Römische Briefe

Der junge Tourist, Pius Lenz, saß an einem dreiundzwanzigsten August, nur wenige Stunden nachdem er auf der sogenannten Spanischen Treppe sitzend, am Fuße des eindrucksvollen Istituto Sacro Cuore Trinità dei Monti, einen Gedichtband zu Ende gelesen hatte, in der Via Toscana fünf, nur unweit der sogenannten Spanischen Treppe, im Commissariato Castro Pretorio und wurde zum wiederholten Male über die Motive seiner eigenartigen Tat befragt. Er habe John Keats‘ Hyperion ebendort sitzend zu Ende gelesen, wiederholte er also, und genau gewusst, dass er nicht anders könne, als diesen Briefkasten, welcher sich in der Via Condotti, einer der am meist frequentierten Einkaufstraßen Roms, befand, um sechzehn Uhr fünfundvierzig in die Luft sprengen, gab er im feinsten Englisch zu Protokoll. Die Frage der verwunderten Beamten, ob er sich der Auswirkungen und des Schadens seiner Wahnsinnstat bewusst gewesen sei, ignorierte er und erklärte, dass doch niemand umgekommen sei und sich der Schaden doch in Grenzen hielte. Hätte er es nicht getan, sagte er Stunden später aus, wäre es zu spät gewesen, so er.

Im angesehenen Römischen Universitätsklinkum, der Università del Sacro Cuore, wurde Monate später in seinen Privatnotizen ein unvollständiger Briefentwurf gefunden, welcher (einige) nähere Umstände dieser Augusttat aufklären sollte. Sein Herz, schrieb er, hätte zu schlagen aufgehört, wäre dieser Briefkasten um siebzehn Uhr entleert worden. Dass es für ihn zu spät gewesen wäre, erkannte er, so die Notiz, hätte er nicht auf der sogenannten Spanischen Treppe sitzend Keats‘ Hyperion gelesen und dann die Inschrift auf dem Haus zu seiner Linken, dass in eben diesem Haus der junge Dichter John Keats in jungen Jahren achtzehnhunderteinundzwanzig verstorben war. Und, so die Notiz, dass es noch nicht zu spät war, um die Entleerung mit allen Mitteln zu verhindern, habe er ebenso erkannt.

Magnus Liendlbauer

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