Guten Appetit, ihr Ratten - Teil II

„Wo ist die Liebe?“

Ich stand im kalten Treppenhaus und wartete, bis Linda die Tür aufmachte. Dann, als es endlich passierte, schlug ich ihr während unseres Gesprächs vor, zusammenzusein, aber sie schlug es aus.
Du lebst nicht!
Sie war kalt wie ein Fisch, anscheinend war ich pervers, weil ich sie liebte.
Ihr Gesicht war ganz blass, und ich fragte sie, was mit ihr los war.
„Ich habe meine Tage“, sagte sie ohne jegliche Scheu.
Sie sah mich nicht wie einen Mann an. Ihre Augen wie zwei Eisberge, und noch mehr Kälte in deren Tiefe. Mit Verachtung lachte ich über mich, weil ich so verzweifelt war, zu ihr zu kommen.
Ich wollte von ihrem Balkon springen oder sie runterschmeißen. Vielleicht würde sie auch mit mir springen wollen? Aber da sie mit mir nicht leben wollte, würde sie auf keinen Fall mit mir sterben wollen.
Diese Welt ist zu kalt, dass Liebe wachsen und blühen kann.

Einmal ging ich alleine zum Mittagsbuffet im Chinesischen Restaurant. Bevor ich meine Wohnung verließ, bildete ich mir ein, dass ich riesige Willenskräfte hatte, größer als das Haus, und als ich das Restaurant betrat, glaubte ich, dass ich seine Wände mit meiner persönlichen Energie zerstören könnte, aber plötzlich bemerkte ich, dass fast an allen Tischen schöne Mädchen saßen, die vermutlich zu einer Modelagentur gehörten. Nur in einer Ecke sah ich einen älteren Mann mit einer Zeitung. Weder war er an den Mädchen noch sie an ihm interessiert. Sie folgten mir mit ihren Blicken, und ich spürte, wie meine Kräfte wie ein müder Pimmel zusammenschrumpften. Kaum konnte ich einen Tisch in der anderen Ecke erreichen. Ich sah den Mann an, der mir mit seinem warmen Lächeln verständnisvoll zunickte. Er hatte schon die Ängste der Jugend durchlaufen.

Ich saß in der Ecke, wie eine gefangene Ratte, und wurde von der Existenz der Mädchen immer mehr unterdrückt. Dann musste ich unbedingt auf die Toilette. Ich machte Schritte, hatte aber den Eindruck, dass ich an der selben Stelle stehen blieb, wie in einem Albtraum. So schlabbrig waren meine Beine.
Mit kaltem Wasser wusch ich mir mein Gesicht und schaute mir mein bleiches Spiegelbild an. Der Typ im Spiegel tat mir leid, er war schwach, bedauernswert, ekelerregend.
Ich versuchte, mir wieder einzubilden, dass ich stark und allmächtig wäre. Tatsächlich verspürte ich die Energiewelle wieder, allerdings war sie mit dem Tsunami, mit dem ich meine Wohnung verlassen und alles auf meinem Weg verwüstet hatte, nicht zu vergleichen.

Ich nahm einen Teller und machte ihn mit verschiedenen Gerichten voll, aber als ich zu meinem Tisch kam, hatte ich ein Kloßgefühl in meinem Hals. Der Mann mit der Zeitung schaute mich besorgt an. Ich warf mich auf den Stuhl und versuchte mich zu zwingen, etwas zu essen, aber es wollte nicht runter. Ich fühlte mich wie eine Kuh, die immer wieder das Essen zerkaute.
Ich schaute die Mädchen absichtlich nicht an, trotzdem spürte ich ab und zu ihre Blicke.
Auf einmal wurde mir ganz übel, und mit aller Kraft rannte ich aus dem Gebäude, verfolgt von der chinesischen Kellnerin, die mit lustigem Akzent schrie.
„Bezahlen, bezahlen!“
Und das Schlimmste daran war das kollektive Lachen, das ich beim Flüchten hörte.

Ich habe das alles deswegen erzählt, weil ich das selbe Ritual vollbrachte, bevor ich heute rauskam, und mich jetzt wieder wie ein NICHTS fühlte.
Früher mochte ich keine belebten Orte, aber bei einigen Menschen ging es mir komfortabel. Heutzutage fiel es mir schon schwer, mich mit einem zu unterhalten. Wenn es so weitergeht, werde ich mich selbst beim Alleinesein als einer zu viel betrachten.
Ich verließ die Frau für immer und schweifte auf den Straßen rum, dabei versuchte ich mich an etwas zu erinnern, was mir keine Ruhe ließ.
Ich fand keine Liebe in den Menschen, deswegen suchte ich sie in Gegenständen, indem ich sie berührte. Verkehrsschilder und Laternen waren eisig, Bäume dagegen viel freundlicher.

