Sieben Leben hat die Katze - Teil I

„Sieben Leben hat die Katze.

Wenn es wahr ist, dann gibt es noch ein Leben für mich. Das ist gut zu wissen, denn gerade jetzt fühle ich mich sterben. Als hilflose Zeugin betrachte ich von außen meinen mühsamen Tod. Eine Kraft, die ich nicht mehr verstehe, ist mir verloren gegangen. Ich laufe nicht, ich springe nicht, ich lasse mich nicht treiben. Zäh, langsam und zuverlässig strebe ich wie ein Wurm Stück für Stück meinem Tod zu“, schrieb ich in mein Heft.

„Was für ein Unsinn!“ Die alte Frau, die ich im Spiegel sah, schüttelte den Kopf und lachte ärgerlich. „Du bist nur verletzt wegen …“ „Sei still!“, unterbrach ich sie. “Erinnerung ist Wissen, nur Wissen öffnet die Tür zum Vergessen. Ich werde mich erinnern, damit mein Geist zu mir zurückkehrt. Ich werde die Geschichte von Anna erzählen, die in einen unbegriffenen, jähen Tod stürzte. Es ist die Geschichte meines vergangenen Lebens. Ich war jung damals, etwa 24 Jahre alt und damals hieß ich Anna.“

I

Die dunklen Hosen und der dunkle Pullover schlotterten um Annas Körper. Das zottelige Haar verdeckte beinahe ihr Gesicht. Anna hatte sich unsichtbar gemacht, um nicht belästigt zu werden.
Die Fahrt sollte zwei Tage dauern.
Im Zug drängten sich die Menschen. In den schmalen Gängen saßen junge Leute auf Koffern und Rucksäcken, die Abteile waren überfüllt.

Kurz entschlossen kletterte Anna ins Gepäcksnetz und legte sich auf ihre Reisetasche. Ihr Körper entspannte sich in der Melodie der Worte, die an ihr vorüberglitten.
Von oben schaute sie in das Gesicht eines Mannes, braune Altersflecken auf der Haut, das Gesicht zu einem Lächeln verzerrt; das Fleisch war aus diesem Gesicht gewichen, Kanten von Knochen und Knorpeln zeichneten sich scharf auf der welken Haut ab. Ihre Blicke trafen sich und für einen Moment erschraken beide. Er wandte sich ab und lächelte weiter, Unruhe in den tief liegenden Augen, und Anna vergaß ihn.
Das Stampfen und Rattern des Zuges gab dem Stimmengewirr einen Rhythmus. Rasch fiel sie in Schlaf.
Worte waren für Anna schon immer ungenau und schwierig gewesen. Erleichtert und froh lag sie, nun wach, inmitten der vielen Menschen schweigend in ihrem Gepäcknetz und achtete nicht auf den Sinn der Sätze.

Als sie den kleinen Bahnhof eines Dorfes in der Nähe von Basel verließ und sich nach dem Weg erkundigen musste, fiel es ihr schwer zu sprechen. Die ersten Laute misslangen, dann kehrte sie in die Welt der Worte zurück.
Da stand sie vor einem gedrungenen Mann mit rundem Kopf und flinken gewitzten Augen, die sie enttäuscht von Kopf bis Fuß musterten. Anna wurde sich der Wirkung ihrer merkwürdigen Kleider wieder bewusst.
„Du bist also die neue Kellnerin?“, fragte er zweifelnd. Anna gab ihm die Hand. Dann seiner Frau, einer Italienerin, etwa 50, rothaarig, scharf geschnittenes Gesicht, schmaler Körper im engen Kleid.

