Baujahr 1967 - Summer of Love

geschrieben anlässlich von Ö1-Dimensionen im Sommer 2017

Ich bin nicht Geburtsbaujahr 67, sondern 48. Aber 1967 war in vieler Hinsicht ein Neuanfang, mein Schritt in die Neue Welt, in die Welt überhaupt. So scheint es mir. Nach der Matura begann ich an der Universität Wien Dolmetsch zu studieren, Russisch-Englisch, im Nebenfach Psychologie. Beides ungeliebt, zwei falsche Entscheidungen. Überhaupt war die ganze Uni eine bodenlose Enttäuschung, keine Uni-Versität. Nichts von der in den qualvollen Schuljahren erträumten Freiheit.

Noch ein Jahr und noch eins, dann bin ich durch und weg. Dann kann mir niemand mehr etwas anhaben. Frei. Noch mehr Zwang, und das ohne den relativen Schutz eines kleinen Provinzgymnasiums. Ein gehasstes Studium, obwohl ich Erfolge erzielte, d. h. gute Noten, die mir ein Begabten-Stipendium einbrachten. 500 Schilling pro Semester für den Notendurchschnitt von 1,2. Kein Sozial-Stipendium, dazu waren meine Eltern zu reich, obwohl sie nur kinderreich waren.
Sechs Geschwister, von denen vier vor mir studierten. Von Anfang an war ich auf der Suche nach etwas anderem. Sammelte wie ein Hamster das andere, schnüffelte an vielem herum. Als Halb-Landpomeranze mit eigenwilligen Träumen hatte ich die Illusion, mit dem Dolmetsch-Studium in die UNO an den East River zu kommen. Nebenbei ging ich auf das philosophische Institut und hörte Vorlesungen bei den Professoren Mader und Heintel jun. über Feuerbach und den jungen Marx. Meistens waren es nur Schreiduelle zwischen sattelfesten Genossen und dem Professor. Mit einem befreundeten Medizinstudenten besuchte ich seine Anatomie-Vorlesungen und Sezier-Kurse. Diese hielt ich nicht lange durch, weniger wegen der zerschnittenen Brüste, Penisse, Ohren- und Handknöchelchen, sondern weil ich Formalin- und Leichengestank nicht vertrug. Die Psychologie war überhaupt die größte Pleite. Ich dürstete nach Freud und bekam Farbenlehre und Statistik.

Da kam im Frühjahr ein Rettungsengel geflogen in Form eines Briefes von Freunden meiner Eltern aus New York. Ein Arzt-Haushalt suchte für die behinderten Kinder ein Kindermädchen, eine große Schwester. Katholisch und Englisch-Kenntnisse waren die einzigen Voraussetzungen. Meine älteste Schwester stand kurz vor ihrem Uni-Abschluss und war verlobt. Die nächste war mitten in ihrer Ausbildung, die jüngste noch in der Schule. Also blieb ich, und ich griff zu. Seit den USA-Jahren meiner älteren Geschwister wollte ich auch dorthin, in dieses Wunderland. Dem Brief waren zwei grüne Scheine beigelegt, 200 Dollar für die Passage. Eine ungeheuerlich große Summe, ein Dollar war damals 26 Schilling wert. Ich lief durch Wien und suchte in den Reisebüros nach den günstigsten Angeboten. Meinen Traum von einer Schiffsreise, mit einem Dampfer über den Atlantik, musste ich mir schnell abschminken, stellte sich als unfinanzierbar heraus. Es sollte eine Eisenbahnfahrt nach Luxemburg werden, von dort mit der Billig-Fluglinie Loftleidir nach Island – sogar eine zwei Tage-Island-Rundreise ging sich noch aus – und weiter nach New York. Das machte zusammen genau 200 Dollar aus. Für das US-Visum musste ich einen Pocken-Impfnachweis vorlegen. Es stellte sich heraus, dass ich als Kind zwar gegen Pocken geimpft wurde, die Immunisierung aber nicht angeschlagen hatte.

Also nachholen. Am Tropeninstitut in Wien wiegte man bedenklich die Köpfe. Schwierig, gefährlich mit neunzehn. Sie verlangten die Unterschrift meiner Eltern, man war ja damals in diesem Alter noch nicht volljährig. Dort wieder viel Kopfschütteln, aber ich gab nicht auf. Vor der Impfung musste ich meterlange Papiere unterschreiben, die aufzählten, welche schrecklichen Krankheiten bis zur Todesfolge ich bekommen könnte, ohne dass die Ärzte verantwortlich wären. Ich beschwor die Bilder von der Freiheitsstatue, der Skyline von Manhattan, der kalifornischen Küste und des Grand Canyon. Und Alaska, ich weiß nicht warum. An diesen Gipfeln klammerte ich mich besonders fest und an die Inseln der Beringstraße, die Treppenstufen nach Russland.
Ich hielt durch. Die Impfung in vier Portionen, das Pockenserum, in den linken Oberarm, und in den linken Oberschenkel das Gegengift, alles sehr schmerzhaft. Nach der Bezahlung und der Aushändigung des begehrten Impfpasses fuhr in mit der Franz-Josefs-Bahn nach Hause. Damals noch eine Stunde. Mehrmals verlor ich fast das Bewusstsein und rutschte von der Bank. Vom Bahnhof Tulln bis zu unserem Haus konnte ich nur noch auf allen Vieren kriechen, die ganze linke Seite hatte keine Kraft mehr. Man brachte mich ins Bett und verarztete mich mit Tee und Eierspeise. Tagelang hatte ich hohes Fieber und konnte mich über die Stufen aus dem oberen Stockwerk zum Bad nur ringelnatternartig fortbewegen. Die vier Einritzungen am Oberarm schwollen an und sahen aus wie die Beulenpest – eitrige, schwellende Dippeln in Gelb-Grün-Schwarz – und im Oberschenkel schien ein Stein zu liegen. Das Gegenserum hatte sich im Körper nicht aufgelöst.