Mein Vater dachte immer ans Geld. Er kaufte die Wohnung auf Kredit und jeden Monat sagte er, wieviel noch abzubezahlen wäre. Er verteilte sein ganzes Leben auf Raten. Immer diese gesichtslosen, schrecklichen Ziffern.
Vermutlich hatten er und meine Mutter absolut trockenen Sex. Mein Vater hatte vielleicht den Eindruck, dass er mit einem Schleifpapier kopulierte, und meine Mutter dachte wahrscheinlich, dass es gleich sei, ob sie mit ihm oder mit einer Luftpumpe schlief. Beide sind gleich tot, und ich wohne jetzt alleine in der Wohnung, in der sie so unglücklich waren.
Die Seelen im Gefrierfach.

Ich kannte einen Mann, der Frauen nie ins Gesicht schaute, stattdessen hatte er nur ihre Beine, Pos und Brüste im Kopf, deswegen war er immer alleine, weil das Gesicht der Mensch ist, aber er bevorzugte das Fleisch, das nicht lieben kann.
Eine Frau fragte mich:
„Willst du mein Sklave werden?“
Ich lutschte die Brüste einer Frau zu lange, und sie fragte mich:
„Hältst du mich etwa für deine Mutter?“
Sex – ein gescheiterter Versuch, in verlorene Sorglosigkeit zurückzukehren.

Ich hatte ein sehr niedliches Mädel und ich sagte zu ihr.
„Ich liebe es, wenn du mich mit deinen Lippen anlächelst.“
„Mit welchen?“
„Allen!“
Am Ende ging sie trotzdem, wie alle. Ich weiß nicht warum, sie vermutlich auch nicht. Da ist eine Kraft in der Luft, die uns auseinanderbringt. Moleküle der Zeit. Liebkosung des Todes zerstört alles in dieser Welt.

Mein Verhalten erschien den Leuten auf der Straße merkwürdig, und jetzt laufe ich weg von dem großen Polizisten. Ich laufe nicht, weil ich schuldig bin, sondern weil ich es möchte. Ich laufe fort von Menschen, die einander nicht zuhören und nicht sehen, von Menschen, die nicht wissen, was sie aus ihrem Leben machen wollen. Ich laufe fort von mir, der Angst hat, sich zu bewegen, um etwas zu ändern, der Angst hat, laut zu atmen, um damit nicht jemanden zu stören, von mir, der von seiner Vergangenheit gequält, von der Gegenwart verwirrt und von der Zukunft erschreckt wird, von mir, der von den sinnlosen Träumen verfolgt wird oder der nicht genug Verstand besitzt, die verborgene Botschaft darin zu verstehen. Ich laufe fort von Fehlern, aus denen ich keine Lehre rausholen konnte, wobei ich mich weiterhin täusche, dass ich sie nie wieder begehen werde. Ich laufe weg von dem Nachbarn, der mich anlächelt, aber dem ich in Wirklichkeit egal bin, weg von der Dunkelheit, in der ich mich früher so gerne aufhielt.
Ich laufe schnell, und mir entgegenwehender Wind befreit mich stückweise von meiner alten Haut, die wie Herbstblätter langsam und in Kreisen auf den kalten Asphalt abfällt, und ich fühle mich wie Gott, der in allen Dingen und gleichzeitig frei ist.

Diese Straße, dieser Polizist, diese Geräusche, dieser Duft aus der Bäckerei, das alles bin ich, und auch mehr. In Wirklichkeit gehöre ich woandershin, ich bin nur auf der Durchreise hier, ein Gast für eine Weile, für einige Jahre, die wie Sekunden vergehen. Ich bin gekommen, um mir diese Absurdität anzusehen, um mich über diesen Schwachsinn, der sich in den Mantel der Wahrheit gekleidet hat, zu Tode zu lachen.
Ich strecke meine Arme zur Seite und laufe so. Von der Seite muss ich lächerlich aussehen. Ich sehe mich mit den Augen der Katze, die auf der Fensterbank sitzt und mich mit ihrem allessehenden Blick erstaunt anschaut. Ich sehe mich mit den Augen der alten Frau, die auf der Gartenbank sitzt und die Tauben mit dem trockenen Brot füttert, das sie vorhin selbst mit dem Tee zu essen versucht hatte, wobei fast ihre Zahnprothese zerbrochen wäre. Ich sehe mich mit den Augen des Polizisten, und ich muss von hinten noch lustiger aussehen, als ob ich kein Gesicht hätte. Zuletzt sehe ich mich mit den Augen der Krähe, die mich bemitleidet, weil sie weiß, dass ich nie fliegen werde – nie?

