Flamboyant

Die Geschichte nahm ihren Anfang während meines Praktikums bei einem großen deutschsprachigen Schweizer Kulturmagazin. Gerade einmal graduierter Magister der Medienwissenschaft, durfte ich, begleitet von einem Fotografenkollegen, meinen ersten Artikel gestalten.
Eine angesagte Künstlerin hatte kürzlich mit großem Erfolg ihre Ausstellung in der Kunsthalle absolviert, und nun waren viele Menschen neugierig auf das Arbeitsumfeld der als eher scheu bekannten Malerin.

Bestimmt hatte ihr Manager sie überreden müssen, ausgewählte Medienvertreter in ihrem Atelier zu empfangen. Er war ein drahtiger junger Typ mit kahlrasiertem Kopf und dicker schwarzer Designerbrille; die Dramaturgie des Journalistenempfangs war bestimmt von seinen exakten Vorgaben, die uns im Vorhinein übermittelt wurden und bestätigt werden mussten. So durfte etwa nur der Stadtteil, nicht aber die genaue Adresse des Ateliers genannt und auch keine Außenansicht des Gebäudes veröffentlicht werden.
Das Navigationssystem lotste uns zu einer alten Fabrik am Stadtrand mit charmanter Klinkerfassade, wo die anwesenden Journalisten vom Manager empfangen und mit ein paar Verhaltensregeln versorgt in die Werkhalle vorgelassen wurden.

Das Ziel unseres Interesses, die Dame des Hauses, wartete bereits, gehüllt in beinahe bodenlange weite, weiße Gewänder, in angespannter Körperhaltung und mit vor Nervosität leicht gerötetem Gesicht. Sie stand barfuß und breitbeinig, wie um sich selbst mehr Terrain zu verschaffen und das der von ihr misstrauisch beäugten Eindringlinge zu minimieren. Bestimmt aus demselben Grund umgab sie sich mit zwei Windhunden, sehr hellen kurzfelligen, die breite weiße, lederne Nietenhalsbänder umgeschnallt hatten und nervös tänzelnd um sie Raum nahmen.
Das lange brünette Haar trug Leonie Lafleur offen, ganz so, als ob sie sich bei Bedarf rasch dahinter zurückziehen könnte. Mit einem bemühten schmalen Lächeln rang sie sich eine Begrüßung ab.
„Willkommen, bitte stellen Sie Ihre Fragen, ich werde gerne Auskunft über meine Arbeit geben.“

Die Halle hatte einen polierten Betonboden, auf den an diesem warmen Nachmittag eine recht vehemente Septembersonne ihr Licht drängte, durch hunderte von Eisensprossen gebildete Glasfelder der raumhohen Fabrikfenster. Parallel zu den Außenmauern waren verputzte und weiß grundierte, etwa zwei Meter hohe gemauerte Innenwände montiert, an denen großformatige Bilder hingen, mehrheitlich ungerahmt.
Ein Spatz war durch eine offene Dachluke hereingeflogen und durchzog mit ängstlichem Gezwitscher die Halle in langen Flugbahnen, was die Hunde irritierte.

Die Frau in Weiß, die immer wieder ihren Blick senkte, sich wand, befangen in ihrer nicht alltäglichen Rolle als Anschauungssubjekt, bannte meinen Blick und retardierte meinen Geist. Sie bildete mit ihren Gewändern, die auf leichteste Bewegungen voluminös reagierten, und mit ihren Hunden ein oszillierendes weißes Etwas inmitten der sonnengefluteten Halle.
Die Kollegen mit den Kameras begannen ohne Verzögerung mit ihrer Arbeit. Das Klickstakkato war es auch, das meine Denkblockade beendete. Auch die anderen Reporter hatten sich akklimatisiert und das Erstaunen weggesteckt, der Bann war gebrochen, und es kamen erste Fragen.

