Ein Sommer in Kirchstetten

(vor 45 Jahren, Juni – September 1972, Brodsky bei Auden)

Da steht er und blinzelt unsicher ins Licht am Ende des Ganges. Es ist sommerlich heiß an diesem 5. Juni 1972 in Schwechat. Der Mann trägt einen schweren Wintermantel und auf dem Kopf eine flache Lenin-Kappe. Er ist 1,80 groß, untersetzt, breiter Hals, hohe Stirn, rotblondes Haar, starkes Kinn, ein Gesicht voller Sommersprossen, ein Gesicht, das dominiert wird von großen, tief liegenden Augen. Ein Blick schwer mit der Last des Beobachters, der nicht wegschauen kann. Er hat vor Kurzem seinen 32. Geburtstag gefeiert, gleichzeitig war es ein Abschied für immer.

Ein Mann mit tief gefurchtem Gesicht erwartet ihn und holt den Koffer vom Fließband; es ist ein Köfferchen aus Pappe, nicht schwer, von einem groben Strick zusammengehalten. Gab es einen Handschlag? Eine Umarmung eher nicht. Ein Nicken. Sie kennen sich nicht, erkennen einander aber doch, weil jeder vom anderen ein Foto über dem Schreibtisch hängen hat, der eine in Leningrad, der andere in New York. Beide haben die Gedichte des anderen gelesen und bewundert. Der Schulabbrecher Brodsky hat sich selbst Englisch (und Polnisch wegen Mickiewicz, er hat den sowjetischen Übersetzungen nicht getraut) beigebracht und seine Gedichte ins Englische übertragen. Auden erzählt vom berückend archaischen Englisch seines Gastes, so als hätte er die Sprache der Neuen Welt mit dem Alten Testament erlernt. Auden, seit seinem achtzehnten Lebensjahr mit dem Dichter Christopher Isherwood liiert, ist ein geübter Menschenretter. 1935 hat er, der geborene Brite, Erika Mann geheiratet, damit sie mit einem britischen Pass aus Nazi-Deutschland fliehen konnte.

Wystan Hugh Auden holt Jossif Brodsky von der Aeroflot-Maschine aus Moskau ab. Im Koffer ist nichts als ein bisschen Kleidung, seine Manuskripte hat man ihm am Moskauer Flughafen abgenommen, in der Tasche fünfzig Dollar, die Freunde für ihn gesammelt haben. Mehr hat man dem Ausgestoßenen nicht gelassen. Der junge Dichter aus Leningrad ist eben der Staatsbürgerschaft beraubt und des Landes verwiesen worden, als Erster in einer langen Reihe von missliebigen Intellektuellen und Dissidenten. 1973 Sinjawski/Terz und Etkind, 1974 Solschenizyn und Nekrassow, 1976 Amalrik, 1977 Venzlova, 1978 Sinowjew, 1980 Wojnowitsch, 1981 Axjonow und so weiter und so fort noch bis zu Zeiten Gorbatschows.

Brodsky war 1964 in Leningrad der Prozess gemacht worden; er sei ein „dekadenter bourgeoiser Formalist“, stellte ihn, der erst ein einziges Gedicht von sich abgedruckt gesehen hatte, in eine Reihe mit den ebenso unnützen James Joyce, Marcel Proust und Franz Kafka. Die Schreiberlinge des KGB kannten sich offenbar sehr gut aus. Wie sie sei er eine „Literatur-Drohne“, ein „Sozialparasit, der kategorisch jede gesellschaftlich nützliche Arbeit verweigere, seinen Eltern und dem sowjetischen Staat auf der Tasche liege“, so hetzte die Zeitung „Vetschernij Leningrad“ am 29. November 1963 gegen den Dichter. „Für Brodsky hat Leningrad keinen Platz!“
Neu war gegenüber den Stalin‘schen Prozessen, dass er öffentlich geführt wurde und der Angeklagte sich selbst verteidigen konnte.

Richter: Was ist Ihre Beschäftigung?
Brodsky: Ich bin Dichter.
Richter: Wer hat Sie als Dichter anerkannt? Wer hat Ihnen das Recht gegeben, sich Dichter zu nennen?
Brodsky: Niemand. Wer hat mir das Recht gegeben, dem Menschengeschlecht anzugehören?
Richter: Haben Sie dafür ein Studium absolviert?
Brodsky: Wofür?
Richter: Um Dichter zu werden. Warum haben Sie keine höhere Bildung angestrebt, um etwas zu lernen, um sich vorzubereiten?
Brodsky: Ich glaube nicht, dass Dichten etwas mit Lernen zu tun hat.
Richter: Womit dann?

