Das größte Missverständnis der Weltgeschichte

Viel ist nicht im Gedächtnis geblieben – nur ein unklares Bild und ein gemischtes Gefühl. Auch der Zeitpunkt ist eine Rekonstruktion.
Das Bild: Ich sitze auf den Schultern meines Vaters, winke und weine.
Weine und winke. Weiter drüben steht ein Zug mit Menschen und einer mit verhülltem Kriegsgerät. Das Gefühl bleibt undeutlich. Warum ich winke und weine, das weiß ich nicht mehr, und auch nicht, ob aus demselben Grund wie die Erwachsenen. Die Russen ziehen ab. Österreich ist frei! Ein ferner Klang. Gab es bei uns ein Festessen, ein Gebet, einen Gottesdienst?
Ich persönlich stand ja mit den Russen, den Besatzern, auf vertrautem Fuß.

Auf dem Weg zur Volksschule kamen meine ältere Schwester und ich am Gasthaus Kaindl vorbei, das von der Besatzungsmacht als Soldatenquartier requiriert worden war. Diese hatten wenig zu tun und lümmelten im Gastgarten herum, wenn die Schulkinder vorbeikamen. Sie erwarteten uns, geradezu freudig und sehnsüchtig, so hab ich es in Erinnerung. Immer hatten sie kleine Geschenke für uns bereit. Ein Bonbon, eine Rippe Schokolade, ein Weißbrot. Das kannten wir damals noch nicht. Die erste Schokolade und das erste Weißbrot meines Lebens habe ich von sowjetischen Besatzungssoldaten bekommen, so viel ist sicher. Und wir waren ärmer als sie. Das Schönste aber war, wie sich mit uns beschäftigten. Sie brachten uns Kinderlieder und Auszählreime bei. Einen erinnere ich bis heute: Meschdu nami durakami, jest odin bolshoi durak, raz, dwa, tri, eto werno ty. Unter uns Narren ist ein großer Narr, 1, 2, 3 und der bist du. Man zeigte dabei mit dem Finger reihum. Das war nie bös gemeint, immer lustig und wir konnten das ohne Ende wiederholen. Vielleicht haben die russischen Soldaten die Grundlage für meine Neugier gelegt, wie sich unsere Versmaße und Reime von den ihren unterscheiden.

Die Zahlen von 0 bis 10, guten Tag und auf Wiedersehen, bitte und danke. Sie spielten auf der Balalaika, warfen uns in die Luft und fingen uns in ihrem Kreis wieder auf, dann kamen die ersten Kasatschok-Schritte. Was für ein herrliches Leben! Wir hielten unsere Begegnungen vor den Erwachsenen geheim, denn der Kontakt mit den Russen war das strikteste von allen Verboten. Was soll’s, wir hatten unser süßes Geheimnis. Was sie uns schenkten, mussten wir sofort verschlucken oder auf dem kurzen Weg bis zur Schule aus den feuchten Handflächen auflecken. Der süßeste Schulweg!
Die Eltern wunderten sich nur, dass wir so früh zur Schule gingen.
Köpfe mit blonden Locken streicheln, vielleicht an Stelle ihrer lange nicht gesehenen oder noch ungeborenen Kinder. Aber das sind viel spätere Überlegungen.

Auch der Besatzungsarmee war Feindberührung – Kontakt mit der Bevölkerung – strengstens untersagt. Das Nachmittags-Vergnügen spielte sich in der Öffentlichkeit ab. Genau um drei Uhr rückten die Soldaten in Formation aus der Kaserne aus, zogen durch die Stadt und durch die Zandt-Allee zur Donaulände hinunter. Dabei sangen sie aus voller Kehle die herrlichsten Lieder vom Don und der Wolga, begleitet von einem Musikzug. So prächtig schmettern konnte der Kirchenchor von St. Stephan nicht. Die Kinder liefen neben ihnen her, die mutigsten Buben hatten sich aus Holzlatten oder Ästen Gewehre geschnitzt und ahmten ihren Stechschritt nach. Sie ließen sich aber nicht aus der Ruhe bringen, das Kinn hochgereckt, der Blick starr nach vorne gerichtet, sie marschierten so geordnet und kerzengerade aufrecht wie die alten Linden in der Allee standen. Ich mochte die Volkslieder lieber als die militärischen. Sie klangen näher unseren Liedern. Slavnoje morje, svjaschtschonnj Baikal – der heilige Baikal. Eij uchjnem, stöhnen die Wolga-Treidler. Die schwarzen Augen von Moskau. Mir schien damals, dass es kein schöneres Leben gibt als das eines russischen Soldaten.