Zu meinem Unglück war es noch dazu Anfang Juni 1967 – der Sechs-Tage-Krieg war ausgebrochen, Luft- und Wüstenkämpfe zwischen Israel, Ägypten und drei anderen arabischen Ländern. Die Welt stand in Flammen. Meine Eltern sagten kategorisch nein. Du wirst nicht reisen! Ausgeschlossen! Ein bisschen Übung hatte ich schon; im Frühjahr des Vorjahres gab es eine ähnliche Situation, als ich mit einer Gruppe von Freunden nach Prag reisen wollte.
In ihrer Kommunisten- und Kriegsfurcht fanden sie das für zu gefährlich.
Da kommt ihr nie wieder und landet in einem sibirischen Lager.
Wir fuhren und erlebten die frühen Anfänge des Prager Frühlings. Offenbar konnte ich sie jetzt überzeugen, dass dieser Krieg in der entgegengesetzten Richtung lag. Aber ich vermute, dass sie sich ihren New Yorker Freunden so verbunden fühlten, dass sie sie nicht enttäuschen wollten, keine ihrer Töchter zu schicken. Die Lähmung im linken Bein ließ ein wenig nach und ich konnte aufstehen und gehen. Dafür blühten die vier Pocken-Einritzungen im Oberarm immer mehr auf. Das war nicht lustig. Aber ich hatte diesen Traum von Amerika, die Macht der inneren Bilder. Die Beulen konnte ich irgendwie verheimlichen, sodass ich an einem der letzten Juni-Tage leibhaftig im Nachtzug nach Luxemburg saß.

Was heißt sitzen, ich lag in einer Viererkoje, hatte hohes Fieber und mir war ununterbrochen schlecht. Echt krank. Verschwommene Erinnerungen an den Bahnhof Köln, umsteigen im Morgengrauen und durch das Moseltal nach Luxemburg. Die angeblich so lieblichen Flusswindungen verstärkten nur meine Übelkeit. Im Grand Parc du Luxembourg hing ich den ganzen Tag auf Bänken herum, hundeelend und halbohnmächtig, den Koffer immer fest im Griff. Ich wartete auf den Abflug meiner Maschine nach Reykjavik spät am Abend. Dass es da und dort Warteräume mit Gepäckaufbewahrung gab, kam mir nicht in den Sinn, noch völlig ungeübt im Reisen. Meine weitesten Reisen bis dahin waren nach München gegangen, mit Zwischenstation in Salzburg, im Süden Grado und im Westen Innsbruck. Das war mein erfahrener Weltradius damals.
Im Flugzeug – meine erste Flugreise natürlich – saß ich neben einem Amerikaner. Wir kamen ins Gespräch. Sehr charmant. Sehr fesch. Michael aus Florida, stellte er sich vor, Kampfpilot im Korea-Krieg und auch jetzt noch bei der Army, derzeit in Florida stationiert. Der Korea-Krieg fing 1950 an, also musste er mindestens 37, 38 sein, rechnete ich schnell nach, für mich mit 19 alt, uralt, fesch und charmant zwar, aber auch im gesündesten Zustand unvorstellbar. Aber ich war ja ohnedies die ganze Zeit hinüber.

Im Flughafen-Hotel von Keflavik das gleiche Elend. Ein Zimmer im siebenten Stock, so hoch war ich noch nie gewesen, außer auf Bergen. Schwindel, Fieber und Erbrechen. Beim „Swedish Table- Seven Rounds- all inclusive“ – so stand es auf dem Voucher – traf ich Michael wieder. Er war schon fröhlich beschwingt bei seiner vierten Runde. Ich schaffte nicht einmal eine von den unzähligen Vorspeisen, die endlos großen Platten verschwammen vor meinen Augen, dass mir schwindlig wurde und alles zu kreisen begann. Die Schalen, Schüsseln und Tassen mit Saucen schienen mir um die Ohren zu fliegen, so dass sich der Magen wieder umdrehte. Ich stürzte zurück auf mein Zimmer. Wie habe ich es gefunden? Vielleicht hat mich auch jemand vom Personal begleitet.
Wie er hereinkam, weiß ich nicht mehr. Als er mich auf dem Bett aus meinem hellblauen Kostümchen zu schälen versuchte, leistete ich Widerstand. Meine katholische Erziehung wirkte nachhaltig, ich war kein lustiger Teenager, sondern ein ernstes Mädchen mit hochfliegenden Plänen.

Von den Ausflügen zu den Geysiren, Wasserfällen, Gletschern und Vulkanen ist kaum etwas in Erinnerung geblieben. Einzig der Blick von einer Steilklippe aus, die vulkanische Geburt einer neuen Insel, davon habe ich eindrückliche Bilder und Empfindungen. Wie das Ausatmen eines riesigen, unterseeischen Tieres spie das Meer schwarze Gesteinsbrocken in die Luft, da pfauchte, rauschte, toste, polterte, spritzte es und stieß Fontänen aus, und das in so gleichmäßigen Intervallen, als wäre das Schauspiel von einem verlässlichen Kraftwerk nach der Uhr gestellt. Ich erinnere mich noch an die streng schwefelhaltige Luft und an das kochende, weiß-schäumende Meerwasser.

Es war der 4. Juli 1967, als ich in New York ankam und von meiner neuen Familie empfangen wurde. Die Stadt irre heiß und schwül, humid, ein feuchter Backofen, keine Luft zum Atmen, ein steinharter Fetzen legte sich einem auf die Brust. Eigentlich wollten mich die Wagners direkt zu den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag führen, ich musste aber eingestehen, dass es mir gar nicht gut ging, sorry, really sick. Zum Erbrechen gab es nichts mehr in meinem Körper, so schaffte ich es, in ihrem Cadillac versunken, einigermaßen manierlich den Hudson-River aufwärts, durch New Jersey über den Palisades Parkway, nach New City bei White Planes, Upstate N.Y., wo die Wagners lebten. Ich bekam kaum etwas davon mit.
Ein verwischter Film vor den Autofenstern bis zu 189 Little Tor Road North. Was mussten sie denken, welch krankes Vögelchen sie sich eingehandelt hatten. Mr. Wagner war Chirurg, Krebsspezialist und Vice-President der Medical Society of Surgeons von New York, ein großes Tier. Mein Oberarm mit den schwarz-bläulich-gelben Blasen wurde behandelt, immer wieder abgetupft, beträufelt und bandagiert. Ich hatte in diesem Ärztehaushalt die höchste Pflegestufe, denn ich kochte gerade wirklich die Cholera aus. So lag ich dämmernd im rundum rosa Mädchenzimmer der ältesten Tochter Kathleen, genannt Kit. Ich war keine Hilfe, kein Kindermädchen für die zwei Kleinen und der kranken Mrs Wagner keine Unterhaltung, nur ein Häufchen Elend aus Good Old Europe. Um Gottes Willen, es musste ihnen geschienen haben, als sei ich gerade noch aus der Quarantänestation von Ellis Island entkommen.