In der Gaststube saßen etwa 40 Männer mit untersetzten Körpern, schwieligen Händen und breiten Gesichtern aus der Stahlfabrik des Dorfes und tranken Schnaps und Bier. Die Frau brachte ein Glas Wein. Der Wirt knetete unaufhörlich seine Hände, als er ihre Arbeit erklärte. Arbeitszeit von 7 Uhr morgens bis etwa 2 Uhr nachts, keine Mittagspause, kein freier Tag, aber Fixum plus Umsatzbeteiligung und Trinkgelder. Er nahm den lauernden Blick nicht von ihr, während er sprach. Anna blieb gleichmütig. Noch immer seine Hände knetend leckte er sich die Lippen, neigte seinen Kopf und sah sie schräg an:
„Die Männer bringen ihre Frauen nur an Sonn- und Feiertagen zum Mittagessen mit. Die übrige Zeit bist du allein im Wirtshaus, meine Frau zählt nicht. Lass dich einladen, aber trink nicht. Schütt die Getränke weg oder bring sie meiner Frau. Ist gut fürs Geschäft. Eine gute Kellnerin hält die Männer bei Laune. Mach dich hübsch und sei freundlich, die brauchen das.“

Anna sah sich um: hölzerne, große Tische und Sesseln, Plastiktischtücher, eine verspiegelte Bar, davor die Frau. Die Männer sprachen laut. Es gelang ihr nicht, sie zu verstehen.

II

Diese Zeit lag nun schon bald zehn Wochen zurück. Anna sah von ihrem Glas auf. Die Bilder waren so lebhaft, als wäre der Leim, der die Zeit zusammenhält, zerbröckelt. Verwundert sah sie, wie das Meer schäumte. Der Wind rüttelte an ihr und erzeugte fiebrige Unruhe. Der Mann am Nebentisch sah sie nicht an. Anna spürte seine Nähe, er tastete sie ab.
Carlo kam und brachte Seeteufel mit Tomaten und Kartoffeln. Anna kaute langsam, genießerisch. Sie liebte den Geschmack von Carlos‘ Essen. Sie nippte vorsichtig am „Wasser des Lebens“, einem hausgebrannten Traubenschnaps, von dem sie einmal schon zu viel getrunken hatte.

Der Mann am Nebentisch lachte und trank ihr zu. „Your drink is hard stuff. Has about eighty percent.” Er kam zu ihr an den Tisch und lächelte. „I am Giorgio.“ Nach kurzem Zögern erwiderte Anna sein Lächeln. „I am Anna.” Giorgio verneigte sich leicht und setzte sich. „Where do you come from?“ Anna hasste diese Fragen, die die Männer hier jeder einigermaßen hübschen Touristin stellten. „I come from Europe and you?” „I am born here.” Er deutete mit der Hand in die Landschaft. „So I come from good old Europe, too. You are on holidays?” Anna schüttelte ärgerlich den Kopf. Es reichte jetzt. „It is late. I must leave. See you.” Giorgio spannte sich einen kurzen Augenblick, dann nickte er ihr zu. Anna bezahlte bei Carlo in der Küche.

Langsam ging sie den Berg hinauf zu ihrem Häuschen. Die roten Felsen glühten in der Dämmerung, die Zikaden in den Olivenhainen gaben lauthals ein ohrenbetäubendes Konzert, wilder Thymian und Oleanderbüsche dufteten. Annas Blick haftete auf dem steinigen Boden. Geführt vom wiegenden Gleichmaß ihrer Schritte glitt sie wieder aus ihrer Gegenwart.

I

Um etwa zwölf Uhr nachts waren nur noch acht Männer im Lokal. Betäubt saß Anna auf einem Stuhl und achtete darauf, ob einer von ihnen ein weiteres Bier oder einen weiteren Schnaps haben wollte. Hin und wieder leerte sie unauffällig Aschenbecher, wusch und trocknete Gläser. Die Wirtin stand gelangweilt hinter der Theke und starrte ins Leere.
Ein Mann, der seine Rechnung schon bezahlt hatte, blieb an der Tür gegenüber der Theke stehen, wandte sich zur Seite, ließ sich gegen die Lehne der Holzbank fallen und stützte sich dort ab, um den Männern noch etwas zu erzählen. Anna sah von ihrem Platz aus seine Arme und seinen Kopf. Er war betrunken. Plötzlich stürzte die Wirtin schreiend mit einem Schirm bewaffnet hinter der Theke hervor und ging auf den Mann los. „Du Sau du, du Schwein!“

