Hair Remastered

Kleine Kinder mögen es nicht, wenn man ihnen die Haare oder die Finger- und Zehennägel schneidet. „Weil ihnen damit etwas weggenommen wird. Natürlich wollen sie das nicht“, hat eine Freundin von mir den Grund dafür erklärt. Vielleicht ist es eher so, dass die Kinderchen nicht stillhalten wollen, denke ich mir.

„Komm Luis, wir fahren zum Friseur“, sagt seine Mutter, die Fanny heißt. „Nein, ich will nicht!“, ruft der Siebenjährige. „Ich will so bleiben, wie ich bin.“ „Das geht nicht. Du bist ein Bub. Du kannst keine langen Haare haben“, sagt Fanny. „Auf dem alten Foto im Wohnzimmer hat auch ein Verwandter von uns lange Haare“, sagt Luis. „Ja, das war dein Ururgroßvater. Er war damals ungefähr so alt wie du jetzt. Das Foto ist hundert Jahre alt“, sagt Fanny. „Er hat auch einen Hut mit einer Feder auf, und neben ihm sitzt wahrscheinlich seine Mama“, sagt Luis. „Stimmt“, sagt Fanny. „Du Mama“, sagt Luis, „wir können doch auch so ein Foto von uns machen lassen, wenn ich erst richtig lange Haare habe.“ „Gar keine schlechte Idee, Luis“, sagt Fanny. „Das Foto können wir auch machen, wenn du kurze Haare hast.“ „Warum hat denn mein Ururopa als Kind lange Haare gehabt?“, fragt Luis. „Ja weißt du, früher war das öfter so“, sagt Fanny. „Jetzt wird das auch wieder so sein“, sagt Luis, „und zwar bei mir.“ „Also kein Friseur, Luis?“, fragt Fanny. „Nein, kein Friseur!“, bekräftigt er.

„Mit deinen langen Haaren kannst du dann in der Schule auf das Mädchen-WC gehen“, sagt Fanny. Sie will Luis dabei sticheln. „Das tu ich jetzt schon“, sagt er. „Was, nein, das kannst du doch nicht tun!“, sagt Fanny. „Das mach ich ja nur, wenn mir niemand zusieht“, sagt Luis. Was soll seine Mutter nun entgegnen? Sie überlegt. Es ist für einen Buben verboten, das Mädchen-WC zu betreten? Luis weiß das ja, und er macht es trotzdem. Aber irgendetwas muss sie ja jetzt sagen, also sagt sie: „Du weißt, dass das Ärger geben kann, nicht Luis? Wenn das eine Lehrerin oder die Direktorin bemerkt, können sie dich von der Schule verweisen.“ Luis sieht sie nur an.
Gut, jetzt habe ich mich geäußert, denkt Fanny, das war sozusagen das Pflichtprogramm. Mein Bub soll ja in größtmöglicher Freiheit aufwachsen, nicht nur er natürlich, auch Kay. Luis‘ Schwester Kay ist elf.

Man soll Kinder nicht in eine bestimmte Richtung drängen. Man muss ihnen viele verschiedene Möglichkeiten anbieten, und sie entscheiden selbst, welchen Weg sie einschlagen wollen. Außer es geht bei den Kindern grandios schief. Wenn sie Crash-Kids werden, muss man eingreifen, aber sonst nicht. Jedes Kind hat seine Anlagen und seine Vorlieben. Sollen sie selbst herausfinden, wie weit sie damit kommen, vorerst einmal. Von mir aus kann Luis ja gerne lange Haare tragen. Es würde im bestimmt gut stehen. Auch sein Vater hatte lange Haare, als wir uns kennenlernten. Nur steht Luis dann unter genauerer Beobachtung und muss sich womöglich öfter behaupten. Mit dem Friseur wollte ich es ihm ja nur leichtmachen.
Luis hat ja schon als Vierjähriger den kleinen Mädchen die Puppenwagen weggenommen und durch die Gegend geschoben. Manche Nachbarn haben sich darüber lustig gemacht. Die, welche am hämischsten und lautesten lachten, hatten die unglücklichsten Kinder. Luis dagegen war total happy, wenn er einen Puppenwagen schob.

Johnny spaziert alleine am Ostufer des Wörthersees. Er ist auf Tour, er geht weite Strecken. Heute ist so ein Tag. Er ist mit Fanny verheiratet und der Vater von Kay und Luis. Johnny passiert den kleinen Spielplatz, der zur Villa Lido, einem Restaurant, gehört. Nicht ein einziges Kind ist dort.

Keine Kinder

Keine Kinder

Und das heute, am frühen Nachmittag eines Sonntags. Man kann aber als Entschuldigung hernehmen, dass noch Schnee liegt.