Richard-Dick war sieben und retarded, also zurückgeblieben, die vierjährige Amy mit multiple palsy, halbgelähmt, durch einen Gehirnschaden bei der Geburt. Zwei Kinder waren gestorben, nur die achtzehnjährige Kit war gesund und studierte in Boston. Ich war nicht angestellt wie die beiden Hausmädchen, sondern als Haustochter aufgenommen, und für Mrs Wagner ein kleiner Trost für die Abwesenheit ihrer Tochter.

Sie verziehen mir alles. Diese grenzenlose Gastfreundschaft, Hilfsbereitschaft, Geduld und Aufnahmebereitschaft der Familie Wagner/Finkernaegel, sie schlug mir in jedem Moment entgegen. Mr Wagner hatte deutsche Vorfahren, seine Frau Vera niederländische. Der Michael aus dem Flugzeug war beharrlich, er kam immer wieder vorbei und warb um mich. Er meinte es ernst, wollte mich heiraten, ernstlich, nach Florida entführen und mindestens drei Kinder bekommen. Er hatte einen guten Job in der Armee, könnte mich und die Familie leicht ernähren und uns ein angenehmes Leben bieten. Einzig, wir würden vielleicht öfters übersiedeln müssen, in alle Welt, wohin die Army ihn eben schickte.
Als ich endlich die fatale Wiener Pockenabwehr überwunden hatte, normal aufstehen, gehen und essen konnte, wollte mich meine Gastfamilie endlich nach New York City ausführen. Aber inzwischen waren in New Jersey die schlimmsten Rassenunruhen ausgebrochen. Tagelang auf den TV-Schirmen nichts anderes als Straßenschlachten in Newark und Jersey City, brennende Häuser, Schlägereien, Plünderungen und Polizeiexzesse. Auch in Detroit und Chicago. Diese Bilder waren immer und überall präsent, liefen Tag und Nacht samt Wiederholungen von dem brutalen Polizeieinsatz am „Bloody Sunday“ im März 1965 gegen den Menschenrechtsmarsch von Selma nach Alabama. Gouverneur George Wallace ließ die friedlichen Marschierer von der lokalen Polizei brutal verprügeln und mit Wasser und Tränengas auseinandertreiben.

Man konnte auf der Autobahn, dem Palisades Parkway, nicht von New City und White Planes nach New York kommen. Der Garden State New Jersey stand in Flammen. Newark war weiträumig gesperrt. Wir saßen den Rest des Juli in New City fest. So hielt diese Seite des realen Amerika bei mir Einzug.
Das Haus der Wagners hatte damals neun TV-Geräte, vom Living Room über die Schlaf- und Kinderzimmer bis in die Garagen, die Werkstatt des Hausherrn und in die Zimmer der zwei norwegisch-schwedischen Hausmädchen. Man schien sie zu kaufen wie andere Haushalte ihre Klopapierrollen. Bei uns zu Hause war gerade nach heftigen Grundsatzdiskussionen das erste Leihgerät hereingekommen und dem Vater vorbehalten, damit er für mehrere Zeitungen seine TV-Kritiken und sonstige Artikel schreiben konnte.

Irgendwann beruhigte sich die Lage in New Jersey wieder, bzw. war im TV zu sehen, wie die Aufstände von der Polizei niedergeknüppelt und im Tränengas aufgelöst wurden. Zwischen den abklingenden Fieberträumen meinte ich auf einem anderen Planeten zu leben.
Meine Gastfamilie brachte mich tatsächlich nach New York City, wo wir auf der 49th Street die beste Freundin der Wagners trafen. Mrs Friedman, die bald meine beste Freundin wurde, Louise eine Emigrantin aus London, wie mir die Wagners erklärten, eine Künstlerin, die erste emanzipierte Frau meines Lebens. Eine Außerirdische. Auf Wunsch von Kit wurde beschlossen, mich auf dem Broadway in ein Movie auszuführen, und sie wählten einen für mich passenden Film, „Sound of Music“ mit Julie Andrews in der Hauptrolle als Baronin Maria August von Trapp. Kit konnte die Songs und Dialoge auswendig, sie sang und sprach mit. Edelweiss, Edelweiss, every morning you greet me, ….. Sie hatte den Film schon fünfmal gesehen, weinte noch immer über die Schnulze und strahlte mich glücklich an. How lovely, Austria is so beautiful! You are lucky.

Ich fiel beinah von einer Ohnmacht in die andere, wie wild die Schauplätze, die Landschaften zusammengeschnitten waren. Julie Andrews lief aus dem Stadtschlösschen in Salzburg raus auf eine Wiese und schmetterte im nächsten Bild hoch über der Burg von Werfen ihren nächsten Song, gleich danach saß sie am Rande des Krimmler Wasserfalles und hütete die angeheiratete Kinderschar, die im nächsten Bild entlang des Wolfgangsees wandernd ihre Liedchen trällerte. Ich kannte das Salzkammergut seit Kindestagen sehr gut, hatte aber vom Filmschnitt keine Ahnung. Ich fühlte mich herumgeschleudert wie in einer Hochschaubahn, schwindlig, blöd im Kopf und schlecht im Magen.
Als nächsten Programmpunkt hatten meine Gastgeber den Besuch in einem Wienerwald-Restaurant vorgesehen, wo sie mir Schnitzel mit mashed potatoes, Bratensauce, Ketchup und Mayo vorsetzten. Oh Wunder – mein erstes Coca Cola. Weder meine Augen noch meine Gedärme vertrugen das. Ich erinnere mich an mein Staunen über den Palast der Toiletten im Untergeschoß, in das mich Kit begleitete. Ich musste passen und freute mich auf den Apfelstrudel. Aber was kam da auf den Tisch? Ein Riesenteller, auf dem der angebliche Apfelstrudel unter einem Berg von Vanilla Ice Cream und einer Haube Schlagobers nicht zu sehen war, geschweige denn zu schmecken. Erst bei einem Spaziergang über den Times Square zum George Washington Platz in den Central Park kam ich wieder einigermaßen zu mir und schaffte die Rückfahrt, ohne auffällig zu werden.