Anna, die sofort dort war, sah, dass der Hosenschlitz des Mannes offen stand, sein Schwanz hing heraus, breitbeinig lehnte er über dem Schirmständer. Er hatte offenbar gepinkelt, während er den anderen Männern seine Geschichte erzählt hatte. Die Wirtin hieb gezielt mit dem Schirm nach seinem Schwanz und schimpfte lauthals. Der Mann lachte und ergriff die Flucht.
Um ihr Schmunzeln zu verbergen, empörten sich die Männer lauthals über ihren Arbeitskollegen und beruhigten die Wirtin. Dann gingen auch sie.
Anna spülte die letzten Gläser und Aschenbecher, putzte den Schirmständer, wischte die Tische und den Boden, zählte mit dem Wirt in der Küche das Geld, erhielt ihren Tagesverdienst, stieg die steile Treppe hinauf in ihre kleine, schäbige Kammer mit dem Bett, dem Tisch, dem Kasten, dem kleinen Fenster und dem Waschbecken.

Achtlos verstreute sie ihre Kleider im Raum, stellte sich ans Waschbecken und wusch sich, während sie – wie jede Nacht – durch das Fenster den steilen dunklen Hang und den Fleck Himmel betrachtete, der voller Sterne war.
Ein Punkt glomm rot auf. Plötzlich wachsam geworden starrte Anna hin und erkannte in dem Schatten am Hang die Gestalt des Wirts, der offenbar durch das erleuchtete Fenster beobachtete, wie sie sich wusch.
Anna fühlte sich unbestimmt bedroht, nahm ein Kleid aus dem Schrank und hängte es vor das Fenster.

II

Die Farben der Landschaft verloschen, die Sonne war fort.
Am Wegrand stand ein hagerer alter Mann in tiefschwarzen Kleidern. Er starrte Anna an.
Anna ging schneller. Eine weiße Ziege kam auf sie zu, blickte sie aufmerksam an und leckte ihre Hand. Ein Pfiff rief die Ziege zurück. Anna folgte dem Tier bis zu einer kleinen, verfallenen Kirche.
Der Blick des Mannes dort streifte sie, dann beugte er sich hinunter zu seiner Ziege, scherzte mit ihr, wiegte sich lachend, hielt sein Ohr an ihr Maul und flüsterte ihr etwas zu. Anna war nicht sicher, ob er verrückt war.
Noch immer vorn übergebeugt sah er kurz zu Anna auf. „Sie hat mich nicht verstanden“, meinte er ernst. Dann lächelte er schalkhaft in ihr überraschtes Gesicht. „Komm mit. Ich zeige dir, wo ich wohne. Es ist nicht weit.“ Er erhob sich rasch. Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich um und ging. Die kleine Ziege trippelte hinter ihm her wie ein Hündchen. Und Anna folgte den beiden.

Nach einem beschwerlichen Fußmarsch erreichten sie ein Haus, das von einem hohen Bretterzaun umgeben war. Anna hatte auf der Insel noch nie ein versperrtes Haus gesehen und wunderte sich, als der Mann das Hoftor mit einem großen Schlüssel öffnete.
Ein hochbeiniger schwarzer Hund zeigte seine Zähne und knurrte feindselig. Der Mann nahm Annas Arm und tätschelte das Tier. Der Hund entspannte sich, ab nun beachtete er Anna nicht mehr.
„Ich heiße Sordo“, sagte der Mann ganz nahe an ihrem Gesicht. Er ließ sie los. „Die Menschen hier glauben, ich bin verrückt, ich rede nicht viel mit ihnen. Sie haben hier rundum Bäume gefällt, um Brennholz zu machen. Ich habe Stecklinge gekauft und sie angepflanzt, damit es bald wieder Bäume gibt.“ Sein Blick irrte ab, er wurde wieder still. Nach einigen Minuten kehrte seine Aufmerksamkeit zu ihr zurück. Sie schaute ihn unsicher an. Da nahm er sie an der Hand und führte sie in sein Haus.