Alles ist ganz schnell geschehen. Entweder habe ich die Bremsen gehört oder ich habe mir danach eingebildet, sie gehört zu haben. Die Tatsache ist, dass ich von einem Auto angefahren wurde, und jetzt liege ich auf der Erde ganz alleine. Ich spüre überhaupt nichts, und ich denke, dass es ein schlechtes Zeichen ist. Ich betrachte die Welt aus der Sicht eines Wurmes. Vor Kurzem war ich wie der Schöpfer, aber jetzt hat sich meine echte Essenz enthüllt.
Ich erinnere mich, wie einer meiner Lehrer mir von einem überfahrenen und von Menschen umzingelten Hund erzählte, den er gesehen hatte. Es gibt keine größere Einsamkeit, dachte mein Lehrer, zu sterben, während um dich herum Müßiggänger wie Fliegen kreisen, denen es gleichgültig ist, was mit dir passiert. Sie sind woanders, in ihrer boshaftigen Freude, ihr Tag ist gelungen, weil sie jemanden sterben sehen konnten, und sie kehren glücklich nach Hause zurück mit dem Gedanken, dass sie immer noch atmen. Es ist egal, dass sie nichts daraus machen, Hauptsache, sie atmen und verpesten die Luft.
Hoffentlich werde ich nicht so umzingelt. Ich ziehe vor, alleine zu bleiben, für mich in Ruhe.
Die Autofahrerin ist eine sehr hübsche, junge Frau.
Sie ist so wunderschön und gütig, sie würde mich bestimmt lieben. Sie ist wie eine vergessene Melodie, Duft aus der Kindheit, Erinnerung an einen warmen Traum.
Ich entferne mich von ihr, als ob ich in eine unendliche Tiefe fallen würde, aber mit der Hoffnung, dass ich sie im nächsten Leben treffen und erkennen werde.

Ich war mit der Vorlesung fertig, aber mein Kollege schwieg.
„Na, was sagst du, hat sie dir gefallen?“
„Es gibt keine Achse, alles ist irgendwie oberflächlich und flüchtig erzählt. Allerdings denke ich, dass es etwas Großartiges werden kann. Du kannst über dieses Thema ein ganzes Buch schreiben. Es ist doch das ewige Problem der Menschheit. Die Kälte der Einsamkeit. Dafür musst du aber der Sache auf den Grund gehen, und das erfordert sowohl eine gewisse Lebenserfahrung als auch das Feingefühl zum Detail.“
Ich hörte ihm zu und wollte den Aschenbecher nach ihm schmeißen.
„Was verstehst du schon davon? Bist du etwa ein Literaturkritiker?“
„Warum bist du so sauer, du musst doch für konstruktive Kritik offen sein, nur so wirst du besser.“
Ich wollte nichts mehr hören, ich wollte weinen, und ich saß da und guckte mir die bunten Blätter der Bäume an und wusste überhaupt nicht, warum sie sich im Herbst so färbten. Trotzdem genoss ich ihre Schönheit, die mich beruhigte.

„Und warum springst du so hin und her von Perfekt zu Präteritum?“
Jetzt war er schon ein Grammatiklehrer, aber ich würdigte ihn keiner Antwort.
Nach einer Weile erzählte er mir von einem Jungen, der in England lebte und sein ganzes Leben lang die Menschen um sich herum vergiftete. Zuerst waren es seine Eltern und dann, als er „rehabilitiert“ und wieder auf freiem Fuß war, seine Kollegen.
Ich versuchte mir vorzustellen, wie viel Hass in ihm von Anfang an stecken musste oder woher dieser kam. Woher kommen unsere Gefühle überhaupt, und was sind sie? Sind sie echt? Gehören sie uns, oder werden sie uns einfach von jemandem ohne unsere Erlaubnis angehängt?
Mein lieber Kollege merkte mir die Nachdenklichkeit an.
„An was denkst du?“
„An nichts, an ein unendliches, überall vorhandenes und alles umfassendes Nichts!“

