So war es eben

Am Morgen des achten November 2014 verließ Egon Pichler sein Haus am Rande eines Dorfes namens Gratwein. Es war kalt und der Wind wehte eisig, dennoch setzte sich Egon unter einen Apfelbaum auf seinem weitläufigen Grundstück. Vor genau einem Jahr war seine Ehefrau im Alter von dreiundachtzig Jahren gestorben. Karla, so hatte sie geheißen, war sieben Jahre jünger gewesen als er.

Den Besuch an ihrem Grab hatte er bereits am Vortag hinter sich gebracht. Seine Tochter Helene hatte ihn dorthin gefahren. Er hatte einen Strauß rote Rosen auf die Grabplatte gelegt und mit Helene über die beiden Toten gesprochen, die im Grab lagen. Neben seiner Frau ruhte sein Sohn Heinrich, dessen Leben im Alter von neununddreißig Jahren geendet hatte.

Helene hatte ihrem Vater ein schweres, in weiches Tuch gehülltes und mit festem Garn verschnürtes Bündel ausgehändigt.
„Das ist alles, was ich von Heinrich habe. Ich habe es über die Jahre aufbewahrt, damit es nicht in Vergessenheit gerät; und auch um ihn nicht zu vergessen“, hatte sie gesagt.
„Warum hast du es mir nicht schon früher gegeben?“, hatte Egon gefragt. Verständnislosigkeit hatte in seinem Blick gelegen.
„Weißt du, ich habe lange Zeit mit mir gerungen, ob ich dir und Mutter das zumuten kann.“
„Aber natürlich hättest du es uns zumuten können! Ich verstehe nicht, warum du so lange damit gewartet hast. Nun ist Karla tot und hat nichts mehr davon!“
„Ich denke, so ist es besser. Was Heinrich hinterlassen hat, hätte ihr bestimmt das Herz gebrochen, glaube mir.“
„Worum handelt es sich denn?“
Helene, Heinrichs Schwester, hatte plötzlich Tränen in den Augen.
„Einfach um die Wahrheit. Um nichts anderes als die Wahrheit.“
„Ich verstehe“, hatte er gesagt.
Seine Tochter hatte den Tonfall in seiner Stimme bemerkt. Es war der für ihn typische, mit dem er auf ebenso unangenehme wie unabänderliche Tatsachen zu reagieren pflegte.

Nachdem er von seiner Tochter wieder nach Hause gebracht worden war, hatte er das Bündel geöffnet und zu lesen begonnen, was sein Sohn geschrieben und dessen Schwester chronologisch geordnet hatte.
Er hatte mit dem Ende begonnen, mit dem letzten Blatt Papier, das von Heinrich beschrieben worden war. Es war der Abschiedsbrief seines Sohnes. Er war an Helene adressiert und ihr wurde darin freigestellt, ihn ihre Eltern lesen zu lassen.

Heinrich Pichler war im Alter von neununddreißig Jahren gestorben. Ein Unglück unter Alkoholeinfluss, hatte es geheißen, ein unglückliches Ausrutschen, ein tiefer Fall und vorbei war es. Heinrichs Mutter Karla hatte eine Weile an dieser Version gezweifelt. Ihr war die Not, unter der ihr Sohn gelitten hatte, durchaus bewusst gewesen und sie hatte den Verdacht, dass er keinem Unfall zum Opfer gefallen war. Nach einer gewissen Zeit jedoch hatte sie ihrer Tochter gerne Glauben geschenkt, die nie auch nur ein Jota von der Version eines Unfalls abgerückt war. Auf diese Weise konnte sie den Verlust ihres Erstgeborenen leichter verkraften.
Egon Pichler, der nie ein besonders gutes Verhältnis zu Heinrich gehabt hatte, war sich über all die Jahrzehnte nicht sicher gewesen, ob es ein Unfall gewesen war. Jedenfalls hatte er den Tod seines Sohnes als unveränderliche Tatsache akzeptiert und im hintersten Winkel seines Gehirns abgespeichert. Selten nur hatte er die Erinnerung an sein Kind daraus hervorgeholt und vor sein geistiges Auge geführt.
Diese Erinnerung war bald nach Heinrichs Tod verblasst.

