Schreibend

Um zu schreiben, so dachte er, muss man sich einfach hinsetzen und seinen Gedanken freien Lauf lassen. Dass dies Arbeit erfordern könnte, war ihm nie in den Sinn gekommen. Henrik hatte mit seinen 59 Jahren von Camus bis Kehlmann alles gelesen und hatte die letzten Jahrzehnte damit verbracht, eine beachtliche Sammlung von Erstausgaben der klassischen Literatur anzulegen. Sein besonderer Stolz war eine signierte Erstauflage von Madame Bovary, die er in Paris bei einem Stand auf der Porte de Clignancourt zu einem Spottpreis von dreißig Francs ersteigern hatte können.

Seiner Frau hatte Henrik angekündigt, einen Roman zu schreiben. Einen Roman, von dem man leben könne. Also sprich, ein außerordentliches Epos, das sowohl Kritiker als auch das Lesepublikum in nachhaltige Begeisterung versetzen sollte. Sechs Wochen, hatte seine Frau gesagt. Du hast sechs Wochen. Nimm dir Urlaub. Nach sechs Wochen würde sich die Sache schon weisen.

Die erste Woche verging wie im Flug, er schlief lange, so lange, wie er es seit dreißig Jahren nicht mehr getan hatte. Dann frühstückte er ausgiebig, las die Zeitung und marschierte mit breitem Sonnenhut, einem Stapel Papier und seiner Federschachtel unterm Arm in den Garten. Dort in der Laube, umgeben vom Duft der Rosen und des wilden Weines, ja, dort sollte er seinen Roman beginnen.

Schriftsteller wollte er immer schon werden. Seit er ein kleiner Bub gewesen war und die ersten Zeilen der Wild-West-Romane seines Bruders gelesen hatte. Schreiben, so, dass die staubige, menschenleere Weite der Prärie vor dem geistigen Auge auftaucht, so, dass man die Schüsse knallen hört und die Cowboys und Indianer bluten sieht. Doch weder sein Vater noch seine Mutter waren begeistert. Schriftsteller, das war kein Beruf. Das war kein Leben.

Dennoch begann Klein Henrik alles aufzuschreiben, was ihm in den Sinn kam. Er kritzelte bis spät in die Nacht auf dem alten Zeitungspapier, das eigentlich schon zum Verheizen hinterm Ofen gelegen hatte. Wenn die Mutter es fand, las sie es und lobte ihn für sein „schönes Talent“, aber es landete dennoch jedes Mal in den unerbittlichen Flammen des Kachelofens.

Als er in der Schule durch seinen immer verträumten Blick aus dem Fenster auffiel, empfahl man den Eltern, dem Jungen jegliche Ablenkung zu entreißen. Seine Bücher wurden in einer Kiste auf den Dachboden verbannt, seine Bleistifte wurden in Mutters Kleiderschrank Nacht für Nacht versperrt und in der Früh zurück in den Rucksack gesteckt und jeder gelesene Zeitungsabschnitt wurde sofort verbrannt, damit keinerlei Ideen in dem Kopf des Jungen nisten könnten. Die einzigen Bücher, die ihm geblieben waren, waren die Schulbücher. Ein Stapel unscheinbarer, lustleerer Ansammlungen von quälend langweiligen Vorstellungen, wie das Leben zu lernen und zu leben war. Leidend büffelte er Mathematik und Chemie, er hasste Zahlen. Sie waren unschön, unromantisch und farblos. Er hatte nie einen hässlicheren Klang gehört als das Wort Substitution.

Im Gymnasium schrieb er die schönsten Texte, wurde gelobt und durfte sogar einmal ein Gedicht vor der versammelten Schulgemeinde nach der Weihnachtsmette vortragen. Gut, sagten seine Eltern. Du kannst schreiben, das wird dir beim Studium helfen. Also studierte Henrik Jura. Er schrieb lange Gesetzestexte, formulierte Klagen, konzipierte Briefe und hatte in seiner Karriere abertausende Aktenblätter ausgefüllt.

Er hatte während seines Studiums, bei der ersten Stelle am Gericht und bis er dann endlich seine eigene Kanzlei eröffnet hatte, kein einziges Mal allein zur Freude seiner Schriftstellerseele geschrieben. Erst als er Mitte dreißig war, schrieb er ein paar Leserbriefe und Kommentare an verschiedene Zeitungen, deren Veröffentlichung ihn immer in Höchstlaune versetzte.