Sorgfältig zündete er Kerzen und Petroleumlampen an. Ein großer Raum, alles aus Stein und Holz grob zusammengefügt. Sie setzte sich auf einen der riesigen Holzsessel, die rings um einen klobigen, hölzernen Tisch standen. Sie betastete den Tisch und war sicher, dass er ihn gebaut hatte.
Sordo bereitete in der Ecke des Raumes auf einem Gaskocher Tee zu. Anna mochte seine Bewegungen. Behutsam, fast zärtlich berührte er die Dinge. Er brachte den Tee in großen Schalen und setzte sich ihr gegenüber. Anna fühlte sich in seinem Schweigen geborgen und genoss die Bedächtigkeit, mit der er sie betrachtete. Die kleine Ziege zu seinen Füßen schien zu schlafen. Als Sordos Hand sanft den Kopf der Ziege berührte, zuckte Anna zusammen.

Sordo sah sie lauernd an. Sein Blick war hart und direkt. Die warme Bedächtigkeit war verschwunden. Sie stand auf, durchquerte den Raum, sah aus dem Fenster.
Die Nacht war schwarz. Der Wind fauchte. „Ich möchte gehen.“ Ihre Stimme war rau. Sie räusperte sich. Sordo verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. Wortlos führte er sie hinaus, den steilen Weg hinab bis zur verfallenen Kirche, deutete mit der Hand in die Nacht und verschwand.
Anna begann zu laufen, sie kam außer Atem, sie riss sich die Füße an Disteln wund, stolperte, fiel. Schweißüberströmt kam sie in ihrem Häuschen an. Die vertrauten Dinge beruhigten sie, sie wusch sich, trank etwas Wein, legte sich hin und schlief rasch ein.
Während dieser Nacht schrak sie mehrmals aus dem Schlaf. Das Brummen des Kühlschranks, der sich einschaltete, das Knarren des Holzbodens, ein Fensterladen, der vom Wind hin- und hergeschlagen wurde und dann ein unbekanntes Scharren, ein Schatten am Fenster, ein Lichtstreif beleuchtete kurz das blasse Gesicht Sordos, der ins Zimmer starrte, sie riss die Augen auf, aber niemand war da.

Als Anna am nächsten Tag erst mittags erwachte, war sie nicht sicher, ob sie von Sordo und seiner Ziege nur geträumt hatte. Es war heiß und friedlich, der Wind hatte sich gelegt, die Bienen summten, die Zikaden sangen. Beschwingt ging Anna ihren Pfad den Hügel hinunter ans Meer. Carlo und Christine würden sie schon erwarten. Sie wollte schwimmen und faul in der Sonne liegen.
Sie lag am Rücken im heißen Sand und schaute direkt in den Himmel. Sie überließ sich dem ruhevollen Rauschen des Meeres, das sie mit sich trug und wiegte, sie ließ sich von ihm wie eine Möwe heben und senken, sie dehnte sich vor Behagen, die sanfte Schaukel löschte ihr Denken. Sie schwebte und sah sich von weit oben, sie lag im Sand auf dem Rücken, sie schwebte, die Zeit stürzte ein.

