflocken hart ins Gesicht und es fiel ihr schwer, durch die hohen Schneeverwehungen vorwärtszukommen.
„Schnell, Mädel, lauf zur Hebamme und bring sie her! S‘Nannerl bekommt ihr Kind!“ Mit diesen Worten hatte sie die alte Bäuerin mitten in der Nacht geweckt.

Die einzigen, knöchelhohen Paar Schuhe von Rosa waren abgetragen und löchrig, das dicke Leinenkleid hing nass und kalt an ihren schmalen Beinen, der Lodenmantel war fadenscheinig und wärmte nur wenig. Seit fünf Jahren war sie jetzt beim Seppenbauern als Dienstmagd angestellt, und in dieser Zeit, seit ihrem zwölften Lebensjahr, war sie nicht mehr richtig gewachsen. Sie sah auch nicht aus wie siebzehn, sie war klein, schmal und unterernährt. Rosa hatte jeden Tag Hunger, aber das interessierte niemanden.
„Sei froh, dass du ein Dach über dem Kopf hast und eine warme Suppe, bei deiner Großmutter wärst du längst verhungert!“, hatte sie die Altbäuerin mal geschimpft.

Endlich angekommen bei der Hebamme machten sich die zwei Frauen schnell auf den Rückweg zum Bauernhof, Rosa war keine Pause gegönnt. Gerade noch rechtzeitig zur Niederkunft kamen sie an. Für Rosa brach eine anstrengende Zeit an, sie musste die kommenden Wochen den Säugling hüten, damit sich die Jungbäuerin von der Geburt erholen konnte.

Um spätestens 21 Uhr fiel Rosa jeden Abend müde, abgekämpft und hungrig ins Bett, neben ihr schlief der Säugling in einem geflochtenen Korb. Sobald das Kind zu schreien anfing, brachte Rosa es zu Nannerl zum Stillen. Sie musste warten, bis es fertig getrunken hatte und nahm es wieder mit in ihre kleine Kammer. Es war eisig kalt, Rosa packte den Säugling ganz warm ein und achtete darauf, dass das Kind nicht fror. Um vier Uhr früh stand Rosa auf, heizte den Ofen in der Küche und der Stube und versorgte dann die Tiere am Hof. Der Wind pfiff um die Stallungen, Rosa zitterte am ganzen Leib. An den Kühen und Kälbern konnte sie sich wenigstens ein klein wenig wärmen, während sie den Stall ausmistete.
Nach der Stallarbeit gab es für alle ein kümmerliches Frühstück – lauwarme Milchsuppe mit etwas Brot. Die Dienstboten bekamen das alte, harte Brot von der Vorwoche, nur der Herrschaft war das frisch gebackene vorbehalten.

Nach diesen anstrengenden Wochen wurde Rosa krank. Sie hatte hohes Fieber, Kopf- und Gliederschmerzen und sie hustete sich die Seele aus dem Leib. Der alte Knecht, Matthias, bemerkte Rosas glühende Wangen beim Frühstück und sprach die Altbäuerin an:
„Die Rosa gehört ins Bett und ein Arzt muss her. Seht euch das Mädel doch an? Die stirbt euch noch weg.“
„Das wäre ja noch schöner! Wer soll denn für die Arztkosten aufkommen? Die hat doch nichts Erspartes! Und bis Maria Lichtmess bleibt sie hier am Hof als Dienstmagd!“, keifte die Alte.
Der Seppenbauer funkelte Rosa streng an und spuckte abwertend auf die Holzdielen.
„Na, wo hast dich denn herumgetrieben, weil du plötzlich so krank bist?“, meinte er.
„Kann ich bitte heißen Tee haben und eine kräftige Suppe, Bauer? Dann werde ich sicher schnell wieder gesund“, flehte Rosa die Bauersleute an.
„Nichts da. Geh an die Arbeit. Wo kommen wir denn da hin, wenn plötzlich jeder eine Sonderbehandlung möchte?“ Die Bäuerin ging wieder zurück in die Küche an den Herd.

Matthias schüttelte den Kopf und nahm Rosa an der Hand.
„Komm, Rosa. Ich helfe dir.“ Am Vormittag musste Rosa immer die schweren Wasserkübel vom Brunnen in den Stall tragen und das Vieh tränken. Außerdem war noch das Getreide mit einem Dreschflegel zu schlagen, damit die Pferde am Hof Korn hatten.
Mit zittrigen Beinen und aus voller Brust hustend verrichtete sie ihre Arbeiten. Der Knecht half ihr, soweit es möglich war, denn er hatte selber noch einiges an Aufgaben zu erledigen.
Rosa konnte an diesem Abend nicht einschlafen. Sie wollte am liebsten weglaufen, aber sie wusste nicht, wohin. Bis Anfang Februar war sie verpflichtet am Hof. Erst dann bekam sie ihren Lohn vom letzten Jahr ausbezahlt. Wenn es die Bauersleute gut mit den Dienstboten meinten, gab es zusätzlich vielleicht noch Schuhe oder neue Kleidung. Sie hielt das bei den Seppenbauern aber für sehr unwahrscheinlich.