Dann, einem lang verdrängten Trieb folgend, begann er wieder zu lesen. Und die ersten Bücher waren wie Tropfen auf einen heißen Stein. Es waren Bücher seiner Frau gewesen, die er immer am Nachttisch vorfand und zu denen er aus reiner Neugierde gegriffen hatte. Geschichten voller Herzeleid und flacher Charaktere, die zu erforschen zu blass waren.

Dennoch las er sie, saugte die Worte auf wie ein Verdurstender das Wasser in der Wüste. Danach las er alles, wofür er nie Zeit gehabt hatte. Ein, zwei Bücher in der Woche lesend bis spät in die Nacht. Jeden Samstag ging er in die Bibliothek, durchstreifte die Gänge, wie ein Raubtier auf der Suche nach seiner nächsten Beute.

Nun, endlich. Mit 59 Jahren sollte er seinen ersten Roman schreiben. Und was für einen noch dazu! Er saß nun mit ausgestreckten Beinen unterm Blätterdach der lieblichen Gartenlaube und sinnierte. Es fiel ihm ein, dass sein Großvater immer mit Pfeife sinniert hatte und wie sehr ihn das immer beeindruckt hatte. Also fuhr er in die Stadt und kaufte sich Tabak und Pfeife.

Als die erste Woche vorbei war, hatte er kein einziges Wort geschrieben. Doch anstatt zu verzweifeln, fühlte er sich so befreit wie noch nie. Er summte, kochte seiner Frau Abendessen und putzte sogar die Fenster, mähte den Rasen und pflanzte Blumen ins Balkongitter.

Nach der zweiten Woche fragte ihn seine Frau, ob sie denn schon etwas lesen dürfe. Henrik schüttelte den Kopf. Es sei noch zu abstrakt, die Ideen seien noch luftleer, und er hätte noch keinen konkreten Handlungsbogen.

Als er bei der Hälfte der vereinbarten sechs Wochen angekommen war, wurde Henrik unruhig. So, sagte er sich, setzt dich hin und schreib. Also setzte er sich hin. Also schrieb er. Er schrieb übers Wetter, über den Garten, über seine Frau. Dokumentarisch. Wie ein Jurist zählte er Vor- und Nachteile auf und schilderte detailgetreue Verläufe von Ereignissen. Das war keine Schriftstellerei. Das war Beamtendeutsch. Wütend zerriss Henrik jeden Abend, was er geschrieben hatte, und verbrannte es im Griller.

Zu dieser Zeit begann er intensiv zu träumen. Charaktere und Ideen flogen wirr in seinem Kopf herum, doch als er aufwachte verblassten sie. All die ungeschriebenen Worte, all die Geschichten und Abenteuer, die ihm als Junge so leicht aus der Feder gekommen waren, schienen jetzt versiegelt und vergraben unter den Jahren seines Lebens.

Während die fünfte Woche anbrach, weinte Henrik sich in den Schlaf. Hatte er es verlernt? War das, was er immer aus tiefster Seele geliebt, ja, was sein innerstes Wesen ausgemacht hatte, ihm nun für immer abhandengekommen?

Panik stieg in ihm hoch, und er las bis spät in die Nacht, begann seine Lieblingsromane, verwarf sie wieder, griff zu neuen Büchern, suchend nach Ideen, nach Inspiration, bis er erschöpft in seinem Ohrensessel und umgeben von knisterndem Papier einschlief.

Er verfluchte seine Eltern, seine Frau und sich selbst. Wie hatte er es zulassen können, dass er sein Leben der niedrigen Laufbahn eines Juristen widmete und nicht der eines Schöpfers, eines Fantasten und Verseschmiedes?

Ende der sechsten Woche resignierte Henrik. Geknickt saß er vor einem Stapel unbeschriebenen Papiers und gestand sich sein Versagen ein. Er würde seiner Frau alles erzählen, er würde am Montag wieder in die Kanzlei gehen und bis zum Ruhestand als braver Diener des Staates sein Bestes geben. Vielleicht in der Pension dann, wenn er wirklich Zeit hätte. Ja, tröstete er sich, dann würde er seine Glanzstunde als Autor haben.

Henrik ging durch den Garten, atmete die süße Schwere der Abendluft ein und atmete tief aus. Er betrachtete den Mond und die ersten aufglimmenden Sterne und empfand eine allumfassende Seelenruhe. Dann schritt er gemächlich hinein, setzte sich an den Küchentisch und schrieb bis zum Morgengrauen.

Nene Stark

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