Sein zweites Kind, Helene, hatte ihm vom Tage ihrer Geburt an näher gestanden, als sein Sohn dies je vermocht hätte.
In der Schule war sie strebsam gewesen, hatte danach Klavier studiert und dank der Beziehungen ihres Ehemannes eine einigermaßen respektable Karriere als Pianistin gemacht.
Heinrich hatte zwei Klassen wiederholen müssen, sein Studium abgebrochen und sich in Wien als Schriftsteller versucht.
Zeit seines Lebens waren ihm Ruhm und Erfolg versagt geblieben, erst nach seinem Tod hatte sein Werk ein wenig Anerkennung erfahren.
Für Egon Pichler war das nur allzu verständlich gewesen.
„Was Helene an Kunst erschafft, wird Heinrich in fünf Leben nicht zustande bringen!“, hatte er oft zu seiner Frau gesagt.
„Ja, leider“, hatte diese geantwortet.
„Welche Stücke sie spielen kann, und in welcher Perfektion – das ist allerhand! Sie wird eine große Karriere machen, da bin ich mir sicher!“
In der Tat hatte sie eine große Karriere gemacht, aus Gratweiner Sicht.

In kleinen Dörfern zählt es mehr, wenn ein Mensch aus der Mitte der Dorfgemeinschaft ein von einem anderen Menschen komponiertes Musikstück exakt zu spielen vermag, als wenn ein Mensch kraft seiner Kreativität ein noch nie dagewesenes Werk erschafft. Ersteres ist für Dorfmenschen sowohl leichter nachvollziehbar als auch nachprüfbar.
So war es auch bei Heinrich und Helene Pichler gewesen.

Diesen Umstand hatte Heinrich in seinem Abschiedsbrief sehr wohl angeführt, jedoch ohne Neid auf seine Schwester oder Vorwürfe an seine Eltern. ‚So war es eben‘, hatte der entsprechende Absatz im Brief geendet.
Nachdem er diesen zu Ende gelesen hatte, war Egon Pichler in seine Küche gegangen, um sich Gin einzugießen. Das Glas neben sich, hatte er die Kurzgeschichten gelesen, die sein Sohn kurz vor seinem Tod verfasst hatte. Sie waren allesamt düster und, wie die Handschrift erkennen ließ, in angetrunkenem Zustand geschrieben worden. Sie handelten von Todesahnungen und von Verlust, jedoch legten sie nicht offen, worin Heinrichs erlittener Verlust bestanden hatte.
Egon hatte versucht sich vorzustellen, wessen sein Sohn verlustig gegangen war, doch keine Person oder Sache war ihm in den Sinn gekommen.
Nach dem Abendessen hatte er Heinrichs Texte weitergelesen.
Er war bald dahintergekommen, dass sie, je älter sie waren, desto lebensbejahender und voller Hoffnung auf eine gute Zukunft geschrieben worden waren.
In vielen Erzählungen hatte Egon Pichler sich und seine verstorbene Ehefrau erkannt, auch wenn sein Sohn seine Eltern niemals mit ihren wirklichen Namen erwähnt und sie auch nie an den Pranger gestellt hatte. Er hatte zwar sehr wohl Begebenheiten aus seiner Jugend angeführt, doch hatte er stets so formuliert, dass seine Verwandten deswegen nicht hätten böse sein können.
Die frühesten Texte seines Sohnes hatte Egon nur überflogen, denn es war bereits spät und er war müde.
Am nächsten Morgen las er auch diese. Sie waren ungelenk geschrieben, hatten keine klare Botschaft und bereiteten Egon keine große Freude beim Lesen.
Er war auf dem Gebiet der Literatur wenig bewandert, hatte nie viele Bücher gelesen, und nur selten die von seinem Sohn verfassten Texte. Dennoch war es ihm unmöglich, eine gewisse literarische Qualität zu negieren, vor allem in den Werken aus Heinrichs mittlerer Schaffensperiode, also jenen, die nach seinen dilettantischen frühen Werken entstanden waren.

Er las diese Texte ein zweites Mal und erkannte, dass sich zwischen den Zeilen einiges verbarg, was ihm bei der ersten Lektüre entgangen war. Das, was darin verborgen war und ihm nun mitgeteilt wurde, führte Egon vor Augen, wie wenig er seinen Sohn gekannt hatte. Er erfuhr, wer Heinrich Pichler wirklich, was für ein Mensch sein Sohn gewesen war.
Er schämte sich.
Er fand viele Parallelen zu sich selbst, was Gedanken, Gefühle und Handlungen anging. Er hätte in den entsprechenden Situationen auf die selbe Weise gedacht, gefühlt und gehandelt wie die jeweiligen Personen in den Kurzgeschichten, hinter welchen sich, wie er erkannt hatte, niemand anderer als sein Sohn Heinrich verbarg.