Trotz des schlechten Einstands wurde ich schnell zu einer New-York-Liebhaberin, besuchte oft Mrs Friedman, bald für mich Louise, die mich mit ihrem alten Volkswagen herumkutschierte. Sie führte mich zu allen berühmten Orten, in die Museen, auf die Märkte und zeigte mir die no go areas. Viel mehr als Manhattan hat man mir nicht erlaubt. Als ich das öffentliche Verkehrsnetz der nicht verbotenen Viertel intus hatte und einige Male mit dem yellow cab gut und richtig angekommen war, erlaubte man mir, allein den Schnellbus von White Planes nach N.Y. zu nehmen.

Michael aus Florida kam mich mehrmals besuchen. Er ließ nicht locker, ich sei die erste Frau, die er wirklich heiraten wollte. Die Wagners – stramme Katholiken – waren wunderbare Gastgeber und empfingen ihn freundlich, brachten es aber zustande, uns nie allein zu lassen. Bei den Ausflügen nach New York war die zarte Louise, dicht zwischen uns, unser watchdog.
Irgendwann im Herbst hat Michael sein Interesse an mir verloren und schickte mir eine Einladung zu seiner Hochzeit mit einer ihm gleichaltrigen Kubanerin Maria in Orlando. Ich wäre gerne nach Florida gefahren, aber Vera ging es immer schlechter, sie verlor den letzten Schatten ihres Augenlichts, konnte kaum mehr aufstehen und brauchte einmal pro Woche eine Dialyse. Zur ständigen Betreuung kam eine irische Krankenschwester ganz ins Haus. Moira.
In kultureller Hinsicht wurde ich nicht nur mit Sound of Music beschenkt, sondern ich lernte erstmals die Beatles kennen, gerade als sie sich als Band auflösten, die Rolling Stones, Bob Dylan, Bob Marley und andere Musiker, die bald danach in Woodstock berühmt werden sollten und viele Produkte aus Hollywood, die bisher an mir vorbeigegangen waren.

Bei jedem Besuch in New York City führte mich Louise in ein Museum, ins Kino oder eine Broadway-Revue, meistens war es Radio City Music Hall, hier hörte ich auch das erste Konzert, in dem Leonard Bernstein dirigierte und den Kindern klassische Musik erklärte. Unerhört bei uns, dass ein Dirigent sprach, noch dazu zu unruhigen Kindern. Mit der Überheblichkeit der Jugend staunte ich über Louises Begeisterung für die Moderne: Sie ging bei Keith Haring, Andy Warhol und Yoko Ono ein und aus und besuchte schwarze Untergrundtheater und gay shows. Davon sprachen wir aber vor den Wagners nichts. Obwohl wir uns einmal fast verplapperten bei der Besprechung des Skandals, den der Anschlag der Fundamental-Feministin Valerie Solana auf Andy Warhol verursacht hat. Er schloss dann seine Factory, die bis dahin jedem Kunstinteressierten offengestanden war. Viel später erst erfuhr ich, dass sie ehrenamtlich an verschiedenen sozialen Einrichtungen Kunst- und Literaturunterricht gab.

An den East River, in die UNO, kam ich erstmals nicht als Dolmetsch, sondern als Touristin. Als ich einmal auf der Besuchergalerie der Eröffnung der Sitzungsperiode beiwohnen durfte, wurde mir klar, dass ich als Dolmetsch nie das erleben würde, was mich an der UNO interessierte. Lyndon B. Johnson war US-Präsident, den ich so sehr hasste, weil er meinen geliebten Jugendhelden John F. Kennedy beerbt hatte, als hätte er ihn umgebracht.
In der Kultur des amerikanischen Alltags unterrichtete mich Kit. Wortlos, ohne Vorwurf oder Erklärung stellte sie mir ein Set mit Rasierapparaten und Pedikürinstrumenten für Frauen ins Badezimmer, einen Schminkkoffer, Batterien von Sprays, Dosen mit Körperpuder und eine Riesenpackung mit Tampons hin, alles Novitäten für mich, die erzogen war in dem Glauben, dass die Natur Schönheit schafft und Schönheit aus Natur besteht. Die Botschaft habe ich verstanden, ich war für sie ein niedliches, nützliches, aber unappetitliches und unkultiviertes Stinktier. Ich stieß einmal eine volle Puderdose um, what a mess, dieser allerfeinste Staub ließ sich nie wieder ganz beseitigen.

Im August fuhren wir zu sechst im Cadillac für zwei Wochen durch den ganzen Upstate nach Kanada, in Montreal hatte die Expo aufgemacht. Ich kann mich an wenig erinnern; die Kinder strebten nach den Disneyland-Attraktionen, ich konnte mich kaum vom israelischen Pavillon, dem L‘Habitat, losreißen. Da bekam ich die erste Ahnung von moderner Architektur. Die meisten meiner damals geschossenen Fotos zeigen verwackelte Aufnahmen vom Habitat. Erst später erklärte mir Louisa die Zusammenhänge: wie gut sich die israelischen Architekten in die Wohnanlagen der amerikanischen Ureinwohner einfühlten und damit etwas weltweit Neues und Sensationelles schufen. Damals wollte ich Architektin werden, noch nie hat mich ein Bauwerk so beeindruckt. Aber mein Einblick in die Welt war damals noch sehr schmal.
Ansonsten sind mir nur das Luxus-Hotel im Palais Royal und die Schifffahrt auf dem St. Laurent River in Erinnerung, groß und endlos wie ein Meer. Das Highlight für die Kinder kam dann in Cooperstown, einem künstlich aufgebauten Städtchen mit Figuren und Szenen aus dem Buch von James Fenimore Cooper „Der letzte Mohikaner“, der Klassiker der amerikanischen Jugendliteratur, der aus der Nachbarstadt Burlington stammte. Eine ganze Stadt als Themenpark – das gab es damals noch nicht in Europa.