Da sieht Johnny einen kleinen Buben auf einem Laufrad, dessen Vorderreifen im Schlamm steckt. Johnny geht hin, hebt den Vorderreifen auf, und der Bub läuft los. Er heißt Luca, so ruft ihn jetzt seine Mutter.
Kleine Kinder beobachten anders als Erwachsene, denkt Johnny. Sie schaffen es, sehr gut abzuschätzen, wer ihnen wohlgesinnt ist. Erwachsene schätzen Johnny wegen seines meist – ungewollt – düsteren Gesichtsausdrucks oft als bedrohlich ein. Kleine Kinder dagegen betrachten ihn länger, verdrehen dabei den Kopf, sehen ihn also aus unterschiedlichen Blickwinkeln, und dabei kommen sie praktisch immer zu dem Schluss: „Dieser Mann ist nett. Er mag mich.“ Manche Kinder sagen dann freche Sachen zu ihm. Johnny lässt ihnen den Spaß. Kinder sollen sich wohlfühlen, ist seine Ansicht, später wird es hart genug für sie werden. Johnny bleibt diesen Kindern so im Gedächtnis. Er wird ein positiver Teil ihrer Kindheitserinnerungen sein, wenn sie erst groß sind.

Man muss die Kinder lassen, wie sie wollen. Sie machen schon das Richtige. Und man muss sich für sie interessieren. „Zeig mir, was euch gefällt!“, muss man sagen. Die Kinder werden dann erklären, wobei sie sehr stark in Details gehen werden. Und sie werden sich freuen, dass jemand über ihre Interessen Bescheid wissen will. Will man Kinder verderben, muss man sie gängeln und einschnüren, Schule und Erfolg und „Denkt an die Zukunft!“. Wer ständig an die Zukunft denken soll, ist nicht mehr in der Gegenwart daheim, ist es nicht so? Das ist eine Erziehung über Druck und Zwang und wirkt garantiert bei Kindern als Kreativitätskiller. Als Künstler tätig zu sein, wird dann nicht mehr möglich sein.
Ich habe noch etliche Kilometer vor mir, überlegt Johnny. Ich tue das ja freiwillig. Würde mich jemand dazu anweisen, wäre die lange Geherei wahrscheinlich eine Qual. So ist sie ein Spaß für mich.
Morgen kommt Kays neue Freundin zu uns. Sie wird in Kays Zimmer schlafen. Sie besuchen gemeinsam die 1-a-Klasse des Ingeborg-Bachmann-Gymnasiums. Sie soll so ein superfreies Mädchen sein. Die Mädchen in der Klasse bewundern sie. Sie singt und spielt Klavier, später möchte sie Frontfrau in einer Band sein. Außerdem ist sie eine tolle Volleyballspielerin. Ihr Name ist Andi. Mal sehen, wie es werden wird.

Als Johnny am Montag von der Arbeit nachhause kommt, nimmt ihn seine Frau gleich beiseite. „Die Mädchen sind in Kays Zimmer. Alles ist in Ordnung“, sagt sie. „Du Schatz, hast du nicht auch gedacht, dass die Andi Andrea heißt?“ „Ja, eigentlich schon“, erwidert Johnny. „Sie heißt aber Lisa“, fährt Fanny fort. „Ihr ist der Name aber zu kleinmädchenhaft, deshalb will sie Andi gerufen werden.“  „Daran ist ja nichts auszusetzen, findest du nicht auch, Liebling?“, fragt Johnny. „Naja, sie hat auch raspelkurze Haare“, sagt Fanny. „Sie möchte halt wahrscheinlich ein Bub sein“, antwortet Johnny, „das ist doch nicht weiter schlimm, finde ich.“ „Die Andi schminkt ich aber, sehr gut und auffällig“, sagt Fanny. „Ich werde nicht schlau aus dem Mädchen.“
Leise singt sie die erste Strophe des Songs Aquarius aus dem Musical Hair: “When the moon is in the Seventh House and Jupiter aligns with Mars, then peace will guide the planets and love will steer the stars.”

Es ist schön hier, Kay ist ein liebes Mädchen, denkt Andi, als sie im für sie in Kays Zimmer gestellten Gästebett liegt. Ihr kleiner Bruder ist recht lustig. Ihre Mama wirkt sehr bemüht. Sie sollte sich mehr stylen, dann würde sie noch besser aussehen.
Beim Abendessen saß der Vater am Kopfende des Tisches und fragte mich doch glatt nach meinem Berufswunsch. Ich sagte: „Pilotin“, worauf er fragte: „Warum nicht Stewardess?“ „Weil Pilotin besser ist“, sagte ich da.
Das war so etwas von retro, wie 1972.

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: es menschelt | Inventarnummer: 19036