Hey, Mercedes!

Sie steht müde in der neuen Designerküche und schaltet die Nespresso-Maschine ein. Vor dem Küchenfenster wirbeln dicke Schneeflocken im Halbdunkel, die Fensterläden klappern gedämpft und halten dem starken Wind stand. Leise surrt Kaffee in die kleine Espressotasse, der würzige Duft steigt ihr in die Nase, sie muss an George Clooney denken. Während sie ihren ersten Schluck zu sich nimmt und ihren Gedanken nachhängt, poltert ihr pubertierender Sohn in die Küche. Die Kopfhörer im Ohr, den Blick aufs Smartphone gerichtet, tastet er nach der Kühlschranktür.

„Guten Morgen, Jonas.“ Ohne eine Antwort nimmt er Orangensaft aus dem Kühlschrank, trinkt in einem Satz die halbe Flasche leer und stellt sie auf die Anrichte. Sie kippt um und ein dünnes Rinnsal tropft auf die Steinplatte und anschließend über die weiße Hochglanzfront. „Really, George?“, denkt sie und schmunzelt.

„Alexa, setze Orangensaft auf die Einkaufsliste“, murmelt Jonas und verlässt die Küche.
Beate wischt sauber und entsorgt die PVC-Flasche. Sie atmet tief durch und sieht sich das Schneetreiben an.

„Wie soll ich heute bloß zu meinem Meeting kommen?“, stöhnt sie.
„Nimm meinen Wagen, ist ein Allrad“, ihr Mann betritt den Raum. In der einen Hand hält er ein Tablet, in der anderen eine Mappe.

„Der ist nagelneu, ich bin mit dem noch nie gefahren!“
Ralf lacht laut auf und schüttelt den Kopf.
„Du brauchst nur drinsitzen, das Auto macht alles selber. Ich habe heute eine Telefonkonferenz von zu Hause aus, brauche den Wagen also nicht.“

Beate wählt einen dunkelblauen Hosenanzug und ein buntes Seidentuch, sieht sich in ihrem großen Ankleidezimmer um und überlegt, welche Schuhe sie anziehen soll bei diesem Mistwetter. „Egal, ich werde in einer Tiefgarage parken, da kann ich dann auch die Highheels anziehen, ich werde ja nicht im Schnee rumlaufen müssen.“

„Alexa, schalte die Alarmanlage aus.“ Ihr Sohn schlurft am Schrankraum vorbei, öffnet die Haustür und weg ist er Richtung Bushaltestelle.
An der Küchentheke sitzt ihr Mann am Barhocker, trinkt Espresso und sieht ins Tablet. „Pling …“, das Signal für eine eingehende Mail ertönt.
„Alexa, öffne das Garagentor.“
„Alexa, sag Mercedes starte die Standheizung.“ Ralf dirigiert Alexa, während er weiter in seinem Tablet liest.
Ein lauter Signalton surrt aus Beates iPhone. Anschließend ein „Pling“ und gleich hinterher ein „Sssrrrrrum“.
„Eine WhatsApp Nachricht, ein neuer Facebookbeitrag und eine Mail“, denkt sie, steckt das Telefon in ihre Gucci-Tasche und verlässt die Küche.
„Bis heute Abend dann. Ich nehme uns etwas vom Koreaner mit, okay?“
„Ja, ist gut.“

Beate fühlt schon angenehme Wärme im Auto. Sie legt ihr Smartphone auf den Beifahrersitz und sucht am Cockpit des Wagens nach dem Schalter „Navi“. Das hochauflösende Display kann via Touch bedient werden, das findet sie schon mal prima, damit kann sie umgehen.
Schnell sucht sie in ihrem Handy unter den Mails nach der Adresse, die ihr die Kundin mitgeteilt hat, und tippt sie in die Navigationsleiste.
Der Motor startet sanft schnurrend, und sie biegt in die Straße ein.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ am Beifahrersitz.
„Hey, was für ein Sauwetter!“ Beate lehnt sich weiter vor in der Hoffnung, so besser durch das Schneetreiben blicken zu können.
„Wie bitte?“, ertönt es von irgendwoher im Auto.
„Was zum Geier … wer redet hier?“ Beate versucht, sich zu konzentrieren.
„Wie bitte?“  —— „Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.
„Diese Reiseroute enthält Verkehrsbehinderungen. Bitte wählen Sie eine andere Strecke.“ Das muss die Dame aus dem Navi sein, denkt sie, denn die Navigationsroute am Display blinkt auf.