I

Hans war sehr jung, vielleicht siebzehn oder achtzehn, hochaufgeschossen, zart, fast dünn mit kurzem blondem Haar und großen roten Händen. Er war fast jeden Tag in das Gasthaus gekommen, um Anna zuzuschauen. Sie trug Jeans und T-Shirts. Nichts Besonderes. Ihre blonden Locken ringelten sich um ihr Gesicht und sie bemühte sich zu lächeln und freundlich zu sein. Hans trank ein Coca Cola, hob ab und zu sein Glas und lächelte sie an. Der Wirt bemerkte, dass Hans noch Lehrling war in der Fabrik und wenig Geld hatte. Er kommt nur, weil er in dich verliebt ist.
Diese Erklärung machte Anna befangen. Verliebt! In ihren Träumen servierte sie Unmengen von Bier und Essen. Sie konnte keine Zeitung, kein Buch mehr lesen, dünn war sie geworden, nervös und fahrig.

Hans war da, als der Wirt ein dreitägiges Fest mit Musik veranstaltete und im Garten zusätzliche Holzbänke aufstellen ließ. Zwei weitere Kellnerinnen wurden angestellt. Anna begann wie immer um sieben Uhr morgens mit der Arbeit. Abends um sieben kamen die beiden anderen Frauen, sie waren über vierzig und stark geschminkt. „Wir bekommen nur selten Trinkgelder. Ein hartes Geschäft. Wenn man älter wird, muss man sich was anderes suchen.“

Das Fest dauerte täglich bis vier Uhr morgens. Um seine Gläser vor betrunkenen Gästen zu schützen, gab der Wirt nur Pappbecher aus. Die Stammgäste revoltierten. Da sah sie Gert zum ersten Mal. Er hatte sich seit Tagen nicht rasiert, sein blondes Haar war ungewaschen, sein Hemd stand offen. Er grinste, nahm den Pappbecher und schüttete sein Bier vor Annas Füße auf den Boden. „Sag dem Wirt, ich will ein Glas!“ Der Wirt schimpfte. „Nimm ein Tuch und wisch es auf!“, und Anna kroch am Boden zwischen den Männern und wischte, es stank. Den Männern, die schon betrunken waren, gefiel das, einer nach dem anderen leerte sein Bier auf den Boden, sie lachten: „Wisch das auf!“, und Anna wischte den Boden, kroch auf Knien, wischte. „Wir wollen Gläser!“, schrieen die Männer. Der Wirt meinte, sie könnten ihr Bier ruhig verschütten, sie müssten es Anna bezahlen oder er würde es Anna vom Lohn abziehen. Gert hatte an der Theke einen neuen Becher Bier besorgt. Er schüttete es vor Anna auf den Boden, grinste: „Wisch, ich bezahl das!“ Anna stand auf.

Hans war da. Von hinten griff er Gert an und schlug auf ihn ein. Gert drehte sich um, nach einer kurzen Rangelei packte er Hans und warf ihn über den Tisch. Er lachte, Hans blieb liegen, er schien verletzt. Die Wirtin kam, schreiend, packte Gert am Kragen, der Wirt verbot ihm das Haus. Einer der Männer half Hans auf die Beine und brachte ihn fort.

Während dieser Tage verlor Anna ihr Zeitgefühl. Sie kannte nur noch dieses Lokal, ihre Kammer, sie wusste nur noch, wie man bonierte und servierte, sie war noch niemals irgendwo anders gewesen als hier.
Der erste Abend nach dem Fest erschien Anna gemütlich und langsam. Einige gut gekleidete Männer betraten das Gasthaus. Der Wirt verließ seine Küche, wischte den Tisch im Extrazimmer persönlich sauber, rückte dort und da ein paar Sessel zurecht. Einer der Männer fasste Anna ins Auge. Er lachte sie an, fasste sie um die Hüfte. „Wein her, Weib her, ich will feiern!“ Anna machte sich unwillig los. Der Wirt nahm die Bestellung persönlich entgegen.
In der Küche schärfte er Anna ein, ja nicht zickig zu sein. „Das ist der Fabrikbesitzer! Ich habe das Wirtshaus von ihm gepachtet!“

