Gottesfürchtig

Ein Hörstück

Der Mann steht neben den Zuggleisen. Die ländliche Gegend ist von Nebel verhüllt. Es ist Nacht. Der Mann trägt einen Anorak. Die fast schon kahlen Bäume bieten kaum noch Schutz gegen den Regen.

 

Tracks

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Mann:
Gott, wo bist du? Ich rufe dich.

Gott:
Ich bin da, Mensch. Ich bin bei dir. Sprich, was ist dein Begehr?

Mann:
So oft habe ich an dich gedacht, Gott. So oft habe ich nach dir verlangt. Warum kommst du erst jetzt?

Gott:
Ich habe viel zu tun, war anderwärtig beschäftigt. Also nun, Mensch, wo du mich am notwendigsten hast, steh ich dir bei. Wie kann ich dir helfen?

Mann:
Ich habe zu dir gebetet, Gott. Weißt du denn nicht, wie es um mich bestellt ist?

Gott:
Doch, Mensch, du bist für mich ein offenes Buch, in dem ich lese. Aber ich will aus deinem Mund hören, was dich plagt.

Mann:
Ich seh keinen Sinn mehr in meinem diesseitigen Leben, Gott. Ich bin entschlossen, es zu beenden. Jetzt möchte ich dich fragen:  Was geschieht mit mir danach?

Gott:
Das werde ich dir nicht sagen, Mensch. Du wirst es erfahren, wenn es so weit ist. In meinen Akten steht, dass du dich stets hast bemüht. Das soll dir zum Wohle gereichen. Nur so viel verrate ich dir. Du hast noch viele Jahre auf Erden zu verweilen.

Mann:
Aber wozu denn, Gott? Ich habe keine Arbeit, meine Frau geht fremd, meine Kinder wollen nichts von mir wissen. Ich habe meine Schuldigkeit getan. Was gibt es denn, was ich noch vollbringen könnte?

Gott:
Lass Hilfe angedeihen den Bedürftigen, Mensch. Auch wenn sie nicht danken werden,  in deiner Lebensstatistik wird es positiv vermerkt.

Mensch:
Es mangelt mir an Kraft, Gott. Ich lebe in einer winzigen Kammer. Ich esse im Stehen. Meine      Träume handeln von Verderben und Tod. Die Hoffnungslosigkeit hat sich in mir breitgemacht. Und ich habe Angst vor jedem neuen Tag.

Gott:
Nun ja, Mensch, du hast doch etwas zu sagen, schreibe einen Roman.

Mann:
Danke für den Rat, Gott, doch auch dies hat keinen Zweck. Sollte ich die Worte finden, wer würde mein Buch denn lesen? Das schreibe ich doch für den Keller.

Gott:
Da fällt mir etwas anderes ein, Mensch. Vielleicht ist es dir gar nicht bewusst, doch dein Blick war alle Zeiten auf das Wesentliche gerichtet. Fotografiere. Schenke deinen Mitmenschen Bilder.

Mensch:
Fotos gibt es doch zuhauf, Gott. Heute hat doch jeder ein Smartphone und damit Internet. Wer wird denn da noch auf das, was mein Auge sieht, warten?

Von der Ferne hört man das Rauschen eines Zuges.

Gott:
Du bist ein schwieriges Geschöpf, Mensch. Was habe ich mir wohl gedacht, als ich dich erschuf? Du bist doch früher gerne in Ausstellungen gegangen. Wie sieht es denn mit Malen aus?

Mensch:
Ich kann den Pinsel nicht nach meinen Vorstellungen bewegen, Gott. Auch das ist nichts für mich. Nun ist es an der Zeit. Es naht der Endpunkt meiner Reise. Ich muss mich fertigmachen, Gott.

Der Zug kommt näher.

Gott:
So schwer es mir fällt, ich verstehe dich. Eines will ich dir noch sagen, Mensch, spitze deine Ohren: Es gibt mich gar nicht. Ich bin nur die Stimme in deinem Kopf.

Der Zug rauscht vorbei.

Stille.

Schritte.

Ein Auto wird gestartet.

Johannes Tosin
(Text und Bild)

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 19002