Ein Disneyland für die Ausrottung der Indianer, deren Ungeheuerlichkeit mir damals nicht bewusst war und worüber mir erst Louis die Augen öffnen musste. Es war natürlich Kitsch pur, aber sehr gut gemachter Kitsch. Zu half term spendierten mir die Wagners eine Reise nach Boston zu Kits College. Im Oktober durften wir gemeinsam per Bahn nach Washington DC fahren. Als Kit zu Thanksgiving nach Hause kam, lud mich Louise zu einer Autofahrt durch Massachusetts, Connecticut und Vermont ein, auch noch ein Stückchen von der Maine-Küste nahmen wir mit, mein Wunsch, wegen Moby Dick. Ich war damals noch so romantisch und naiv, dass ich immer die Originalschauplätze sehen wollte, als könnte man damit mehr über die Literatur erfahren, sie intensiver erleben. Louises Hauptaugenmerk lag nicht so sehr auf den wunderbaren Landschaften in den Feuerfarben des Indian Summer, sondern auf den Writer‘s Homes, von Melville, Thoreau, Hawthorne, Poe, Irving und vielen anderen Schriftstellern, die von der Ostküste kamen oder dort lebten. Da erst erfuhr ich, dass sie vom Unterricht an einem privaten, jüdischen Mädchen-College ihren Lebensunterhalt bestritt. Unterwegs, auf den langen Autofahrten, rezitierte sie Gedichte von Walt Whitman und short stories von Dorothy Parker oder deren berühmte Bonmots.

Ich unterhielt sie mit Dostojewski, Kafka und den eigenen Familiengeschichten. In Nantucket machten wir im Motel „Pequod“ Halt. Wir teilten ein Zimmer mit Bad. Da sah ich an ihrem linken Unterarm eine eintätowierte Nummer. Sie zog den Bademantel sofort herunter, aber ich hatte sie gesehen, es gab kein Ausweichen mehr. Sie war nicht immer Louise Friedman gewesen, sondern ursprünglich Honza Kvetova aus Prag. Sie war mit Künstlern befreundet, von denen ich meistens nicht einmal die Namen kannte: Dorothy Parker, Carson McCulllers, Auden, Isherwood, Britten, Dali. Kurz nach ihrer Emigration hatte sie sogar eine Zeitlang in der Künstlerkolonie February House in Brooklyn Heights gelebt. Parker war drei Wochen vor meiner Ankunft gestorben, McCullers erst vor wenigen Tagen, Louise war bei ihrem Begräbnis. Sie ist nicht ganz unschuldig daran, dass ich amerikanische Literatur studierte.
Wer hat je als Au-Pair-Mädchen eine solche Großzügigkeit erlebt? So ein Glück, ins Luxus- Nest zu fallen. Die Wagners, die Finkernaegels und Louise hatten den perfekten Weg gefunden, mich zu einer glühenden, patriotischen Amerikanerin zu machen.
Sobald ich mich in meiner Gastfamilie und der Communitiy als nützlich und bei den Kindern als beliebt erwies, war es nicht schwer durchzusetzen, dass ich einen Tag in der Woche frei bekam, um an der Columbia ein Gaststudium zu absolvieren, A Survey of American Literature. Natürlich auf Louises Rat hin.

Die lokale Highschool lud mich wie viele andere Ausländer an ihrem International Day ein, über meine Heimat zu sprechen und sie vorzustellen. Ich ließ mir schnell mein letztes Dirndl (schöner als das von Julie Andrews, alias Maria-Augusta Trapp) schicken und führte den Donauwalzer vor, meine Tanzpartnerin war eine Japanerin im Kimono. Woraufhin, weiß ich nicht mehr, jedenfalls bot man mir an, in der letzten Klasse einen Kurs über „European History“ zu halten. Als gäb‘s so etwas. Zwei Dinge beeindruckten mich, waren etwas vollkommen Neues für mich: Die Schüler bekamen vom Lehrer keine langweiligen Frontalvorträge geboten, sondern nur ein Grundgerüst an Fakten und als Aufgabe Fragestellungen, die sie mit einem selbständigen Essay beantworten mussten. Sie hatten den Kurs – class – lange vorher ausgewählt und sich eigenständig mit Materialien aus der reich bestückten Schulbibliothek vorbereitet. „Inverted Classroom“ nannte man das. Die class mit zwölf students wurde noch in drei Kleingruppen unterteilt, die die Quellen gemeinsam bearbeiteten.
Das Studium ging also der Wissensaufnahme voraus. Wie viele Generationen von Schülern und Studenten würden bei uns noch durch Frontalunterricht beschädigt werden? Wie wir bei unserer kleinen, alten Geschichtsprofessorin, die die ganze Stunde die Tafel mit Namen und Jahreszahlen vollschrieb oder aus einem Buch vorlas, was wir mitschreiben und auswendig lernen mussten. So endete unser Geschichtsunterricht mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges. Stimmt nicht ganz, sie betrauerte noch den Tod von Kaiser Franz Joseph im November 17.

Am liebsten wäre ich in die Schule eingetreten, um diese Bibliothek benützen und einen solchen „Anti-Unterricht“ genießen zu dürfen. Auf der anderen Seite setzte mich in Erstaunen, dass ich mit meinem Matura-Wissen recht gut durch die Unterrichtsstunden kam. Das erste Semester war dem „European Enlightenment“ gewidmet. Wow! Ich brachte die Schüler, die schon ab sechzehn an der Highschool respektvoll students genannt wurden, zum Lachen mit meinem Haupthelden Kant, den sie natürlich als can‘t verstanden. Der sollte Erleuchtung bringen?

