Die ZDF-Hitparade

Ich bin ein Gewohnheitstier. Spätestens um 19:30 Uhr sitze ich vor dem Fernseher, um mir die Hauptnachrichten anzusehen. Ich bin immer daran interessiert, was es Neues gibt. Manchmal schalte ich den Fernseher schon früher ein, wenn ich meine Wäsche für morgen schon gerichtet habe und auch alles andere vorbereitet ist. Ganz gern schalte ich ab 18:45 Uhr zur ZDF-Hitparade mit Dieter Thomas Heck. Es sind Aufzeichnungen. Er moderierte sie von 1969 bis 1984. Zu Beginn rief er stets: „Hier ist Berlin!“ Dieter Thomas machte viele Witzchen und sorgte für gute Laune. Heutzutage mutet die Show total retro an. Allein deshalb gefällt sie mir – weil sie mich an meine Kindheit erinnert. Ich wurde 1970 geboren.

Gerade heute ist wieder solch ein Tag. Seit 19:10 Uhr sitze ich vor dem Fernseher. Es läuft die ZDF-Hitparade vom 5. November 1979. Dieter Thomas kündigt Luv´ an, das sind drei junge Damen in Uniformen aus sehr wenig Stoff. Das mittlere Mädchen ist blond, die beiden außen dunkelhaarig. Sie tanzen und singen zu ihrem Song „Ooh, Yes I Do“. Es ist typische 1970er-Jahre-Musik. Heute wäre das wohl Musik für ältere Herren, die gern junge hübsche Frauen betrachten und denen die Musik gleichgültig ist. Ich denke, damals war das noch etwas anders. Die Zielgruppe für diese Art von Kaugummi-Musik war breiter.

Plötzlich zeigt die Kamera zu den Zuschauern im Saal. Dieter Thomas Heck stellt sich neben eine Frau, die gegen Ende dreißig sein dürfte. Sie trägt einen roten Rollkragenpullover. Da sie außen sitzt, sieht man ihren karierten Rock, ihre Brille ist groß und rund. Schwarze Wallemähne, ein eher schmaler Mund, Perlenohrringe. Sie sieht aus wie ich! Sie sieht genauso aus wie ich zurzeit, abgesehen von der Kleidung und der Frisur. „Hat Ihnen das Lied gefallen?“, fragt Dieter Thomas. Er hält das Mikrofon unter ihren Mund. „Ja, sehr schön wirklich, ganz toll!“, sagt die Frau, die aussieht wie ich mit meiner Stimme und meiner Körperhaltung. „Wie ist Ihr Name, gnädige Frau?“, fragt Dieter Thomas weiter. Wieder hält er das Mikrofon knapp unter ihren Mund. „Hertha König.“ „Und Sie kommen aus …?“ „Kassel“, sagt die Frau ins Mikrofon. „Der Herr neben Ihnen ist Ihr Gatte, nicht?“, fragt Dieter Thomas wiederum und hält ihr das Mikrofon entgegen. „Nein, ich kenne ihn gar nicht. Ich bin alleine hier“, sagt die Frau. „Na, wenn Sie alleine hergekommen sind, bedeutet das noch nicht, dass Sie auch alleine nachhause gehen, wa?“, flachst Dieter Thomas.

Die Frau im Fernsehen lacht. Ich lache. Hertha König ist mein Name, mein Wohnort ist Kassel. Ich, in meinem derzeitigen Alter, bin die Frau im Fernsehen.

Wie kann das sein?

Lost in Space

Dieter Thomas Heck schmunzelt. Er geht auf die Kamera zu. Jetzt bleibt er stehen und kündigt Costa Cordalis an, der als Nächster auf die Bühne treten und dort sein Lied „Keine liebt wie du“ zum Besten geben wird. Ich schalte den Fernseher aus. Für Nachrichten habe ich jetzt keinen Kopf.

Nochmals: Wie kann das sein?

Ich suche nach einer Erklärung. Das nicht ich das in der ZDF-Hitparade gewesen sein kann, ist klar. Vielleicht, möglicherweise, eventuell war es eine Schwester von Mama, mit der sie sich zerstritten und deren Existenz sie mir deshalb vorenthalten hat. Das klingt doch gar nicht so unlogisch. Aber warum gab sie mir dann ihren Namen Hertha? Man gibt doch seinem Kind nicht den Namen von jemandem, den man nicht leiden kann. Das passt überhaupt nicht zusammen. Und wenn es einfach nur eine Frau war, die aussah, sich bewegte, sprach wie ich und in derselben Stadt wohnte? Es gibt ja die Theorie, dass jeder einen Doppelgänger habe. Gut, mag sein, aber gilt das auch generationenübergreifend?

Die einfachste Erklärung ist natürlich die, dass ich mich versehen habe, eingenickt bin beispielsweise und kurz geträumt habe. Ich kann es nicht herausfinden, da ich die Sendung ja nicht wie bei einer alten VHS-Videokassette zurückspulen kann, aber ich meine, das denke ich wirklich, dass ich von dieser Frau, die ich sein soll, nur geträumt habe, womöglich fantasiert, was auf einen schlechten Gemütszustand von mir schließen lassen würde, das wäre aber ebenso möglich,  jedenfalls habe ich diesen Vorfall nicht in Wirklichkeit gesehen.

