Das Gehirn des Dmitrij Schostakowitsch

aus den „Russischen Kuriositäten“ von Veronika Seyr

In den Morgenstunden des 22. Juni 1941 überschritt die deutsche Wehrmacht mit der „Operation Barbarossa“ die sowjetische Grenze – für die Menschen der Sowjetunion der Beginn des Großen Vaterländischen Krieges. Den damals schon weltberühmten Komponisten Dmitri Schostakowitsch erreichte diese Nachricht als Vorsitzenden der Prüfungskommission in der Klavierklasse des Leningrader Konservatoriums. Ohne Unterbrechung wurde der Wettbewerb weitergeführt, obwohl die ganze Stadt sofort massive Verteidigungsmaßnahmen traf. Später nahmen auch die Professoren und Studenten am Barrikadenbau teil. Anfang August erschienen die ersten deutschen Flugzeuge über der Stadt, es begannen die Bombardierungen und der Artilleriebeschuss. Von da an wurde die Stadt 900 Tage und Nächte bis Februar 1944 eingeschlossen und bombardiert, in der Leningrader Blockade starb fast die Hälfte der Bevölkerung, eineinhalb Millionen Menschen, sie wurden von der Artillerie getötet, verbrannten, verhungerten, erfroren oder fielen Seuchen zum Opfer.

Die allgemeine Mobilmachung wurde angeordnet. Jungen von siebzehn bis zu Männern von sechzig wurden einberufen. Schostakowitsch hatte sich zweimal freiwillig gemeldet, aber er wurde nicht eingezogen. Als die deutsche Luftwaffe begann, Brandbomben auf die Stadt zu abzuwerfen, organisierte das Konservatorium eine Art von freiwilliger Feuerwehr, die während der Angriffe auf den Dächern ausharren musste. Ein Augenzeuge berichtet, wie man Schostakowitsch einen Feuerwehrhelm aufgesetzt und ihm gesagt hat, er soll auf das Dach steigen und sich fotografieren lassen. Die ganze Welt kennt dieses Foto. Es sollte aufrütteln, Leningrad zu Hilfe zu kommen. Der international bekannte Komponist wurde als Sympathieträger für die Sowjetunion eingesetzt. Schostakowitsch war keine zehn Minuten auf dem Dach, trotzdem stand er ab jetzt im Mittelpunkt der sowjetischen Propaganda, die Stalin persönlich orchestrierte und dirigierte.

Am 19. Juli 1941, einen Monat nach dem Angriff, begann er mit der Komposition einer neuen Symphonie. „Meine Symphonie Nr. 7 widme ich unserem Kampf gegen den Faschismus, dem Heldentum unseres sowjetischen Volkes, unserem Sieg über den Feind und meiner Heimatstadt Leningrad“, schrieb er auf die Titelseite. Er beging gerade seinen 35. Geburtstag, indem er nicht feierte, sondern fast 24 Stunden ohne Pause an einer neuen Komposition schrieb.
Die Musiksprache dieses Werkes ist stark vereinfacht, was nicht verwunderlich ist, da die Symphonie breiten Zuhörerkreisen die Idee des Kampfes und des Sieges über den Feind vermitteln sollte.

Die Gestalt des Künstlers, der vom Kampf inspiriert, mitten in der Verteidigung eine Symphonie komponiert, war ein großartiges Werkzeug der Kriegsanstrengungen. Außerdem entsprach das nationale Genie ganz und gar der russischen Psyche. Bald schon rankten sich viele Legenden um die Entstehung der 7. Symphonie.
Die abenteuerlichste entstammt aber nicht der sowjetischen Propaganda oder dem russischen Volksmythos, sondern den Forschungen des chinesischen Neurologen Wang Dajue. Er will wissen, dass Schostakowitsch nicht als Feuerwehrmann auf dem Dach verletzt wurde. Als Trümmeraufräumer auf dem Newski-Prospekt soll ihn ein Schrapnell in die Stirn getroffen haben. Die kaum sichtbare Wunde wurde von ihm selbst, der Familie und Freunden als so unbedeutend eingeschätzt, dass sie nicht mehr behandelt wurde als durch einen Kopfverband. Der Splitter blieb aber in der linken Gehirnhälfte, im Cornu inferius des linken Gehirnventrikels, stecken.