Die Finkernaegel- Großeltern waren nicht orthodox, besuchten aber jeden Sabbat eine Synagoge in Newark, nach New York die größte jüdische Gemeinde. Mr Finkernaegel hatte in der Versicherungsbranche ein Vermögen gemacht und stiftete einen Lehrstuhl in Tel Aviv. Ich fuhr mit den Wagners am Sonntag in die katholische Kirche von New City, dann gab es zu Hause Lunch, Barbecue oder Dinner. Das war ein heiliges Ritual, der Familienzusammenhalt das Wichtigste im Leben.
Für mich war klar, dass ich von hier nie wieder weggehen wollte. Ich war im Himmel angekommen, im Land der unbegrenzten Möglichkeiten! Ich liebte Amerika. Österreich, Familie, Studium waren hinter dem Horizont von Long Island verschwunden, für immer, wie ich hoffte. Großes Wort Heimat, ein Ort, an dem ich angekommen bin, den ich mir erwerben und aneignen konnte.

In der Spezial-Vorschule der kleinen Amy ließ ich mich in der Betreuung von Behinderten anlernen, sodass ich sie auch zu Hause nicht nur betreuen, sondern auch fördern konnte. In kurzer Zeit war sie ihre Windeln los, der kriechende Wurm richtete sich auf und wurde gezielter in den Bewegungen. Und Wunder, sie sprach die ersten verständlichen Worte aus. Richard-Dick, dessen retardedness die verliebten Eltern nicht wahrhaben wollten, hatte mit seinen sieben Jahren schon fünfmal Kindergärten und Vorschulen gewechselt. Schließlich schlug ich vor, ihn zu Hause zu unterrichten, was voll einschlug.

Die Kinder kannten nichts anderes als ihre kranke Mutter, eine Serie von wechselnden, fremdsprachigen Hausmädchen und einen fernen Vater, der Tag für Tag im Krankenhaus acht- bis zehnstündige Operationen vollbrachte. Nebenbei führte er noch eine soziale Gemeinschaftspraxis für Unversicherte.
Mrs Vera Wagner-Finkernaegel war erst vierzig, litt aber seit Kindestagen an Diabetes und war, als ich ankam, wegen der langjährigen Insulingaben schon fast erblindet. Jeden Tag kam eine nurse für Spritzen, Körperpflege und Gymnastik. Sie konnte nur noch hell und dunkel unterscheiden, so stand ich auch ihr zur Seite. Sie mochte es, wenn ich ihr ihre Lieblingsromane vorlas, Madame Bovary und Gone with the Wind, sie nannte mich Schatzken oder ma cher Veronique in vielen Variationen. Weil von den Amerikanern niemand Vroni aussprechen konnte, machte sie mich zuerst zu Roni, dann wurde ich in Veronica umgetauft, was ich annahm und bis heute blieb.

Für den Haushalt waren zwei Mädchen aus Norwegen und Schweden zuständig, Selma und Solveig, beide etwas älter als ich und fast ohne Englisch-Kenntnisse. Aber sehr hübsch und tüchtig. Es wurde vieles ausgelagert. Selma und Solveig mussten mehr organisieren und koordinieren als selbst putzen und kochen. Für die Teppiche kam ein Service, ebenso wie für die Vorhänge, Kleidung, Daunen und Bettmatratzen, ein Team extra für den Swimmingpool und eine Firma für die Abfälle. Auch das Essen brachte oft ein Service. Zwei Gärtner hielten das weitläufige Grundstück in Ordnung, englischer Gartenstil, ein Mechaniker für den Autopark, an Samstagen kamen zwei, weil Mr Wagner gern bastelte und mit ihnen fachsimpelte. Sie werkelten in dem weiter hinten im Garten liegenden barn, einer ausgebauten Scheune, ein Männerkinderspielplatz. Als Maskottchen hielt sich Bob ein Motorrad, eine alte Triumph, mit der er in voller Montur über sein Grundstück kurvte. Das war seine Entspannung von dem anstrengenden Job in der City. Automechaniker sind die wahren Chirurgen, war sein Leibspruch. Ich sah Vera am Fenster ihres Zimmers stehen und Tränen lachen aus den trüben Augen.

Bob ist mit seinem Bike noch nie auf einer Straße gefahren.
Veras Maskottchen dagegen war eine German-Dackel-Dame, das viel geliebte Gretchen-Grätschn, Libling genannt. Ich hatte damals noch keinerlei Hundeerfahrung und war anfangs angewidert von dem, was sie dieser rostbraunen Walze auf vier kurzen Beinchen alles erlaubte. Sie lag mit ihr im Bett, aß mit ihr vom selben Teller, Vera fütterte sie und schmuste mit ihr, dann schlief Libling-Grätchen bei ihr auf der angekleckerten Seidendaunendecke ein und schnarchte dabei wie die betrunkene Witwe Bolte. Aber dieses Tier war offenbar klug und einfühlsam und erfüllte auf seine Weise Veras Bedürfnisse, viel besser als wir Menschen. Sie hielt sich immer nahe an ihren Füßen, stupste sie mit der Nase an den Knöcheln an und lenkte sie so auf allen Wegen durch das Haus. Ein Blindenhund auf Knöchelhöhe. Perfect!
Die Gasteltern überreichten mir gleich nach meiner Ankunft die Autoschlüssel zu Kits Buick und eine Broschüre von zwanzig kleinen Seiten für die Prüfung zur driver‘s licence. Die amerikanischen Teenager machten mit sechzehn den Führerschein.

Ich zog es aber vor, zu Fuß zu gehen. So schob ich fröhlich Amys Kinderwagen eine Meile zu ihrer Schule die Straße entlang. Ich redete auf sie ein, sang ihr Liedchen vor, zeigte ihr die schwarz-weiß gestreiften Stinktiere, skunks, die roten Eichkatzerl, squirrels, und die Vögel, Elstern, magpie, unterwegs. Im Indian Summer waren die Bäume besonders schön. Ihre Namen musste ich selbst erlernen, maple tree, wir memorierten sie gemeinsam und sammelten bunte Blätter und Früchte. Ein Fußgänger – noch dazu eine Frau mit Kinderwagen – war auf einer amerikanischen Landstraße so ungewöhnlich und auffällig wie ein Außerirdischer, dass alle Autofahrer anhielten und fragten, ob etwas passiert sei und ob sie uns helfen könnten. Einen Abschnitt mochte ich besonders, wenn die Bäume den Blick auf den Hudson River freigaben, wo die ausrangierten Schiffe der Navy geparkt waren. Ich war begeistert von der Liebenswürdigkeit und Hilfsbereitschaft der Amerikaner, konnte mir aber nach den TV-Bildern aus Newark vorstellen, dass es nicht überall so zuging.

