Rosenkranz für die Zonengrenze

Das Haus meiner Kindheit steht im Strudengau in Oberösterreich. Ich wurde dort geboren und wuchs im Bräuhaus von St. Nikola an der Donau auf. Nachdem die kleine Dorfbrauerei „Seyr Bier“ im Zuge des Krieges schließen musste, betrieb mein Onkel Klaus eine „Bierniederlage“, das lustigste Wort meiner Kindheit, warum ich wahrscheinlich keine Biertrinkerin geworden bin. Ein Lager, von dem das Bier an die Wirtshäuser des unteren und mittleren Mühlviertels geliefert, ausgeführt wurde.
Die Bierführer hießen ursprünglich Bierknechte, später Ausführer. In die Wirtshäuser von St. Nikola, Grein und Sarmingstein, Grein-Bad Kreuzen, Naarn, St. Thomas am Blasenstein und St. Oswald, Dorf und Steinbruch Gloxwald, Dimbach und Waldhausen bis nach Weins-Isperdorf und Ybbsitz. Und sicher noch in viel mehr, als ich mich erinnere.
Später kamen Kracherl wie Libella aus Scheibbs und Schartner Bombe aus Scharten dazu.

Das Bier bezog Onkel Klaus aus der Linzer Brauerei, Linzer Lager. Er und seine beiden Bierführer Bertl und Toni mussten jeden Montag von St. Nikola nach Linz fahren, Bier holen. Jedesmal eine gefährliche Reise. Denn sie ging über die Enns-Brücke, wo sich Sowjets und Amerikaner direkt gegenüberstanden, frontal, der Schlagbaum in der Mitte der Brücke. Die Demarkationslinie.
Wahrscheinlich das erste Fremdwort meiner Kindheit, und nicht das einfachste auszusprechen, geschweige denn zu verstehen. Niederösterreich war sowjetische Zone, Oberösterreich amerikanische. Die heißeste Zonengrenze. An diesem Punkt in der Mitte der Brücke war der Krieg nicht zu Ende, sondern es begann der neue, der Kalte Krieg. Wahrscheinlich der neuralgischste aller Grenzen im zehnjährigen Nachkriegs-Österreich.

In West- und Südösterreich konnten die Kinder sicher nichts zu Aufregendes zwischen den zahmen Engländern und Franzosen erleben. An der Enns verschwanden viele Menschen, manche für lange Jahre in sowjetischen Lagern, manche für immer. Sibirien, niemand sprach das Wort laut aus, aber es wehte immer kalt klirrend durch die Familien an Donau und Enns. Onkel Klaus hatte vier Kinder, der Bierführer Toni sechs, der Bräuer-Bertl neun, im tief-katholischen Mühlviertel nichts Ungewöhnliches. Auch wir sind sieben Geschwister. Der Kriegsdienstverweigerer Jägerstätter war ein Mühlviertler Mesner aus St. Radegund.

Die Männer brachen im Morgengrauen auf, mit dem Saurer samt Anhänger. Wir hatten sie schon länger, unten vor der Bierniederlage, poltern gehört, wie sie den Lastwagen mit den leeren Fässern beluden. Die Omama, ihre Schwester, die Ida-Tante, und ihre jüngste Tochter, meine Tante Sefi, schüttelten die Kinder aus den Betten, damit wir für die Zeit der Reise für die Männer, die Mauner, beteten. Alle versammelten sich im saalartigen Esszimmer, der Stumbm, alle Mitglieder der Großfamilie und die Bediensteten: Die Köchin Annerl, der Knecht Sepp, die Magd Berta, die Kranzer Liesi, eine sonderliche Nachbarin, Einlieger und Hausgäste schlossen sich an. Die fromme Omama gab das Programm vor: Glaubensbekenntnis, Vaterunser, Gegrüßtseistdumaria und dann der Rosenkranz. Den hasste ich, denn er hörte nie auf, ein Kranz eben. Die noch frömmere Tante Sefi und ihre hochmusikalische Schwester, meine Tante Fritzi, stimmten die Lieder dazwischen an:
Meerstern wir dich grüßen, oh-ho Maarii-hia hilf! Ma-ari-hia, hielf uns allen, aus unserer tie-hiefsten Not.
Großer Gott, wir lo-hoben dich, prei-heisen deine Stärke.
Ein‘ große Burg ist unser Gott
(wahrscheinlich der Beitrag meiner ehemals protstantischen Mutter).