In einer Kurve kommt das Auto leicht ins Schleudern, fängt sich aber sofort wieder.
„Hey, Mercedes, gut gemacht.“ Beate lächelt.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“, wieder diese freundliche, andere Frauenstimme aus dem Irgendwo.
Plötzlich erkennt Beate blinkende Rücklichter vor sich, sie drückt etwas umständlich aufs Bremspedal und spürt ein Rattern unter ihrem Stöckelschuh, kurz darauf verstärkt das Auto die Bremse selbständig.
„Mist, Stau!“ Beate schlägt auf das Lenkrad. Ihr Handy läutet.
„Beate Lauterbach“, nimmt sie den Anruf entgegen.
„Guten Tag, Frau Lauterbach. Ohlsberg spricht. Ich habe Ihnen heute schon einige Mails geschickt, haben Sie diese erhalten? Ich brauche dringend ein Angebot von Ihnen …“, die ihr bekannte quietschende Frauenstimme am anderen Ende schmerzt in ihrem Ohr. „Frau Ohlsberg, ich muss mich später darum kümmern. Ich bin unterwegs in ein Meeting und stecke im Stau fest.“
„Aber es ist wirklich dringend …!“

Beate beendet das Gespräch, denn im Rückspiegel sieht sie das gelbe Warnlicht der Straßenräumungsgesellschaft und sie weiß nicht, wie diese weiter durchkommen soll.
„Verdammt!“
„Wie bitte?“ ——— „Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.
Beate fährt ein paar Meter nach vorn zu einer Bushaltestelle, lässt den Räumungsdienst vorbei und wendet den Wagen.
„Die Route enthält Verkehrsbehinderungen …“, wieder diese vorwurfsvolle Stimme des Navis.
Beate will es über die Autobahn versuchen, das ist zwar ein Umweg, aber die ist sicher besser geräumt.
„Bitte wenden Sie jetzt.“
„Halt einfach die Klappe!“ Beate spürt ein krampfendes Gefühl in der Magengegend, und es wird ihr abwechselnd kalt und heiß.
„Wie bitte?“ ———
„Du sollst auch die Klappe halten. Seid BEIDE einfach ruhig!“, schreit Beate jetzt.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.

Die Scheibenwischer arbeiten auf Höchststufe, das Schneetreiben nimmt zu. Beate fährt vorsichtig weiter und sucht auf den Verkehrsschildern nach dem Wegweiser zur Autobahn, doch es sind alle Schilder durch die Schneeverwehungen unlesbar.
„In 500 m rechts halten und auf die A3 auffahren!“
„Na endlich!“, denkt Beate.
Sie beugt sich wieder nach vorne, setzt den Blinker …
„Oh nein!“ Beate springt auf die Bremse. Zwei LKW stehen quer über die Auffahrtsstraße.
„Jaaaa, klar! So ohne Schneeketten wird‘s nicht klappen, ihr Idioten!“
„Wie bitte?“ ———
„Mercedes, du nervst!“
„Wie kann ich behilflich sein?“ Freundlich und ruhig, wie immer.
Beate möchte wieder wenden, sie muss den Gegenverkehr abwarten.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.

Beate überlegt lange Zeit, sie weiß nur mehr eine weitere Strecke, die sie aber über schmale Nebenstraßen führen wird. Ob die geräumt sind?
Sie nimmt ihr Handy und wählt Ralfs Nummer, er soll ihr weiterhelfen. Besetzt! Natürlich, war zu erwarten!
Sie tritt aufs Gaspedal und der Wagen kommt leicht ins Schleudern, ein Warnlicht auf der Tachoanzeige.
„Vielleicht soll ich einfach wieder heimfahren und das Meeting abblasen?“, denkt sie. Doch sie kommt halbwegs gut vorwärts und es ist nur wenig Verkehr auf diesen Straßen.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.
Kurz darauf ein Anruf, leider nicht Ralf. Sie geht nicht ran.
„Bitte wenden Sie nach Möglichkeit jetzt!“
„Hey, ich wende nicht! Blöde Kuh!“ Beates Fingerknöchel leuchten weiß am Lenkrad, sie hält es fest und verkrampft in beiden Händen.
„Wie bitte?“, fragt die Autodame höflich.
„Pling“, „Sssrrrrrum“ – Vibrationen am Beifahrersitz.