Menschenfreundlichkeit ist eine Klassenfrage und abhängig vom Konto und vom Wohnort. Muss man sich leisten können, das war eine der ersten Lektionen im godblessed country.
Selma und Solveig schupften mit Leichtigkeit das riesengroße Haus, die elf Zimmer auf drei Ebenen. Sie erlernten von Vera die amerikanische Küche, bei deren Lektionen ich als Übersetzerin diente. Mäßig erfolgreich. Wir haben hier bei uns die Vereinten Nationen im Kleinen, scherzte sie, die verstehen sich ja auch nicht immer. Die Skandinavierinnen brachten mir für immer bei – jeg elskedek – I love you – ich liebe dich. Sorry, Selma und Solveig, hab‘s noch nie angewendet.

Einmal meinte die französisch angehauchte Vera, es sollte Crêpes zur Nachspeise geben. Ich verstand Krebs, dachte zuerst an cancer – sprach sie vom Job ihres Mannes, dem Krebsspezialisten? – wunderte ich mich kurz, holte aber doch die tiefgefrorenen Hummer aus dem Kühlschrank und warf sie ins kochende Wasser. Dann, fein angerichtet mit Zitrone, Dille, Mayonnaise und Senfsauce nach skandinavischer Art. Die überaus hübsche Selma – sie hatte sogar eine Uniform dafür – war fürs Auftragen zuständig, die weniger hübsche Solveig hantierte in der Küche. Vera rümpfte sofort die Nase ob des unerwarteten Geruchs, aber sie schmierte mit ihren tastenden Händen doch jam und maple sirup darauf. Was für eine Blamage. Robert-Bob Wagner löste alles mit seinem Lachen auf. Wir sind eben die vereinten Nationen. Niemand wurde beschuldigt, niemand bestraft. Aber ich sah, wie Vera litt. So schwer ist interkulturelles Übersetzen. Mein Englisch klang britisch, wie ich es von meinem Professor Wollman im Gymnasium gelernt hatte. Die Wagners liebten alles Europäische und stellten mich immer als our little Brittaine vor, weil ich einen britischen Akzent hatte, den sie cute, sweet und lovely fanden, und ich bisquits anstatt coockies sagte und cinema anstatt movies.

Damals wollte ich keine UNO-Dolmetscherin mehr werden, sondern nur eine perfekte Köchin und die Sprache lernen – american as an apple pie. Zuerst wurde ich aber nur dick. Nicht nur, weil ich neugierig genug war, alles ausprobieren zu wollen. Vor allem aber, weil ich nicht mitansehen konnte, wieviel weggeworfen wurde. Ein kaum angebissenes Sandwich mit butter, peanutbutter und jelly, die kaum angeknabberten Doughnuts und cookies der Kinder, die nicht abgenagten, fingerdicken T-Bone-Steaks, die weggelegten burgers, halbe Hendln, die nicht ausgetrunkenen orange juices und milkshakes. Ich war der erste Müllschlucker, bevor alles in den Gully wanderte. Eine große Pein für ein europäisches Nachkriegskind mit der Erziehung, dass Lebensmittel Gottesgaben und daher heilig sind. Brot wegzuwerfen war eine Sünde. Meine Großmutter machte auf die Rückseite der Brotlaibe mit dem Messer ein Kreuz und küsste es und schlug ein Kreuz um sich. Eine heilige Handlung. Ich kam mit diesem Überfluss nicht zurecht. Die Vorstellung, dass diese Menschen nie Mangel gekannt hatten, verwirrte mich. Nie Bohnenkaffee oder Butter oder Fleisch eingeteilt hatten. Zuerst ging ich auf wie ein Germgugelhupf, aber auch wieder ein wie eine böhmische Leinwand. Am Ende war ich vier Zentimeter gewachsen und meine blonde Mähne um zehn Zentimeter länger. Alles auf Polaroid-Fotos festgehalten.

Einmal wollte ich ein großes Dinner des Dr. Wagner mit einem Wiener Apfelstrudel – applesrudl – krönen. Ich bat meine Mutter um ihr Rezept und besorgte mir im lokalen Supermarkt die Ingredienzien. Glattes Mehl für den Teig, kein Problem, aber Brösel und Rosinen konnte ich lange nicht finden, Staubzucker gab es nicht, ich zerrieb Kristallzucker im Mörser zu etwas Grieseligem. Okay, das krieg ich hin und legte los. Äpfel gab es zur Genüge. Dr. Wagners Partner besaß eine Apfelfarm in Pomona County. Das Backblech reichlich mit Butter eingeschmiert, die Apfelscheiben in Butter leicht angeschmort, die Brösel mit Butter gebräunt, Rosinen und Zimt dazu. Alles war bereit, schien perfekt, perfect, das Lieblingswort der Amerikaner bei jeder Gelegenheit, auch wenn etwas nicht perfekt war.