Ich lege mich bald ins Bett, in mein Einzelbett, ich lebe alleine. Dort lese ich noch ein wenig, einen Weltbestseller. Der bringt mich auf andere Gedanken – nein, das stimmt nicht so ganz, diese Folge der ZDF-Hitparade hält mich immer noch gefangen.

Als ich dann eingeschlafen bin, träume ich etwas ganz anderes, keine Spur von einer Musikshow. Ich träume davon, wie ich durch den Wald gehe, einen Wald, den ich nicht kenne, schließlich erreiche ich einen Teich. Ich sehe in ihn, weil ich mein Spiegelbild sehen möchte, aber sein Wasser ist braun von Erde und wirft kein Bild zurück.

Der nächste Tag ist ein ganz normaler Tag, der 9. November 2016, Mittwoch. Arbeit bei Charles Vögele, Mode verkaufen, eher versuchen, Mode zu verkaufen. Im Geschäft ist nicht so viel Frequenz. Die Marke gilt offensichtlich als angestaubt, fast kein – potenzieller – Kunde ist unter vierzig. Bald einmal muss wohl ein neuer Job her. Ich bin achtunddreißig. Das wird schon hinhauen, da mache ich mir nicht solche Sorgen, ich bin ja auch eine tüchtige Verkäuferin. Ein neuer Job wäre gar nicht schlecht, denn weniger als bei Charles Vögele kann man doch bestimmt nirgendwo verdienen.

Auch Donnerstag und Freitag sind ganz normale, unspektakuläre Tage. Diesen Samstag habe ich frei. Erst einmal bleibe ich so lange im Bett, bis ich völlig ausgeschlafen bin. Das ist ein guter Start in den Tag. Dann ein üppiges Frühstück mit Radio hr3. Danach ein Spaziergang im Novembernebel, etwas unfreundlich, bald wieder nachhause. Ich lese meinen Weltbestseller weiter. Dabei brauche ich nicht viel zu denken, das ist sehr entspannend. Nachmittags backe ich mir eine Tiefkühlpizza auf. Sie schmeckt ganz gut, besser als früher, die Lebensmittelindustrie hat Fortschritte gemacht. Dazu trinke ich ein Bier, das tue ich nicht oft. Und weil das erste so gut geschmeckt hat, trinke ich ein zweites, und ein drittes, dann ist aber aus. Eineinhalb Liter Bier ist eine hohe Dosis für eine zarte Frau wie mich, ich bin ganz schön angedüdelt. Ich lege mich ins Bett, alsbald schlafe ich ein.

Ich träume, dass ich im All schwebe. Ich trage keinen Raumanzug, trotzdem kann ich atmen, und die Temperatur liegt bei ungefähr dreiundzwanzig Grad Celsius. Die Gestirne um mich innerhalb der Schwärze drehen sich langsam, und ich drehe mich im selben Tempo. Ich kann nichts greifen. Es gibt nichts zu tun. Ich bin lost in space.

Ich wache auf. Es ist bereits Nacht, draußen ist es dunkel, bis auf die Straßenbeleuchtung. Im Schlafzimmer ist es hell. Ein leise singender sphärischer Ton liegt in der Luft. Ich sehe nach, sowohl die Deckenlampe wie auch die Nachtkästchenlampe sind ausgeschaltet, also müsste es dunkel sein. Es ist aber hell. Ebenso in der Küche, im Wohnzimmer, im Vorzimmer, im WC und im Bad, es ist überall hell bei ausgeschalteten Lampen. Jetzt sehe ich, wie sich der Vorraum biegt, er wird niedriger, rundet sich, dehnt sich in der Länge. Er bildet einen Schlauch, dessen Wände wie Perlmutt schimmern.

Will ich zurück ins Wohnzimmer, Schlafzimmer oder in die Küche, muss ich durch diesen Schlauch klettern. Und das tue ich auch: Auf allen vieren krabble ich diesen Schlauch entlang. Der sphärische Ton ist verschwunden. Nach dem Ende des Schlauchs stehe ich auf und gehe ins Schlafzimmer. Nun ist es ganz anders eingerichtet. Statt meines Einzelbetts steht dort eine Liege mit geschwungenem Kopfteil. In der Küche sind Prilblumen auf dem altertümlichen Kühlschrank und dem antiquierten Herd. Ein Flokati-Teppich bedeckt einen Teil des Bodens im Wohnzimmer, ein Kalender mit Palmen hängt an der Wand. Eine rote Markierung auf einer Kunststoffschiene zeigt den 4. Tag des Novembers im Jahr 1979.

Über den Stuhl aus gebogenem Holz im Schlafzimmer sind ein karierter Rock und ein roter Rollkragenpullover gehängt. Ich blicke in den ovalen Spiegel mit Goldfarbeinfassung, der vorhin nicht hier war. Ich sehe mich selbst, natürlich, mit schwarzer Wallemähne und einer großen, runden Brille.

Auf dem Sideboard im Wohnzimmer liegen zwei Perlenohrringe und eine Eintrittskarte für die ZDF-Hitparade am 5. November 1979, morgen, sowie ein Zettel, auf dem in meiner Schrift: „Abfahrt des Zuges nach Berlin um 12:21 Uhr“ steht.

Johannes Tosin
(Text und Foto)

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