Prädikat mit Auszeichnung

Im europäischen Osten, Ende der 1960er.
Eine streng frisierte Frau sitzt an ihrem Schreibtisch, auf dem ein hoher Stapel mit Schriftstücken wartet. Sie trägt ein schlichtes, dennoch nicht elegantes Kostüm in einem grauen Beige oder einem beigen Grau und beugt sich ein wenig nach vor, um den klobigen Telefonhörer in die linke Hand zu nehmen, während die rechte sich noch schnell mit einem dunkelblauen Füller ein paar Notizen auf einem schneeweißen Blatt Papier macht. Danach wählt der rechte Zeigefinger mehrere Ziffern hintereinander. Die Wahlscheibe dreht sich jedes Mal mit einem mechanischen Geräusch wieder an den Ausgangspunkt zurück;  ein letztes „Klick“, bevor die Frau zu sprechen beginnt.

„Magda hier. Ich habe hier eine Menge Mitteilsames vor mir liegen, aber noch keine Starterlaubnis für meine Arbeit bekommen. Wenn ich in eurem Sinne bis Ende der Woche damit fertig sein soll, und das nehme ich stark an, dann sollte eure Abteilung in die Gänge kommen und mir einen Boten schicken mit den notwendigen Anweisungen.“

Gemurmel am anderen Ende der Leitung.

„Gut, dann fange ich ausnahmsweise ohne die schriftliche Genehmigung an. Ich verlasse mich auf dich, dass ich sie heute Vormittag noch bekomme. Bis dahin!“

Das andere Ende der Leitung spricht drei bis fünf Worte. Magda legt auf.

Sie nimmt sich den ersten Bogen Papier, beginnt eine wackelige Handschrift zu entziffern und seufzt. Jede Menge Arbeit. Je länger die Insassen hier verweilen, desto mehr haben sie zu erzählen. Und umso mehr ist sie gefordert.

Die Originaldokumente sind bereits kopiert, ein aufwändiger Vorgang, der Mitarbeitern der Sicherheitsstufe 5 vorbehalten ist. So findet sich das Blatt in Kopie direkt unter dem jeweiligen Brief, der für die Lieben daheim bestimmt ist. Sie arbeitet auf dem Original. Sie ist sich der Wichtigkeit ihrer Aufgabe bewusst.

Das Übliche. Verhöre werden nicht beim Namen genannt, denn die Briefschreiber sind gewieft genug zu wissen, dass ihre Mitteilungen nicht einfach ungelesen nach außen wandern. Es wird umschrieben, was das Zeug hält. Auch die Unschuld wird stets betont, immer sei man treu den Interessen des Staates gefolgt, alles ein Missverständnis und werde sich ehebaldigst aufklären. Wie eine Beschwörungsformel, die Magda bereits zur Genüge kennt, in Kopie abgelegt zu Tausenden in ordentlichen, strotzenden Sammelmappen.

Magda tilgt sie nun alle, die Beschreibungen der Unterbringung und Personen, die mit der Inhaftiertenbetreuung beschäftigt sind. Sie stellt ohne große Verwunderung fest, dass ein bestimmter Mitarbeiter, Einheimischer hier aus der Stadt, neuerlich als menschlich sehr zugänglich beschrieben wird. Sie nimmt davon Notiz, sozusagen, bevor der schwarze Balken diesem Lob wie der angedeuteten Beschwerde ein Ende macht.

Die Zensorin blickt auf den vierseitigen Brief, ihr vollendetes Werk. Immer eine gerade Anzahl von dicht beschriebenen Seiten übrigens, denn Papier ist hier ein besonders wertvolles Gut.
Sie ist zufrieden. Nicht nur hat sie sämtliche offensichtlichen Übertretungen ausgemerzt, auch die verklausuliertesten Andeutungen sind ihr nicht entgangen. ‚Du weißt doch noch, Tante Anitas Katze? So fühle ich mich gerade.‘ Was immer Tante Anitas Katze zugestoßen sein mag, es wird nichts Gutes gewesen sein. Weg damit.

Doch dessen nicht genug. Sie kann auch die Passagen, in denen inhaltlich nichts Beanstandenswertes vorkommt, nicht einfach so lassen, wie sie sind. Rechtschreibung und Grammatik sind wichtig. Wenn jemand nicht weiß, wie man schreibt, soll er’s lassen. Ihre Meinung.

So landen auch Stellen, in denen es darum geht, wie groß die Vorfreude aufs Wiedersehen mit der Familie ist, unter Balken. Eigentlich schon egal, denn Briefe aus ihrem Büro ähneln eher einem schwarzen Meer mit einigen Einsprengseln. Was jemand mit so einem Schreiben anfangen soll, war ihr immer schon schleierhaft.

Es klopft. Der Bote mit der schriftlichen Genehmigung; das ist erfreulich rasch gegangen. Er überreicht ihr aber nicht nur das vereinbarte einzelne Dokument, sondern auch ein zweites amtliches Schriftstück in einem Kuvert.  Sie kommt seiner schüchternen Bitte um Gegenzeichnung des Erhalts für beides rasch nach, denn sie ist mehr als neugierig auf das Unangekündigte. Das Kuvert bedeutet: bedeutsam. Der Bote entfernt sich dezent.

Die Genehmigung wandert nach kurzem Kontrollblick sofort in die richtige Mappe.
Sie reißt das Kuvert auf.

 

„Sehr geehrte Frau Dr. T.,

in Anbetracht hervorragender Leistungen in der Zensurbehörde und außerordentlich gewissenhafter Durchführung der Ihnen zugeordneten Aufgaben teilen wir Ihnen mit, dass Sie ab 5. Juno  als neue Leiterin der Zensurbehörde als Nachfolge von Herrn M. vorgemerkt sind. Wir bitten Sie höflichst, sich mit allen notwendigen Unterlagen zur weiteren Vorgehensweise am  25.05. cr. um 9 Uhr 15 in der Abteilung 12, Zimmer 34 einzufinden.

Mit vorzüglichsten Grüßen

Hässliches Gekrakel

Dr. Z., Vorsitzender des Komitees für Datenbearbeitung“

 

Frau Dr. Magda T. lächelt zum ersten Mal an diesem Tag und streicht mit der Hand über das glatte Papier, bevor sie es vorübergehend links hinten neben dem Stapel ablegt. Sie greift nach dem nächsten Brief.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: Wortglauberei | Inventarnummer: 18136