Brodsky: Ich denke, es ist … eine Gottesgabe.

Dreiundzwanzig Jahre später sollte der „asoziale Parasit“ den Nobelpreis für Literatur erhalten, gerade als Ronald Reagan Gorbatschow the imperia of the evil besuchte.
Er wurde zu fünf Jahren Zwangsarbeit verurteilt, obwohl sich Anna Achmatowa, Schostakowitsch, der Dichter Marschak und der Wissenschaftler Tschukowskij für ihn eingesetzt hatten. Noch nie hat es so etwas gegeben, außer Achmatowa sind dies drei Leninpreisträger. Nach dem Sturz von Chruschtschow und seinem kurzen „Tauwetter“ kehrte die Sowjetunion unter Breschnew und KGB-Chef Andropow zur harten Linie in der Kulturpolitik zurück.
Brodsky wurde zuerst in einem Gefängnis eingekerkert, dann musste er in einem Arbeitslager bei Archangelsk schuften, danach in Sibirien bei minus 50 Grad Bäume fällen und Steine schleppen. Aber der größte Unterschied zu Stalins Opfern war, dass die Außenwelt von ihnen wusste. Die Zeit des Samisdat, der Untergrundpresse, war angebrochen und ließ sich nicht mehr aufhalten. Die Proteste im In- und Ausland hatten Erfolg, nach achtzehn Monaten wurde Brodsky freigelassen und durfte nach Leningrad zurückkehren. In der Verbannung hatte er eine neue Einsicht gewonnen:

„Wenn wir beispielsweise an all jene denken, die in Stalins Lagern und Gefängnissen umgekommen sind, wenn wir an diese Millionen toten Seelen denken – wo ließen sich da angemessene Gefühle finden?
Können der eigene Zorn, Kummer und Abscheu dieser schwindelerregenden Zahl angemessen sein?“

Was ist zu tun?
„Der Dichter hat nur eine Pflicht, gut zu schreiben, seiner Sprache so zu dienen, wie es seine Sprache verlangt. Poesie ist die sublimierte Form von Sprache. Und es stimmt nicht, wenn Adorno sagt, dass nach Auschwitz kein Gedicht mehr möglich ist. Die Menschen, die in Hitlers Gaskammern gingen, hätten Adorno nicht zugestimmt. Adorno spricht über die Schuld der Überlebenden. Ich glaube, das Opfer votiert für die Existenz der Poesie.“

Auden stopft den russischen Emigranten in seinen VW-Käfer und fährt mit ihm über die Westautobahn in sein Sommerdomizil im niederösterreichischen Dorf Kirchstetten. Im Laufe des Sommers vermittelt er ihn als Professor für Poesie an die Universität Ann Arbor im US-Bundesstaat Michigan, später auch an der Columbia University in New York.
„Ich wollte nicht in Westeuropa bleiben“, sagt Brodsky.
„Wenn schon das Neue, dann wollte ich in das für mich absolut Unbekannte.“

Wer aber war der Regisseur, der den Zeitplan so einrichtete, dass in der Kirche von Kirchstetten gerade das Pfingstfest gefeiert wurde, das Fest, an dem einander die Völker in tausend Sprachen verstanden?

„Komm, Schöpfer Geist“, plärr‘ ich, während Herr Bayer
unsere kargen Spenden sammelt und Pfarrer Lustkandl
still mit dem Opfer fortschreitet. (…)
Im Zwiebelturm oben
läuten die Glocken zur Wandlung, rufen
Österreich, sich zu verwandeln: ob sich die Welt gebessert,
ist zweifelhaft, doch glauben wir, sie könnt‘ es;“

schreibt Auden in dem Pfingstsonntags- Gedicht (Whitsunday in Kirchstetten).