Lange sangen wir noch, weil wir die Worte nicht verstanden: Meerschwein, wir dich gießen. Großer Gott, wir lieben dich, Preiselbeeren deine Stärke. Ich war zu klein, um den Ernst der historischen Lage mitzukriegen. Aber ich liebte diese frühmorgendlichen Zusammenkünfte, empfand sie eigentlich als Fest, in Schlafanzügen und Bademänteln zu Hause, in der Stumbm, Gott preisen zu dürfen, als wäre er persönlich bei uns zu Gast gekommen. Stolz, in einer offenbar für die Erwachsenen sehr ernsten Angelegenheit beigezogen zu werden. Einmal waren wir, die Kinder, wichtig!
Den Grund dafür erfuhr ich erst viel später, als ich die Geschichte und den bäuerlichen Glauben verstehen lernte. Die unschuldigen Kinder waren die besseren Fürsprecher beim lieben Gott, bei Jesus, und vor allem bei der heiligen Jungfrau Maria, von der wir ja alle abstammten. Und wer weiß, bei welchen Heiligen, Seligen und Schutzengeln noch. Heerscharen. Wir hatten so viele wie die Inder Götter. Weil die Kindlein unschuldig, sauber, sind, dringen ihre Gebete, Anrufungen und Lieder direkt zu den angeflehten Beschützern vor.

Das war natürlich ein Widerspruch, weil wir sowohl von der unauslöschlichen Erbsünde als auch von unseren eigenen, täglichen Sünden wussten, für die wir zumindest ermahnt wurden. Sicher hatten alle, so wie ich, das Bild aus der Kinderbibel im Kopf. „Lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich.“ Jesus steht da, in seinem weißen, über die Schultern drapierten Laken und wallendem, blonden Haar, mit einem Flammenherz, die Arme weit ausgebreitet. Ich fühlte mich immer so, als zeigte er genau auf mich, und mir wurde ganz warm dabei, im Bauch und noch tiefer.

Nach Augenribbeln und Gähnen kamen die frühmorgendlichen Gebets- und Liederorgien. Vor allem den dramatischen Punkt, wenn Tante Sefi den Kindern anzeigte, auf den Fleckerlteppichen auf die Knie zu gehen und uns dann Kerzen in die Hand drückte. Der Höhepunkt stand bevor. Das Schicksalsdrama. Die Omama schritt zum Weihwasserkessel an der Wand neben der Kredenz, tauchte den am Palmsonntag geweihten Palmwedel ein, der kein echter Palmwedel war, sondern ein Zweig vom Buchsbaum an der Gartenecke – eine frühe Enttäuschung/Betrug in meiner Kindheit – und besprühte alle reichlich. Danach drückte sie jedem Anwesenden ein in der Osternacht geweihtes Öl in Kreuzform auf die Stirn. Vergeltsgott, Gottvergelts. Das Öl aus Jerusalem, stellte ich einmal fest, war auch nicht das, wie es hieß, sondern Bratlschmalz von der zuletzt geschlachteten Sau Rosina.

Die Kinder waren für den Rest des Tages entlassen, bis die Stunde der Rückfahrt der Mauna über die teuflische Enns-Brücke anbrach. Die gleiche, aber etwas abgekürzte Zeremonie wie am Morgen. Mit großem Aufatmen. Die Gefahr war fast gebannt. Auch die grimmigsten sowjetischen Grenzer waren den Fässern mit frischem Linzer Lagerbier nicht abgeneigt. Onkel Klaus erzählte später lustig darüber, obwohl er viele Ängste ausgestanden haben muss, wie sie schon freudig erwartet wurden, und ohne Kontrollen und ihre I-Karte zu zeigen, passierten. Wie die Pawlow‘schen Hunde standen sie da, die Zungen heraußen.

Die Bierführer luden an dem sonst so gefürchteten Schlagbaum den Wegzoll ab und fuhren unbeschadet nach Hause. Die Mauner wurden jubelnd begrüßt und von der Omama reichlich mit Weihwasser bespritzt. Die größeren Kinder durften über die Latten ein Fässchen herunterrollen, Bertl und Toni standen mit ihren bodenlangen Lederschürzen stolz lächelnd daneben. Helden. Der Dankes-Rosenkranz dauerte dann immer besonders lang, der Hintern tat schon weh, die rot-schwarzen Kreuzerlstiche auf der Tischdecke verschlangen sich ineinander und führten verrückte Tänze auf, die Augen fielen zu. Aber zur Belohnung gab es ein Noagerl Bier, der letzte Rest von Tropfen und Schaum, der Foam, von uns Kindern mit den Fingern aufgeleckt aus den Gläsern der Männer. Das ist himmlisch, fand ich, und begann die unbekannten Russen auf der Brücke heimlich zu verehren.

Unsere Gebete oder das Linzer Lagerbier? Ich weiß bis heute nicht, was geschichtswirksamer war.

Wien, 13.9.18

Veronika Seyr
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