Viel später, erst nach dem Krieg, begann er über Kopfschmerzen zu klagen und ließ sich von Ärzten untersuchen. Dr. Wang Dajue pflegte in den 50er-Jahren engen Kontakt mit sowjetischen Neurologen und konnte den Metallsplitter in Schostakowitschs Gehirn mit Röntgenaufnahmen lokalisieren. Wenn er den Kopf nach rechts drehte und leicht abwärts wandte, strömte ihm eine Fülle von Melodien in den Kopf, die er aufschrieb und in seine Kompositionen einwob. Der Fremdkörper habe sein Gehirn stimuliert und mit Gedankenblitzen überflutet, behauptet der Neurologe. Nichts davon ist gesichert außer seine späteren Kopfschmerzen.

Wenn etwas an dieser Legende stimmen sollte, wäre es die unerträglichste Grausamkeit, dass ausgerechnet ein deutscher Bombensplitter verantwortlich sein soll für die besten Stücke der Weltmusikliteratur.

Es bedarf aber gar nicht der Legende des chinesischen Neurologen, um sich von Schostakowitschs ungewöhnlicher Komponierweise zu überzeugen. Es gibt viele Zeugnisse dafür, die meisten und besten vom Komponisten selbst. Es war 1927, also vierzehn Jahre vor der 7. Symphonie, als er beim Verfassen der Oper Die Nase ins Stocken geriet. Er hatte den ersten Akt unglaublich rasch geschrieben, in einem Monat im Sommer. Nach einer kleinen Pause machte er sich an den zweiten Akt, er schrieb ihn in drei Wochen nieder. Der dritte Akt machte ihm jedoch Schwierigkeiten. Gleichzeitig stieg der Druck, denn das Leningrader Maly-Theater hatte beschlossen, das Werk in das Programm der nächsten Spielzeit aufzunehmen.

In dieser Zeit hatte Mitja einen eigenartigen Traum.
„Ihm träumte, dass der Termin der Premiere seiner Oper Die Nase bereits festgelegt ist und er zur Generalprobe gehen muss. Aber es scheint sich alles gegen ihn verschworen haben. Mitja, der immer genau und pünktlich ist, verspätet sich aus unerklärlichen Gründen. Ob in der Straßenbahn oder im Bus, überall wird er aufgehalten. Endlich gelangt er ins Theater, von Weitem hört er schon die Vorwürfe des Dirigenten Samuil Samossud. Eiligst durchquert er das Vestibül und stürzt in den Saal. Das Orchester probt gerade den dritten Akt. Schostakowitsch setzt sich ganz nach hinten und hört zu, klar und deutlich hört er die Musik des dritten Akts, sieht und hört den Chor und die Sänger … Die Oper endet, der Vorhang fällt, Beifall. Das Publikum ruft nach dem Komponisten … Da wacht Schostakowitsch auf, ganz außer sich. Er läuft ins Nebenzimmer, erzählt den Hausgenossen aufgeregt von seinem Traum und der darin gehörten Musik. Er setzt sich hin und schreibt sie auf. Innerhalb von drei Wochen hat er den dritten Akt fertig komponiert und ihn zu Samossud gebracht.“ (M. Dolgopolow, In: Izvestija 13. 9. 1975, zit. nach Krysztof Meyer. Schostakowitsch. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, S 117f )

Zu den interessantesten Teilen der Oper gehört das Zwischenspiel zum zweiten Bild. Es ist das erste Musikstück, das ausschließlich für Perkussionsinstrumente geschrieben wurde. Das war damals eine absolute Neuheit. Edgar Vareses Ionisation wurde erst drei Jahres später geschrieben. Angeblich wussten die beiden Komponisten nichts voneinander. Ähnlich überraschend, dass einige Stellen im ersten und zweiten Akt verblüffend an Arnold Schönberg und Anton von Webern erinnern, obwohl Schostakowitsch sie nicht gekannt und nie deren Partituren gesehen hat.

Einen Monat nach dem Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion begann Schostakowitsch mit der Arbeit an der 7. Symphonie, der Leningrader. Beendet hat er sie am 27. Dezember 1941, nachdem er im Oktober mit der Familie nach Moskau, später nach Kuibyschew evakuiert worden war. Fünf Sätze in fünf Monaten, und zu welcher Zeit!
Am 17. September 1941 notiert Schostakowitschs Jungendfreund Walerian Bogdanow-Beresowski in seinem Tagebuch:
„Auf seine Einladung hin fuhren wir zu ihm hinaus in die Skorokodow-Straße.