Auden geht mit seinem fremden Gast den schmalen Pfad aus dem Dorf hinaus zum Wald, wo sie durch den Zaun in einen Garten blicken, wo ein anderer Dichter, der Selbstmörder von 1945, begraben liegt,
„wie ein geliebter alter Familienhund.“ (Für Josef Weinheber)
„Jetzt, Nachbarn Tür an Tür, wären
Wir vielleicht Freunde geworden,
Die eine gemeinsame Umwelt
Und die Liebe zum Wort teilten.
Bei einem goldfarbenen Kremser
Hätten wir lange Gespräche
Über Syntax, Kommas und
Versemachen geführt. (…)
Doch hier fühle ich mich zuhause
Wie du einst: dieselben
Geschöpfe stimmen wieder
dieselben sorgenfreien Lieder an.
Schaue ich über unser Tal,
Wo, dem Blick entzogen,
Der Sichelbach westwärts eilt,
Um mit der Perschling sich zu vereinen –
Ein menschlich bescheidenes Bild
Und sanft in den Konturen -,
Bin ich mir bedeutender Nachbarn bewusst,
Die ich verehre: der Berge,
Die hinter mir aufragen, vor mir
des prächtigen Flusses.
Doch möchte auch dich ich ehren,
Kollege und Nachbar,
denn selbst mein englisches Ohr
Entdeckt in deinem Deutsch
Die Meisterschaft und den Tonfall
Eines, dem er vergönnt war,
Das Spiel der Bratschen
Auf umzäuntem Rasen zu hören,
Und dem es spät oblag, den

Abgrund zu nennen.
(im englischen Original auf Deutsch)

Es wird nicht schwer gewesen sein, dem Gast die tragische Verstrickung des nachbarlichen Dichters in die totalitäre Macht und die Zeiten voller Schrecken deutlich zu machen.
Sorgenfreie Lieder anstimmen konnte Brodsky sicher nicht.
Der Dichter war aus seiner Heimat und Sprachheimat verstoßen worden, staatenlos, eine ungewisse Zukunft vor sich, einzig auf einen Dichterfreund angewiesen, hatte seine alten Eltern, seine Frau Marina und ihren Sohn Andrej zurücklassen müssen. Er hatte keine Wahl gehabt, so wie Auden, der ein hintertupfinges Bauerndorf zu seiner zweiten Heimat auserkoren hat, ein geruhsames Pendeln zwischen New York, Oxford und Kirchstetten. Wie mag er das seinem Gast erklärt haben?

Doch hier fühle ich mich zuhause
Wie du einst: dieselben
Kurzlebigen Geschöpfe stimmen wieder
Die sorgenfreien Lieder an,
Obstgärten bleiben dem Regime treu,
das sie kennen, von des Aprils
Rasch aufblühenden Farben
Bis hin zum ungestümen Herbst,
Wenn bei jedem stammelnden Windstoß
Äpfel auf den Boden schlagen.

(Für Josef Weinheber)

Auden konnte es nicht wissen, aber nur ein Dichter kann es ahnen oder prophezeien; der Atheist aus Leningrad wird sich erst im Exil intensiv mit dem Alten Testament beschäftigen.
In der stillen Mortonstreet in Greenwich Village hängt an der Wand über dem Sofa ein Druck mit dem biblischen Motiv, wie Josef dem Pharao seine Träume erklärt. Josef wird von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft und weissagt dem Pharao die fetten und mageren Jahre, sodass sich das Land entsprechend vorbereiten kann. Josef sagt am Ende zu seinen Brüdern, denen er sich zu erkennen gibt:
‚Ihr gedachtet mir Böses zu tun, Gott aber hat es zum Guten gewendet.‘
Brodsky bekennt: „Ich votiere für die Bibel und insbesondere für den Propheten Jeremias.“
Auch Else Lasker-Schüler hat die Bibel als Spiegel gesehen. Sie nannte sich Prinz Jussuf, sah öfters im Traum König David und führte Zwiegespräche.