Die sinnlosen Tage liefen an mir vorbei wie Bilder in einem Schnellzug-Fenster, bis ich eines Abends todmüde nach Hause kam und von meiner weinenden Mutter erfuhr, dass mein bester Freund, Sohn ihrer besten Freundin aus der Heimat, wegen eines Mädchens erstochen worden war.
Wir besuchten die Familie jedes Jahr, sie uns ein paarmal. Bei unseren Reisen blieb mein Vater immer zuhause. Er verließ Deutschland nicht so gern, er hatte eine gewisse Nervosität.
Mein bester Freund war ein Sportler, und er hatte immer gute Laune. Er war wirklich ein toller Kerl. Die Ferne war überhaupt kein Hindernis für unsere Freundschaft.
Ich stellte mir vor, wie ich seinen Mörder, der jetzt auf der Flucht war, fand und umbrachte. Ich war sehr zornig, und mein Zorn wuchs wegen meiner Machtlosigkeit.
Mein Hirn wiederholte ständig: ES GIBT IHN NICHT MEHR!

Am nächsten Tag musste ich wieder arbeiten, aber ich wollte nicht, dass jemand mir meine Traurigkeit, die so persönlich wie Genitalien sind, anmerkte, deswegen war es doppelt schwer für mich. Ich bin kein Exhibitionist. Ich versuchte, nicht an meinen armen Kumpel zu denken, ich schob ihn in die Peripherie meiner Gedanken und fühlte mich deswegen wie ein Verräter.
Ich putzte schon die Spülmaschine, als mein Kollege mir zwei Teller brachte, auf denen vor Kurzem Rumpsteaks gelegen hatten, und mir überzeugend erklärte, warum ich sie über Nacht nicht so lassen durfte. Also musste ich die bereits zum Glänzen gebrachte Maschine wieder benutzen und erneut putzen, aber bevor ich sie anmachte, sagte mein lieber Kollege:
„Ich hab dich verarscht, lass sie ruhig.“
Ich habe meine Prinzipien und wusch trotzdem ab.
Allerdings bei der zweiten Putzerei, während ich zur Hälfte in der geöffneten Maschine war, war ich so sauer, dass ich mir meinen Kopf gegen eine Kante stieß und er blutete. Wie immer ließ ich mein Problem unbemerkt bleiben und ging leise.

Während des Schlafens konnte ich meinem Kumpel nicht mehr weglaufen. Ich war in seiner Welt.
Ich versuchte ihn verzweifelt anzurufen, aber es gab keinen Summton, und als ich den Hörer auflegte und schon die Hoffnung auf die Verbindung völlig verloren hatte, fing das Telefon an zu leuchten. Ich nahm den Hörer ab und hörte ihn glücklich lachen, wie er es immer tat, und da wurde ich auch überglücklich, weil ich seine Stimme so vermisst hatte. Es war ein Wunder, ihn wieder hören zu können, und dafür war ich sehr dankbar, ich weiß nicht wem, einfach dankbar. Nachdem er sich satt gelacht hatte, fragte er mich mitfühlend:
„Wolltest du mich anrufen?“
„Ja, und wie.“
„Ich weiß, aber ich habe jetzt eine andere Nummer.“ Dann schwieg er.
„Wie lautet sie?“ Aber die Verbindung war zu Ende.

Ich wachte mit großen Schmerzen in der Brust auf, weil ich wusste, dass es nur ein Traum gewesen war und ich mit ihm nie wieder sprechen würde. Mit seinem Tod war auch ein Teil von mir gestorben, ein Teil, der in seinen Erinnerungen an mich existierte, ein Teil von mir, den nur er kannte.
Warum sind wir dem Tode geweiht? Warum?
Zu allem Überfluss stritten sich meine Eltern wieder – Gott sei Dank, dass ich gleich schuften durfte, weg von denen, einfach weg.
Mein Kopf war total blockiert, ich arbeitete maschinell, wie ein Roboter, ich verlor mich, ich war nirgends und nie.

Der Arbeitstag war vollendet, und bevor ich ging, fügte ich ziemlich viel Rattengift in die Suppeneimer, die für die morgige große Veranstaltung vorbereitet wurden.
Ich ging raus und stieg auf mein Fahrrad auf, um durch die frostige deutsche Nacht zu gleiten, dabei fand ich es sehr schade, dass die Bretzings meine Kreation nicht kosten durften.

2017

Giorgi Ghambashidze

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