Anna musste ein weißes Tischtuch auflegen, servierte die Speisen, Getränke, die Arbeiter am Stammtisch wurden ungehalten. Sie bekamen ihren Nachschub an Bier und Schnaps nicht rechtzeitig wie sonst. Sie brüllten Anna an, der Wirt befahl Anna, sich nicht darum zu kümmern. Alles der Reihe nach.
Anna brachte die zweite Flasche von dem teuersten Wein, entkorkte sorgfältig die Flasche, schenkte dem Fabrikbesitzer ein Schlückchen zum Verkosten ein.
Einer seiner Freunde fasste von hinten zwischen Annas Beine, Anna drehte sich spontan um und schlug den Mann hart ins Gesicht, der Mann sprang auf, Anna rannte zur Theke, der Wirt schrie „Bist du verrückt?“, die Stammgäste johlten und klatschten, der Fabrikbesitzer warf Geld auf den Tisch und verließ mit seinen Freunden wütend das Gasthaus.

Der Wirt war fassungslos. Er schimpfte nun auf Anna ein, warum sie nicht überhaupt anders, schneller, geschickter, vernünftiger, witziger sei, sie sei für nichts gut. Die Arbeiter mischten sich ein: „Setz dich hin, da hast du ein Glas Schnaps und eine Zigarette, jetzt wollen wir sehen, was der Wirt kann ohne dich!“
Anna setzte sich und rauchte, sie entspannte sich nicht, der Wirt schimpfte noch immer, „Lass ihn ruhig schreien“, sagten die Männer und bestellten zwölf Halbe und zwölf Korn bei dem Wirt und möglichst fix, sie wollten sehen, wie schnell er denn wäre.
Der Wirt lenkte ein, er rannte und machte, schimpfte mit seiner Frau, die ihm zu langsam einschenkte. Die Arbeiter bestellten weiter. Der Wirt schwitzte. Die Männer lachten. „Du bist aber auch nicht der Schnellste, na siehst du. Setz dich also und spiel nicht verrückt!“

Ein kleiner, dicker Mann redete freundlich mit Anna: „Morgen ist ein Zeltfest im Dorf. Es gibt dort Musik. Geh hin, es tut dir sicher gut, wenn du mal rauskommst.“ „Sie kann raus, ja, aber nicht rein!“, rief der Wirt grob. „Wenn sie in ihr Zimmer will, muss sie durch das Lokal. Sie bekommt aber keinen Schlüssel. Schließlich könnte sie was stehlen. Geh also ruhig aus, aber wiederkommen kannst du erst morgens um sieben!“ „Ich gehe, ja gut, ich gehe!“, rief Anna.
Mit dem kleinen Mann fuhr sie nach zwei Uhr, sie hatte sich gewaschen und umgezogen, zu dem Fest. Fast alle Stammgäste waren dort. Anna setzte sich zu ihnen. Hans kam und setzte sich neben sie. Gert saß ihr gegenüber und sah sie unverschämt an.

II

Das Meer wehrte sich klatschend gegen den Wind. Anna erwachte aus ihrem Halbschlaf, sie fror. Sie zog sich an und besuchte Carlo. Christine hatte gekocht. Sie aßen zusammen.
Anita, die kleine Tochter der beiden, zeigte Anna ein Steinchen, ihre Augen leuchteten. Sie drehte es hin und her, bis Anna dessen Schönheit mit den Augen des Kindes sah. Anna strahlte, das kleine Mädchen jubelte und zupfte Anna am Ohr.

Ganz still in der Ecke saß Carlos‘ Vater. Anna wusste, er hatte nur ein Auge, er trug dicke Gläser. Doch Anna war es, als hätte dieser Mann zehn Augen, er sah und befühlte alles. Er saß still da, Anna spürte ihn plötzlich tief in sich, als würde er sie von innen her erforschen. Da wusste Anna wieder, dass sie sich fürchtete. Sie verabschiedete sich rasch.
Draußen saß Giorgio an einem Tischchen unter der Platane. Er schien auf sie zu warten. „Darf ich dich begleiten?“ „Warum nicht?“, fragte Anna, sie war froh, dass jemand ihre Angst verscheuchen würde. Nebeneinander gingen sie den Hügel hinauf.