Über einen anderen Bezug erzählt seine Mutter: „Während der Bombenangriffe auf Leningrad suchten wir immer Zuflucht in einer Kirche. Jossif schlief dann immer in einer Kiste, in der sonst die Bittschriften der Gläubigen lagen. Mit vier Jahren hat er lesen gelernt, und mit fünf hat er mir Puschkin vorgelesen.“
Haben sie sich über Politik unterhalten? Hat Auden seinen jungen Kollegen nach dem Gulag gefragt, nach den Unterschieden zwischen Ost und West, nach Solschenizyn? Man kann es nur vermuten, aber eher verneinen. Es werden wie mit dem Nachbarn eher das Komma, die Syntax und die Verse beim goldfarbenen Kremser gewesen sein.
Hoffen heißt die Zukunft dementieren und sich als Einzelner in der Gegenwart zu bewähren.
„Ich weiß, dass ich vor dem Abgrund steh.
Und mein
Bewusstsein kreist gleich einem Schaufelrad
um seine Achse, die unbiegsam ist.
Keine Einsamkeit nämlich schmerzt mehr
als die Erinnerung an Wunder.
Grad so kehrt ins Gefängnis zurück, wer darin schon gewesen,
und die Tauben – zur Arche.“

Ja, so ist es. Amen.

Meinungen über den Westen und Vergleiche mit dem Osten hat Brodsky erst später geäußert, und immer vorsichtig. Der Kommunismus ist nach der Ansicht des Dichters im Exil mehr Menschen auf dem Gewissen als das aus dem Christentum erwachsene kapitalistische System.
„Sogar das, was die Nazis getan haben, ist im Vergleich mit dem, was Stalin und seine Erben praktiziert haben, ein Kindergarten.“
Was hätte sein Gegenüber wohl dazu gesagt?
Vielleicht hätte er ihm die Geschichte erzählt, als er mit sieben in der Bibliothek seiner Leningrader Schule ein Anmeldeformular ausfüllen musste. Eine Spalte fragte nach der Nationalität.
„Ich wusste ganz genau, dass ich Jude war, aber ich sagte der Bibliothekarin, ich wüsste meine Nationalität nicht. Mit einem süffisanten Spottgesicht schickte sie mich nach Hause zu meinen Eltern, die wüssten‘s schon.
Die wahre Geschichte des menschlichen Bewusstseins beginnt mit der ersten Lüge. Meine erste Lüge hatte unmittelbar mit meiner Identität zu tun, kein schlechter Anfang.“

Oder von seinem Vater. Brodskys Vater war Fotograf. Er diente im Großen Vaterländischen Krieg in der Marine. 1949 musste er sie verlassen, Stalin zettelte eine neue Judenverfolgung an, als er jüdische Ärzte als Verschwörer aburteilen ließ. Mit dem Antisemitismus konnte man auch nach Hitler noch etwas machen.

Vielleicht hat ihm der Gastgeber von seinem Faktotum, der resoluten wie verlässlichen Haushälterin Emma Eiermann erzählt oder die Elegie vorgelesen, die er ihr gewidmet hat.

Du warst inbegriffen in das Haus,
du und dein Bruder Josef,
Sudetendeutsche,
zu heimatlosen Bettlern geworden, als die Tschechen
an die Reihe kamen, brutal zu sein.

Und vom Landarzt Dr. Walter Birk, der nach 45 Jahren in den Ruhestand ging.
Wenn der Sommer hereinplumpst, werden die Spatzen
piepsen im breiten Kastaniengeäst
nah deinem Haus, doch keiner wird fragen
„Ist Dr. Birk da, dass er mich höre?“

Ganz sicher hat er es nicht versäumt, dem Gast den Friedhof neben der Kirche zu zeigen, mit einer Bank am oberen Ende unter einer Linde, wo er zu sitzen und über in die reiche Bauernlandschaft zu schauen pflegte. Diesen Platz liebte er besonders, nannte ihn seine „heimatliche Insel“, der Brite aus York. Nicht wissend, dass er ein Jahr später die Äpfel nicht mehr auf dem Boden aufschlagen hören, sondern hier unter einem schmalen Blumenbeet und einem schmiedeeisernen Kreuz seine ewige Ruhe finden würde.
Brodsky verbrachte seine Uni-Ferien in Rom und Venedig. Seit 21 Jahren liegt Brodsky auf dem Friedhof San Michele in der Lagune. So hat jeder seine Insel bekommen.

9.8.17

  • Gedichte und Übersetzungen entnommen aus „Gedichte – Poems“, Hrsg. Wolfgang Kraus, Europa-Verlag, Wien 1973
  • Brodsky-Zitate aus: Jürgen Serke. Die verbannten Dichter. Albrecht Kraus Verlag, Hamburg 1982

Veronika Seyr
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