Die enormen Partiturseiten, die auf dem Schreibtisch ausgebreitet lagen, machten den Umfang der Besetzung deutlich. Schostakowitsch spielte uns die neue Symphonie nervös und angestrengt vor. Er bemühte sich ersichtlich, alle Farbnuancen des Orchesters wiederzugeben. Der Eindruck war kolossal. Es ist ein erstaunliches Spiegelbild der gegenwärtigen Zeit, ein Widerschein der äußeren Ereignisse, der in eine sehr komplizierte musikalische Form umgesetzt wurde, ohne in irgendeiner Weise die Gattung zu verflachen. Diese Symphonie ist sowohl in ihrem Inhalt als auch in ihrer Form kühn und unerschrocken, vor allem im ersten Satz mit seiner langen Entwicklung nach der Exposition. (…)
Plötzlich drang von der Straße das gellende Heulen der Sirenen zu uns herein. Der Komponist kümmerte sich nach Beendigung des ersten Satzes darum, dass sich seine Frau und die beiden Kinder in den Schutzraum begaben, er selbst jedoch wollte das Spiel nicht unterbrechen. Begleitet von den dumpfen Explosionen der Flugabwehrkanonen, stellte er uns den zweiten Satz vor und zeigte Skizzen zum dritten Satz, schließlich spielte er alles noch einmal.
Als wir aus dem Petrograder Stadtteil zurückkehrten, sahen wir von der Straßenbahn aus den Feuerschein – eine Spur des zerstörerischen Werks dieser Barbaren der Lüfte. Unter dem Eindruck der Musik und des edlen Pathos der Symphonie verspürten wir die Sinnlosigkeit dessen, was um uns geschah, besonders eindringlich.“

Die Siebente wurde am 5. März 1942 in Kuibyschew vom ebenfalls dorthin evakuierten Orchester des Bolschoi Theaters unter Samuil Samossud uraufgeführt.
Am 22. März 1942 kam das Orchester in Moskau zusammen. Inzwischen hatten die deutschen Truppen die Ukraine, Weißrussland, die Moldawische Republik und das Baltikum in ihre Gewalt gebracht. Immer häufiger flogen sie Angriffe auf Moskau. Dennoch war das Konzert ein großes Ereignis, und nur mit Mühe fanden alle Besucher im Saal Platz. Ein Musikkritiker erinnert sich an die Moskauer Erstaufführung: „Vor Beginn des 3. Satzes trat der Leiter der Flugabwehr neben den Dirigenten. Er hob die Hand und meldete in ruhigem Ton, um keine Panik hervorzurufen, das Einsetzen des Fliegeralarms. Trotzdem verließ niemand seinen Platz, die Symphonie wurde zu Ende gespielt. Ihr mächtiges Finale, das den Sieg über den Feind ankündigt, schuf eine unvergessliche, mitreißende Atmosphäre. Die stürmischen Ovationen gingen über in eine leidenschaftliche Manifestation patriotischer Gefühle und in Begeisterung über das Talent unseres großen Zeitgenossen.“

Die Erstaufführung im belagerten Leningrad fand am 9. August 1942 unter der Leitung von Karl Eliasberg in der Philharmonie statt. Die Musiker wurden zum Teil von der Front geholt, andere aus ihren Kellerlöchern im belagerten Leningrad. Sie waren ausgehungert, ausgemergelt, in Uniformen oder Lumpen. Aber sie spielten die „Leningrader“. Auf Befehl des Kommandanten der Leningrader Front setzte man eine umfangreiche Militäroperation in Gang: Am Tag des Konzerts wurden die Deutschen mit einem wahren Sperrfeuer belegt; 3000 großkalibrige Granaten gingen auf sie nieder.

Danach zog die „Leningrader“ in einem unvergleichlichen Siegeszug um die ganze Welt, und ihr Erfolg hält bis heute an.

Dabei haben sowjetische Komponisten während der Leningrader Blockade insgesamt 192 Werke verfasst, darunter neun Symphonien, acht Opern, sechzehn Kantaten und fünf Ballette. Im Gespräch und im Gedächtnis blieb aber nur die Leningrader Symphonie, die Siebente von Schostakowitsch.

22.7.16

Veronika Seyr
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