Graublaue Steine, rote Felsen, eine strahlende Nacktheit, die Berge herb und kahl. Zwischen den Linien dieser Landschaft sah Anna eine seltene Empfindsamkeit und Zartheit. In dem windgeschützten Tal blühte noch der Oleander. Vom Dorf herauf zogen ausgedehnte Weingärten über die Hügel, wuchsen silberblättrige Oliven- und grasgrüne Feigen- und Zitronenbäume, Falter gaukelten über dem Ginster, der nur noch vereinzelt Blüten trug. Aus dem harten Boden krochen vereinzelt feine Blüten hervor und funkelten in der Abendsonne.

Unweit der verfallenen Kirche hockte Sordo am Weg und sprach mit seiner Ziege. Er blickte nicht auf, als sie kamen. Nur die Ziege drehte den Kopf nach Anna. Anna bewunderte ihre schön geschwungenen Augenbögen, ihre bernsteinfarbenen Augen mit der dunklen Iris, ihr Blick war warm und berührend.
Anna ging mit Giorgio an Sordo vorbei, blieb dann stehen. Giorgio unterbrach seine Rede, er wusste, sie hörte ihm nicht zu. Anna drehte sich um und sah Sordo lange an.
Sein Körper war schmal und geschmeidig, seine Füße steckten in festen Schuhen, er trug Jeans und einen grünen, kurzen Pullover, sein Haar stand dunkel um seinen Kopf, eine gekrümmte große Nase beherrschte sein Gesicht. Seine Augen unter den dunklen Brauen waren fast schwarz, seine Lippen von einem dunklen Braun. Wie ein Relief hob er sich ab von den goldgelben Disteln zwischen den blaugrauen Felsen.
Und wieder sah er sie hart und direkt an. Anna ertrug diesen Blick nicht. Sie drehte sich weg, sah Giorgio an.

„Er ist verrückt!“, sagte Giorgio. „Er lebt hier ganz einsam. Niemand weiß, woher er kommt, wer er ist. Er spricht nicht viel, manchmal flüchtet er vor den Leuten.“ Sie gingen weiter. „Ich glaube, er spricht vor allem mit seiner Ziege.
Die hat er gefunden – unter einem Stein. Sie war verletzt und schrie. Den Kopf hatte sie weit nach hinten gebeugt, die Zunge hing aus ihrem Maul, Tausende Fliegen klebten an ihrem Körper. Sie starb. Er zerrte sie unter dem Felsen hervor, wollte sie mit einem Stein erschlagen. Da nahm er sie auf seine Arme, nahm sie mit sich und pflegte sie gesund. Das hat er jedenfalls im Dorf erzählt, als sich die Leute darüber stritten, wem er die Ziege gestohlen habe. Er erklärte, die Ziege gehöre seither ihm allein. Die Leute haben sich nicht beruhigt, sie wollten wissen, wem die Ziege rechtens gehöre und meinten, Sordo habe auf keinen Fall Anrecht auf sie.
Da kam Sordo nur mehr ins Dorf, um Essen zu besorgen. Er baute einen hohen Zaun um sein Haus und verschloss sich darin. Die Leute sagen, dass er verrückt ist. Auch weil die Frau, die lange bei ihm war, ihn verließ und niemand bei ihm ist.“
Giorgio spürte, dass Anna ihm zum ersten Mal gespannt zuhörte und freute sich darüber.