Es muss ein seltsames Stimmungsgemisch gewesen sein, das mich bei ihrem Abzug bewegt hat. Das Gefühl kann ich nicht wieder heraufbringen, nur die Bilder, die sind eingebrannt, abfotografiert und unter der Schädeldecke gespeichert. Wir stehen auf dem Bahnhof in Tulln in einer gedrängten Menge. Es nieselt und es ist kalt. Die weiter entfernten Gleise mit dem eingepackten Kriegsgerät sind im Nebel kaum zu sehen. Grau-grün gefleckte Ungeheuer strecken Rohre empor. Die ganze Stadt ist gekommen. Vor mir und rund um mich dicht an dicht gepresste Menschenleiber, Köpfe und Schultern. Ich bin sicher, dass Hüte geschwenkt werden und viele Hände zum Winken in die Höhe gestreckt sind. Vielleicht spielt eine Blasmusikkapelle, singt ein Kinderchor, schwingt ein Pfarrer das Weihrauchfass und wedelt mit dem Weihwasserbesen, vielleicht lüpft der Stationsvorsteher seine Kappe, salutiert und hält die rote Scheibe hoch. Los geht’s, ab in Richtung Osten und bitte auf Nimmerwiedersehen. Kann leicht sein, dass die sowjetische Militärmusik noch das letzte Ständchen gibt.

Am oberen Rand des Bildes sehe ich einen Zug stehen. Aus den Fenstern und auf den Stufen hängen ganze Trauben von Männern, die ebenfalls winken und weinen. Sie schwenken Kappen und recken Gitarren in die Höhe. Die Münder sind weit aufgerissen, „Urra, urra-urra-aahh“, wahrscheinlich, denn hören kann ich sie nicht, es ist ein Stummfilm.
Die abziehenden Russen weinen, und die Tullner weinen, wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Sie weinen gegen einander an. Oder war es doch ganz anders? Vielleicht haben die einen nur die anderen angesteckt, so wie Lachen und Gähnen ansteckend ist. Oder wissen sie schon, dass Stalin alle Heimkehrer aus dem kapitalistischen Westen sofort in Lager stecken ließ? Stalin war schon zwei Jahre tot, aber sein Nachfolger Chruschtschow war auch nicht gerade für seine Menschfreundlichkeit bekannt.

Es wird irgendwann vor dem 26. Oktober 1955 gewesen sein, an dem die ausländischen Truppen laut Staatsvertrag das Land verlassen haben mussten.
Warum die einen und die anderen weinten, sangen, Hüte und Kappen in die Luft warfen, verstand ich viele Jahre lang nicht und kümmerte mich auch nicht darum. Nur dass die Österreicher vor Glück weinten und vor Erleichterung – „Österreich ist frei!“ Was war vorher? Waren wir unfrei, gefangen, in Käfigen? Wir liefen doch frei herum? Aber jetzt ist alles gut. Das war das allgemeine Gefühl, das sogar die Kinder vermittelt bekamen. So wie die Angst nur ein Jahr später im ungarischen Herbst und wieder im August 1968 nach dem Ende des Prager Frühlings.

Blende, Zeitsprung zum Ende des 20. Jahrhunderts.
Ich lebte in Moskau und leitete das Kulturinstitut an der österreichischen Botschaft. Einmal wird mir ein Mann gemeldet. Er will privat mit mir sprechen. Meine Sekretärin führt einen alten Mann herein, Typ sowjetischer Rentner, flache Leninkappe, schlechtes Schuhwerk, schlechter Anzug, schlechte Zähne, eine abgeschabte Aktentasche, die vielleicht einmal etwas Offizielles beinhaltet hat. Ich nenne ihn Dmitrij Semjonowitsch Iwanow. Er stellte sich vor als ehemaliges Mitglied der 23. Ukrainischen Armee, Befreier Österreichs mit Stationierung in Baden, später in Tulln. Ich sinke in meinem Bürostuhl zurück und versuche schnell zu rechnen, vor wie vielen Jahren, von 1999 zurück zu 1955, das sind 44 Jahre. Bilder rasen durch den Kopf. Der Zug auf dem Bahnhof. War er einer von den jungen Russen, die uns mit Bonbons beschenkt haben, uns Liedchen vorgespielt und Auszählreime beigebracht haben? Ich frage ihn das auch. Ja, möglich. Er war in Tulln, die letzten beiden Jahre, also 1954 und 1955. Ich prüfe ihn. Wo hat er gewohnt, im Gasthof in der Wilhelmstraße? Nein, er war in der Kaserne einquartiert. Sind Sie am Nachmittag um drei durch die Stadt marschiert, die Zandt-Allee hinunter zur Donaulände und zurück in die Kaserne? Das erste Ausrücken fand um 10 Uhr am Vormittag statt, aber da waren wir ja in der Schule.
Ja, das war so.