Zwei ganze Backbleche brachte ich aus dem Ofen hervor, semmelblond und himmlisch duftend, ganz so wie zu Hause. Ich stellte sie zum Auskühlen auf den kitchen portch. Da hörte ich ein Rappeln, Scharren und Schnauben. Dann krachte etwas Metallisches zu Boden. Ich stürzte durch die Gittertür und sah gerade noch einen flüchtenden Kojoten im Wald verschwinden. Das Anwesen der Wagners lag exquisit weit abseits von stinkigen Highways und Industrievierteln zwischen dichten Ahornbäumen, wie dort üblich, ohne Zäune. Ich verfluchte den Kojoten und holte das zerstörte Backblech in die Küche zurück. So ein Glück, ein ganzer Strudelstrang war heil geblieben, und ich schnitt ein Stück davon ab. Kaum dass es meine Zunge und meinen Gaumen berührte, spuckte ich es über der Abwasch aus und kotzte gleich dazu. Der verdammte Kojote, goddamm.
So etwas Grauenhaftes hatten meine Geschmacksknospen noch nie berührt. Selma und Solveig klopften mir tröstend die Schultern und reichten mir ein Glas Wasser. What‘s happened? Baby, all okay? Ich war vernichtet. Das war kein Apfelstrudel, die Ausgeburt der Hölle.
Langsam richte ich mich auf und spüle den Mund. Sie streichen mir übers Haar und umarmen mich. So stehen wir kurz da, sie in ihren idiotischen rosa Kleidchen mit weißen Rüschenschürzchen, die naturblonden Haare mit den Käppchen hochgesteckt. Da hören wir alle drei gleichzeitig vom back door portch lautes Gerappel, Schmatzen und Gekicher. Ein Tisch fällt um, dann Stühle, burglers, Einbrecher! Ich reiße die Gittertür auf und sehe zwei Skunks sich am zweiten Backblech gütlich tun. Unverschämte Tiere, sie lassen sich kaum vertreiben.

Die Wagners und ihre Gäste erheiterten sich freundlich über meinen Kampf mit den amerikanischen Ureinwohnern. Die waren immer schon da, wir sind nur dazugekommen. Sie verlangten jeder eine geborgene Schnitte auf ihren Teller.
Alles Kollegen und Wissenschaftler aus der Medical Society of New York. Ein Laryngologe, glaube ich mich zu erinnern, stellte das letzte Urteil fest. Salz. Es ist das Salz! Die Provinzlerin aus Tulln, der Neuankömmling, hatte noch nicht mitgekriegt, dass die Amerikaner nur gesalzene Butter kennen.

Apfelstrudel mit Salzbutter, das geht aber auch wirklich gar nicht, nirgendwo und zu keiner Zeit. Der humorvolle Laryngologe drehte den peinlichen Zwischenfall noch ins Mythologische: Ich hätte dem Symboltier der amerikanischen Ureinwohner, dem Kojoten, ein Opfer dargebracht, das Land würde mir wohlgesonnen sein.
Jeder Tag dieses Lebens war voll ausgefüllt, jeder Tag brachte Neues und Aufregendes, ich meinte, im Paradies zu sein und war dankbar bis zum Umfallen. Wem? Dem Schicksal, das mich hierher gebracht hat, der Familie Wagner für die Chancen, die sie mir boten, und mir selbst, weil ich sie beim Schopf gepackt und gegen viele Hindernisse nicht losgelassen hatte. An einen mildtätigen Gott glaubte ich damals nicht mehr. Ich schrieb viele, lange Briefe an meine Familie und schilderte mein paradiesisches Leben.

Warum ich trotz allem im Frühjahr nach Wien zurückkehrte?
Vera wurde zu Weihnachten in ein New Yorker Spital eingeliefert und an eine Blutwaschmaschine angeschlossen, die die Funktion einer Niere übernehmen sollte. Aber ihr Zustand verbesserte sich nicht. Sie fiel ins Koma und starb im Februar. Es war der erste Tod eines nahen Menschen für mich.
Die Familie befand sich in Schockstarre, und ich kümmerte mich noch mehr um die beiden Kleinen. Die Ausflüge nach New York auf die Uni und zu Louise entfielen, ich übernahm nun ganz allein die Mutterfunktionen. Ich glaube, ich konnte die Kinder ein bisschen ablenken und den Schmerz lindern.

Aber es kam, wie es kommen musste – Dr. Wagner, der mich von Anfang an mit viel Sympathie und Güte behandelt hatte – machte mir einen Heiratsantrag. Wie praktisch. Er meinte, mir ein recht bequemes Leben bieten zu können, vielleicht könnte ich ja nebenbei ein bisschen studieren, wenn die Kinder größer waren. Da war‘s für mich vorbei, mich packte die Panik, in dieser Familie picken zu bleiben. Aus der Traum vom Studium, von Karriere, von der UNO, von Reisen um die Welt. Es war beängstigend. So großzügig und freundlich er war, sah er in meinen Augen zum Fürchten hässlich aus und war 43 Jahre alt. Ich hatte doch schon mit dem jüngeren, feschen Michael nichts anfangen können. Nach einer gewissen Anstandszeit nahm ich die Koffer und flog nach Hause, ja, ich floh geradezu.

Es mag für die Wagners undankbar ausgesehen haben, treulos und brutal. Genauso fühlte ich mich auch, ein Scheusal. Aber ich musste meinem eigenen Leben den Vorrang geben. Ich wollte mich nicht opfern. Es hätte nicht das Plakat auf dem riesigen billboard über der George Washington Bridge gebraucht, das mich immer bei der Einfahrt von New Jersey nach Manhattan begrüßte: “Life ist too short to be living somebody else‘s dream“, lachte da Hugh M. Hefner herunter, umgeben von einer Schar blonder bunnies, und zwinkerte mir zu. Das war genau mein Lebensgefühl. Louise stand an meiner Seite und bestärkte mich. You‘ll come back, baby, don‘t worry, you‘ll make your way.

Als mich im Sommer danach Kit mit ihren Finkernaegel-Großeltern auf einer Europa-Reise in Wien besuchte, war Dr. Wagner schon mit der irischen Krankenschwester verheiratet. Er hängte seinen Karriere-Job in NYC an den Nagel und ließ sich als praktischer Arzt irgendwo in einer Landidylle von Pennsylvania nieder. Moira arbeitete in seiner Praxis mit, und sie bekamen drei gesunde Kinder. Dann noch einige Jahre Weihnachtskarten mit Fotos. Da passte alles zusammen. Perfect! Und ich fiel in Wien geradewegs in den heißen Sommer von 1968 hinein. Als der 20. August kam, war ich mit Freunden auf der Moldau paddeln. Im Widerstand gegen die Invasion des Warschauer Paktes schloss ich mich dem Wiener Tagebuch an – einer Gründung von KPÖ-Dissidenten. Das war meine erste bewusste politische Aktion.

Juni – September 17

Veronika Seyr
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