Beate bremst abrupt, sie sucht verzweifelt nach dem Schalter für das Seitenfenster, drückt ihn fest, der rote Gelnagel löst sich von ihrem Fingernagel, wütend nimmt sie das iPhone vom Beifahrersitz und wirft es aus dem Fenster in den Schnee.
„Aaaaaaaaaaaaaaaaah, ich werde verrückt hier!“
„Wie bitte?“
Sie holt tief Luft, vereinzelt verirren sich die Schneeflocken auf ihrer Kostümjacke, blitzen kurz auf und schmelzen dahin.
Beate schließt das Fenster, drückt den „Off-Schalter“ der Mittelkonsole, das Display verdunkelt sich. Sie legt den Gang ein und fährt langsam weiter. Ziellos, planlos, sie fährt einfach. Es ist nun ganz still im Auto. Nur das leise Summen des Scheibenwischers ist hörbar und das Knarzen der Autoreifen auf der Schneefahrbahn.

Beate spürt Tränen über ihr Gesicht laufen. Sie wischt sie mit dem Handrücken weg.
Nach einigen Kilometern langsamer Fahrt lässt der Schneefall nach. In der Ferne erkennt sie eine kleine Ortschaft.
„Nein, das ist nicht möglich, oder?“, fragt sie leise ins nun stumme Auto. „Das muss Kneidelsdorf sein … es ist Jahre her, Jahre …!“
Wieder ein paar Tränen, die sie schnell wegwischt. Der schneebedeckte Zwiebelturm der Kirche glitzert, Beate fährt durch schmale Straßen, vereinzelt sieht sie ältere Frauen mit Kopftuch die Gehwege freischaufeln.

Der Mercedes surrt an ihnen vorbei. Sie weiß genau, welche Abbiegung sie nehmen muss, kurz nach der Ortstafel. Wie lange hatte sie ihn nicht mehr besucht?
Sie lenkt den Mercedes in einen Innenhof, die Dachschindeln der Stallgebäude sehen schäbig aus. Das Mauerwerk des Wohnhauses ist renovierungsbedürftig, die Fensterrahmen und die Holztür wirken blass. Beate steigt der Duft von Heu und Mist in die Nase.
„Also noch immer Tiere hier?“

In Gedanken sieht sie sich als kleines Mädchen jungen Katzen hinterherlaufen, barfuß durch hohe Wiesen, Bilder von Schafherden auf Weideflächen, von einem alten Schäferhund bewacht, erscheinen. Sie erinnert sich an viele Sommertage hier auf dem Hof, spürt den Geschmack von Butterbrot mit Schnittlauch auf ihrem Gaumen, schmeckt warme, frisch gemolkene Kuhmilch, die sie damals mit einer großen Suppenkelle aus der Kanne schöpfte.
Aus einer klapperigen Stalltür kommt ein alter Mann, er schlurft in Gummistiefeln stark gebückt Richtung Wohnhaus. In seinem Mundwinkel hängt eine Pfeife. Erst jetzt bemerkt er das Auto im Innenhof stehen.

Er lächelt, nimmt die Pfeife aus dem Mund und die Mütze vom Kopf.
Beate öffnet die Tür, versinkt mit ihren Highheels im Schneematsch, bleibt stecken. Sie entledigt sich der Schuhe und läuft in Seidenstrümpfen über den Hof.
„Schicker Wagen!“, ruft er ihr mit heiserer Stimme entgegen.
Beate fällt ihm um den Hals, sie riecht Tabak und Heu.
„Hey, Mädel, was führt dich hierher in die Einöde?“ Er drückt sie fest an sich.
„Ich will mein altes Leben wieder zurück, Opi!“

Manuela Murauer
waldgefluesteronline.com

Erstveröffentlichung beim Online-Schreiblust-Verlag

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