Er wurde sich einer Tatsache schmerzlich bewusst: Nämlich der, dass er sich mit Heinrich zwar unterhalten hatte, dies sogar oft, doch niemals mit ihm gesprochen hatte. Er hatte ihn in beinahe jedem Gespräch spüren lassen, dass er im Gegensatz zu seiner Schwester die in ihn gesetzten Erwartungen nicht erfüllte, jedoch ohne dies offen auszusprechen. Das wäre auch nicht notwendig gewesen, Heinrich hatte auch so verstanden, dass er weniger wert war als Helene, wie Egon einigen von Heinrichs Texten entnehmen konnte.
Sein Sohn hatte auf die selbe Art und Weise reagiert wie viele junge Männer in einer ähnlichen Situation. Er hatte es, wann immer das möglich war, vermieden, mit seinem Vater über Dinge zu sprechen, die nicht Wetter, Sport oder Politik betrafen. Egon Pichler war das nicht entgangen, doch hatte er einfach keine Lust gehabt, etwas daran zu ändern.

Das Telefon klingelte, Helene war am anderen Ende der Leitung.
„Wie geht es dir, Papa? Hast du Heinrichs Texte gelesen?“
„Ja, Helene, das habe ich. Einige sind wirklich gut.“
„Hast du schon alle gelesen?“
„Ja.“
„Was sagst du zu seinem Brief?“, fragte sie.
„Ich habe immer gewusst, dass er sich etwas angetan hat. Der Brief ist nur der Beweis, dass ich recht hatte.“
„Und seine Kurzgeschichten?“
„Nun.“ Egon Pichler zögerte. „Er hatte recht, in vielerlei Hinsicht.“
„Ja, das hatte er wohl. Siehst du ihn nun mit anderen Augen?“
„Ich sehe ihn zum ersten Mal so, wie er wirklich war. Also ja, ich sehe ihn mit anderen Augen.“
„Dann hat es etwas gebracht, dass ich dir die Texte gegeben habe.“

Egon Pichler saß unter seinem Apfelbaum und dachte erst an seine Ehefrau Karla und dann an seinen Sohn Heinrich. Nach etwa dreißig Minuten seufzte er „So war es eben“ und ging in sein großes einsames Haus zurück.
Er stieg auf den Dachboden und kramte in einer verstaubten Kiste. Darin hatte seine Frau die wenigen Literaturzeitschriften, die Texte ihres Sohnes abgedruckt hatten, verwahrt. Er zog sie heraus, wischte den Staub mit dem Ärmel seines Pullovers ab und ging mit den Heften unter dem Arm ins Wohnzimmer. Dort las er jene Kurzgeschichten von Heinrich, die von den Redaktionen für veröffentlichungswürdig befunden worden waren. Sie gefielen ihm gut, weit besser als vor vielen Jahren, als er sie das erste und bis zu diesem Tag einzige Mal gelesen hatte.
Er ging mit den Magazinen wieder auf den Dachboden, doch brachte er es nicht fertig, sie in die staubige Kiste zurückzulegen. So schuf er Platz auf seinem Nachttisch. Auf die frei gewordene Fläche legte er die Zeitschriften mit Heinrichs Beiträgen.
Dadurch war er seinem Sohn näher, als er es zu dessen Lebzeiten je gewesen war.

An sechzehnten Dezember schloss Egon Pichler seine Augen für immer.
Er hatte seinen Tod kommen sehen und entsprechende Vorkehrungen getroffen.
Als seine Tochter das Schlafzimmer ihrer Eltern betrat, fiel ihr sogleich der niedrige Stapel Magazine auf, der auf dem Tisch neben dem Bett lag. Darauf lagen, in ein Tuch eingewickelt, Heinrichs Texte, die sie ihrem Vater gegeben hatte, und auf dem Bündel ein Blatt Papier.
‘Liebe Helene!’, stand darauf. ‘Ich bitte dich um einen Gefallen: Lass in den Stein des Grabes, in dem ich mit Karla und Heinrich ruhen werde, folgende Worte einarbeiten: ‘So war es eben.’ Danke! Papa’

Leider ist es oftmals eben so, dass Nähe erst dann Eingang in das Leben eines Menschen findet, wenn ein anderes Leben bereits zu Ende gegangen ist.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary |Inventarnummer: 18131