Die Bettwäsche in der Kammer waren mit einer dünnen Eisschicht bedeckt. In den Räumen der Dienstboten herrschte im Winter immer eisige Kälte. Rosa hielt es nicht mehr aus, sie schleppte sich in den Stall, legte sich neben die Kälbchen ins Stroh und deckte sich mit alten Leinensäcken zu. Bald fiel sie in einen tiefen Schlaf.
Ganze vier Tage blieb sie so im Stall liegen, trank manchmal einen Schluck Milch aus dem Euter der Kühe und legte sich wieder hin. Niemand kümmerte sich um sie, aber zum Glück wurde sie auch nicht mehr aufgefordert, ihrer Arbeit nachzugehen.

Am fünften Tag ging sie verschmutzt, stinkend und abgemagert über den Hof zum Bauernhaus. Ein Pferdegespann fuhr gerade durch das Einfahrtstor und auf dem Kutschbock saß der Alois aus dem benachbarten Ort. Rosa kannte ihn schon länger, er holte sich immer Holz vom Seppenbauern. Er hatte sich vor einiger Zeit mit seiner Frau ein kleines Haus am Dorfrand gebaut, er war Hufschmied und verdiente sich damit mehr recht als schlecht den Unterhalt. Die meisten Bauern zahlten in Naturalien, er hatte wenigstens zu essen. Vor einigen Jahren war die Frau von Alois gestorben, an der Schwindsucht, wie es hieß.
„Rosa! Bist du das?“, rief er entsetzt. „In aller Herrgottsnamen, wie siehst du denn aus?“
„Ich war krank, Alois. Jetzt geht es mir aber wieder besser.“ Rosa war beschämt und schlüpfte schnell durch die Tür ins Haus.

Sie nahm einen Holzkübel, um Wasser zu holen. Der Brunnen lag außerhalb des Hofes, in der Nähe des Einfahrtstores. Aus dem Hofinneren hörte sie plötzlich laute Stimmen.
„Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Die Rosa sieht ja schrecklich aus! Lässt du sie verhungern?“, hörte sie die Stimme von Alois.
„Das sind nicht deine Angelegenheiten! Die Rosa soll froh sein, dass sie bei uns ist. Ihre Großmutter kann sich nicht noch um ein weiteres Balg kümmern.“
„Am liebsten würde ich sie einpacken und mitnehmen. So kann das nicht weitergehen, Sepp! Soll ich dem Arzt sagen, er muss mal vorbeischauen? Dann wirst du aber dein blaues Wunder erleben!“
„Das Angeld ist bezahlt, die Rosa bleibt bis Lichtmess hier! Dann kannst du sie von mir aus holen, das unnütze Weibsbild.“

Rosa lief schnell in das Haus zurück, ehe sie jemand sah. Ihr Herz pochte! Konnte das wahr sein? Würde sie wirklich endlich wegkönnen von diesem Hof? Bis zweiten Februar waren es nur noch einige Tage, die hielt sie sicher noch aus.
Abends hörte sie dann die Bauersleute über Alois reden, sie lachten und machten Witze. Sie wollten es nicht glauben, dass der Mann so dumm sein konnte.
Pünktlich an Lichtmess begann die Schneeschmelze und an diesem Tag fuhr Alois auf den Hof.
Die Altbäuerin wartete an der Eingangstür und stemmte ihre Arme in die breite Taille.
„Na, Alois? Meinst du es wirklich ernst? Bist um die Rosa gekommen?“, fragte sie ihn mit scheinheiliger Stimme.
„Das ist richtig. Wo ist sie? Ich nehme sie gleich mit.“
„Ich verstehe gar nicht, was du dir an dem Mädel siehst, hässlich, wie sie ist. Und zur Arbeit taugt sie auch nicht“, fauchte die Alte weiter.

Rosa hatte ihr bestes Kleid angezogen, ihren kleinen Lederkoffer in der Hand und schlich sich an der Bäuerin vorbei.
„Rosa, hast du auch deinen Lohn vom letzten Jahr bekommen, wie es dir zusteht?“, fragte Alois leise.
„Ja. Es ist zwar nicht viel, aber immerhin kann ich heute den Hof verlassen.“ Rosa lächelte.
Geschickt kletterte sie auf den Kutschbock und beide fuhren sie vom Hof des Seppenbauern. Ein Jahr später heirateten sie. Alois war zwölf Jahre älter als Rosa und die Ehe blieb kinderlos.

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Der Schnee schmilzt unter meinen Stiefeln, das Februarlicht dringt sanft durch die knorrigen Äste der Pappeln am Friedhofsweg. Ich zünde eine Kerze an, wie alle Jahre an Maria Lichtmess. Auf dem Grabstein steht in geschwungener Schrift:
Maria Gruber 1901 – 1926
Alois Gruber 1899 – 1977
Rosa Gruber 1911 – 2000

Tante Rosa hat meinem Mann und mir damals das kleine Haus vererbt. In ihrer Schlafkammer habe ich in einer alten Holzkommode die Tagebücher gefunden. Sie hat erst später ihre Erlebnisse in dünne Hefte geschrieben. Die Kriegsjahre haben sie einigermaßen gut überstanden, die Pferde wurden gebraucht und mussten ja beschlagen werden, Alois hatte immer Arbeit. Rosa war an der Seite ihres Mannes glücklich gewesen. Sie war ihm eine gute Ehefrau.
Die Enkeltochter zupft an meinem Mantel: „Oma, wer ist denn hier begraben?“
„Hier liegt meine Tante Rosa, liebe Laura. Eine wundervolle Frau, die von Onkel Alois aus der Eiseskälte gerettet wurde.“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

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