Sie erreichten Annas Haus.
Anna wollte, dass er ging, doch sie bat ihn zu bleiben. Er setzte sich triumphierend auf die Terrasse des Häuschens, von der aus man die karge Landschaft und die Buchten des Meeres überblickte. Die Abenddämmerung senkte sich herab, die Landschaft fing Feuer und erglühte.
Mit allen Sinnen sog Anna das Bild in sich ein. Minutenlang stand sie gespannt und schweigend. Ihr leuchtendes Haar bewegte sich in der Abendluft.
Dann holte sie Wein aus der Küche.
Schweigend saßen sie da, beide ein wenig befangen. Giorgio fühlte sich unbehaglich.
Anna sah den Mann, der aus der Ferne zu ihnen heraufstarrte. Sie musste zwinkern. Ihre Augen brannten, so lange hatte sie sie aufgerissen, um zu erkennen, wer da war. Da war der Mann fort. Sekunden später sah sie ihn einige Meter weiter, er starrte zu ihr herauf. Jemand rüttelte am Gatter, es waren Ziegen, deren Beine lose zusammengebunden waren. Anna ging hin, um sie aus der Nähe zu betrachten, es schien, als würden die Tiere ihr freundlich zunicken. Die Ziegen flohen, als Anna ihnen zu nahe kam.

„Wenn die Bauern in die Berge kommen, um den Ziegen Wasser zu bringen, pfeifen sie. Die Tiere unterscheiden die Pfiffe genau. Es kommen nur die zur Tränke, die dem Bauern gehören, der gepfiffen hat“, erklärte Giorgio.
Er kletterte über das kleine Mäuerchen, das die Terrasse umgab. Im leeren Stall nebenan fand er eine gelbe Schlange. „Diese Schlangen sind harmlos. Sie wohnen nur bei guten Häusern. Sie trinken die Milch aus dem Euter der Ziegen.“ „Das hast du gesehen?“ „Ja, ja, sie saugen sich an einer Zitze fest und trinken Milch, ich habe das gesehen. Es sind gute Tiere. Nur die, die dunkelbraun sind wie Kaffee und schwarz gezeichnet, schlag tot. Sie sind gefährlich.“ „Ich würde gerne wissen, was die Ziegen empfinden, wenn eine Schlange ihre Milch saugt“, meinte Anna versonnen.
Giorgio hatte seinen Stuhl näher zu dem ihren gerückt. Wenn er sprach, suchte sein Körper ihre Nähe. Als Anna seine Annäherung bemerkte, stand sie auf.

Wieder sah sie den Mann am Hügel, sein Körper zeichnete sich dunkel gegen die Farben des Himmels ab. Da sah sie neben ihm die Ziege. Sie spürte sich lächeln.
Rittlings setzte sie sich auf das Mäuerchen, Giorgio kam näher und berührte sie im Nacken. Sie warf den Kopf zurück. Sie bat ihn zu gehen. Sie würden sich morgen bei Carlo und Christine treffen. „Aber ja, ja“, meinte Giorgio ehrerbietig, er blieb noch ein bisschen, um seinen Stolz zu beruhigen. Er freute sich über ihre Sperrigkeit, denn er liebte es, widerspenstige Frauen zu erobern. Anna wusste das in diesem Moment.
Giorgio ging und Anna blieb sitzen auf ihrer Terrasse. Mit den Augen suchte sie die Landschaft ab, doch Sordo und die Ziege blieben verschwunden. Sie holte Käse und Wein, lehnte sich zurück in ihren Sessel, legte ihre Beine auf das Mäuerchen und sank in die Landschaft, die sie liebte.

Großzügig schwangen die welligen Hügel zum Meer hinab. Die Felsen schimmerten. Ein hellerleuchtetes Boot kreuzte durch die Bucht. In den Ginsterbüschen raschelte der Wind. Sonst war es still. Niemand kam.
Anna aß ein wenig Käse und trank Wein. Sie wartete nicht mehr. Sie trank dem Mond zu wie einem Freund, sie trank auf sich, auf das Leben, bis ihr Denken verstummte. Sie schwamm gegen die Zeit, die stillstand.

Marianne Peternell

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