Die Donaubrücke war eingestürzt.
Richtig, von den Nazis gesprengt bei ihrem Rückzug. Die Stadt schwer zerbombt mit vielen Opfern in der Zivilbevölkerung.
Ja, da gingen die Alliierten heftig drein, wegen der Raffinerien, Fehlabwürfe.
Sie hatten falsche Landkarten.
Alles stimmt.
Sind Sie in der Zandt-Allee marschiert und haben gesungen?
Und sind Sie dabei von Kindern begleitet worden?
Ja, auch daran kann er sich erinnern.
Sie haben uns geliebt.
Ich war eines von ihnen.
Der Stolz über sein Heldenleben ließ sein Gesicht erglühen und fast jung aussehen.
Warum waren Sie so freundlich zu uns?
Wir haben den Krieg beendet, gesiegt und euch avstrizi vom Nazi-Terror befreit. Das österreichische Volk war dankbar dafür. Vielleicht nicht alle, aber man muss bei den Kindern anfangen.
Na, das habe ich anders in Erinnerung, sage es aber nicht laut.

Plötzlich werden die Bonbons und die schmelzende Schokoladenrippe in meiner Hand bitter, die Weißbrot-Semmeln sauer, die Lieder klingen falsch, die Balalaika zerspringt – war das alles nur ideologische Umerziehung der siegreichen Besatzer? Niemand sagte bei uns Befreier, niemand war dankbar, alle hatten nur Angstangstangst, manche sicher auch Hass.
Aber der Austausch von Erinnerungen ist nicht das Ziel des Besuches. Er konnte ja nicht wissen, wer hier in der Botschaft sitzt. Er öffnet seine Aktentasche und zieht ein abgegriffenes Album hervor. Avstrija 1954-1955 steht darauf in geschnörkelter Handschrift.
Die Seiten, dick wie Pappe, werden geteilt von Spinnenpapier, eingeklebte Bildchen, schwarz-weiß, klein und vergilbt. Auf den hinteren Seiten klebten Bleistift-Zeichnungen. Ich blättere schnell durch. Währenddessen murmelt Dmitrij Semjonowitsch, fast nur für sich.
Das war eine schöne Zeit, die schönste meines Lebens. Österreich ist schön. Wir waren jung, waren Sieger, die ganze Welt stand uns offen. Stalin war der Führer aller Völker.
Was will dieser Mensch jetzt von mir? 44 Jahre später.

Er zeigt auf zwei Fotos, die einen Mann zeigen, der ein Gebäude betritt. Auf einem sieht man ihn auf einer Treppe, auf dem anderen zieht er eine große Tür auf und dreht sich dabei zum Fotografen um, ein Lachen im Gesicht.
Das bin ich, erklärt Dmitrij Semjonowitsch, auf dem Schillerplatz, vor der Akademie, im Rücken das Schiller-Denkmal. Ein Genosse hat mich begleitet und mich fotografiert. Ich wollte an der Akademie studieren, ich liebe die Kunst immer schon und bin gut im Zeichnen. Das sagten sogar meine Vorgesetzten.
Jetzt ist er seit kurzem in Pension und möchte sich seinen Jugendwunsch erfüllen, an der Wiener Akademie zu studieren. Ob ich ihm da helfen könnte. Das war sein Anliegen.
Er liebt Österreich und alle seine Künstler, Mozart und Beethoven, Haydn und Schubert, Klimt und Schiele. Ein zweites Album holt er heraus mit bunten Reproduktionen von seinen Ikonen im Klimt-Stil. Eine Akademie oder zumindest eine Abteilung soll ihn aufnehmen. Ich verschlucke mich fast an meinem Tee. Er hat dazu beigetragen, Österreich zu befreien, und Österreich könnte ihm jetzt etwas zurückgeben. Aber sicher nicht einseitig, er habe ja auch etwas zu bieten. Klimt hat Ikonen gemalt, wusste es aber selbst nicht. Und die Wiener auch nicht. Das würde er jetzt gerne zu gegenseitigem Nutzen vermitteln.

Voll Beamtin, erkläre ich ihm die Aufnahmebedingungen in die Wiener Kunstakademie und dass es da keinen Kriegs-Befreier-Bonus gibt, sondern nur künstlerische Kriterien. Die würde aber nicht ich bestimmen, sondern die Künstler und Professoren. Un-mög-lich! Nje-wos-mosch-no! Tutmirleid. otschenschalj. Ich bin am Ende meiner Nerven, gleichzeitig völlig fasziniert von dieser Zeitverschränkung, seiner Geschichte, die sich mit meiner kreuzt. Möglich, dass er einer von den Soldaten war, die unsere blonden Lockenköpfe gestreichelt, uns die Bonbons aus der Ration aufgespart hatten, das platt gedrückte Weißbrot aus der Uniformbluse, im Garten des Gasthofes Kaindl. Wenn ich mich verdammt noch einmal daran erinnern würde, wie er hieß.

Wien, 25.10.17

Veronika Seyr
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Erstveröffentlichung in Literatur und Kritik, Heft Mai 2018

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