„Haben Sie fixe Arbeitszeiten, Madame Lafleur?“, wollte eine junge Kollegin von der NZZ wissen, worauf nach kurzem Nachdenken eine leise Antwort folgte: „Tatkraft und Passion kennen keine Uhr.“

Ein blonder Journalist, der seine Sonnenbrille auf die Stirn geschoben hatte, fragte: „Sie waren ja die Ehefrau von einem großen Kunstmäzen, hat er Sie gefördert? Haben Sie noch Kontakt zu ihm?“
Die Antwort erfolgte prompt und in verärgertem Ton: „Was für eine Frage. Als wäre ich ein relatives Wesen. Ich bin doch keine Trabantin, keine Frau von jemandem.“

Der Spatz hatte immer noch nicht hinausgefunden und zog weiterhin mäandernd seine Kreise durch die Halle.
Auf das Eigentliche war ich nicht vorbereitet gewesen  –  die unvergleichlichen Kunstwerke: Blumen, Blüten, Blätter, alle in Grautönen; Makro-Ausschnitte, bildfüllende Großaufnahmen.
Nur schwarz, grau, weiß. Ein unentschlossenes Changieren zwischen Diskretion und Opulenz.
Ich machte mir meine Notizen.
Schwarz, grau, weiß. Wie die Künstlerin selbst und wie ihre Hunde.
Plötzlich sah ich den Titel meines Artikels klar vor Augen und schrieb ihn in mein Notizbuch: „Flamboyant in Grau“, das passte!

Leonie Lafleur beschrieb ausführlich ihre Technik, große Leinwände in Acryl oder Öl zu bemalen und zeigte auch einzelne Arbeitsschritte.
Das war uns natürlich nicht genug; eine Kollegin fragte insistierend nach: „Mit vegetabiler Malerei verbindet man auf jeden Fall Farbe. Können Sie bitte unseren Lesern erklären, warum Sie genau darauf konsequent verzichten?“
Es brauchte ein paar Augenblicke, bevor die Künstlerin die richtigen Worte fand: „Farbigkeit ist für mich etwas Subjektives und somit schwer vermittelbar. Mein Auge ist glücklich mit Grau. Und Weiß ist auf eine Art mein Farbfavorit, mehr als alle anderen. Und Schwarz mag ich, weil es mir nichts abverlangt.“
Die Journalistin fragte weiter: „Würden Sie sich selbst als exzentrisch bezeichnen, Frau Lafleur?“, und wurde mit einer lapidaren Antwort bedacht: „Ich weiß nicht, ich mache gedanklich um mich selber meistens einen Bogen.“

Jetzt sah ich meine Chance und hob die Hand: „Sind Sie hier so ganz allein in dieser Fabrikhalle nicht manchmal einsam?“
Es traf mich ein kurzer gekränkter Blick, sie hob an und bewegte die Lippen, hatte aber in diesem Augenblick ihre Stimme verloren.
Es erhob sich empörtes Geraune der Kollegenschaft ob meiner Unverfrorenheit, und ich kassierte einen Rempler in meine Rippen, ausgeteilt von meinem Fotografenkollegen.

Eineinhalb Stunden waren vergangen, alles Mögliche gefragt und beantwortet worden, auch ich konnte noch eine akzeptable Frage platzieren und war zufrieden. Der Sonne ging langsam die Kraft aus, die Schatten in der Halle wurden länger, der Spatz war verschwunden, Leonie sah angestrengt aus; die Hunde lagen matt zu ihren Füßen.

Beim Weg hinaus verlor sich mein Blick noch einmal im Sog des grauen Interieurs. Leonie Lafleur verabschiedete sich von allen Anwesenden mit einem persönlichen Händedruck.
Mich traf ein einigermaßen luzider Blick aus spöttischen Augen und sie meinte mit leicht gesenkter Stimme: „Danke, dass Sie hier waren, viel Erfolg beim Schreiben, und um Ihre erste Frage letztlich doch noch zu beantworten: Ja, ich fühle mich manchmal einsam.“ Es folgte umstandslos und unerwartet ein dezent kokettes Lächeln, das ich wohl mit einem recht tumben Blick erwidert haben musste, weil sie ein leises Lachen hören ließ.

Sie möchten bestimmt wissen, ob ich damals mit der Offensive der schillernden Künstlerin etwas anfangen konnte. Nun ja, wie ich schon sagte, die Geschichte nahm damals einen Anfang, jedoch war sie von kurzer Dauer und mager an Erzählenswertem. Leonie Lafleur gewachsen zu sein, dazu bedurfte es schlicht mehr Erfahrung, als ich sie hatte.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schau’n | Inventarnummer: 18135