Klopapierrollen-Kapitalismus

Im September 1998 organisierte die Universität St. Petersburg ein Seminar zur Frage, ob es ein weibliches Schreiben gäbe. Dazu hatte ich acht Gäste aus Österreich eingeladen und nahm aus Eigeninteresse auch selbst daran teil.

Am letzten Tag lud die Uni zur Stadtbesichtigung ein; die österreichische Schriftstellerin E.S. wollte aber lieber die Sommerdatscha der russischen Dichterin Anna Achmatowa besuchen, ihres großen Vorbilds. Die Wohnorte und Gedenkstätten in der Stadt hatte sie schon selbständig abgeklappert, aber nach Komarowo brauchte sie Begleitung. So mietete ich ein Taxi und fuhr mit ihr nach Nordwesten an den Finnischen Meerbusen. Über Komarowo hatte E.S. in der Biografie gelesen, wie schön es dort sei, und auch dem Grabmal der russischen Poetessa wollte sie einen Besuch abstatten.

Wir saßen im Fond des Wolga und unterhielten uns über A.A., ihre Kunst und ihr tragisches Leben. Zwanzig Jahre lang hat Stalin sie terrorisiert, zwei Ehemänner ermordet, den Sohn in den Gulag geschickt, ihre alten Bücher verboten, ihr jede Publikationsmöglichkeit genommen, sie ständig mit dem Tod bedroht und sie öffentlich als „Nonne und Heilige“ diffamiert.
Lange schon war es E.S.s Traum gewesen, auf ihren Spuren zu wandeln und ihr die Ehre zu erweisen. Sie war eine wahre Pilgerin und gesteht offen ein, dass sie bei A.A. schwärmerisch werde wie ein Teenager. Auch Marina Zwetajewa schloss sie in ihren Olymp ein, aber die würde sie erst in Moskau mit einem Besuch beehren.

Der Fahrer, ein Mann etwa in unserem Alter, lenkte den alten Wolga umsichtig und langsam, die vielen Schlaglöcher auf der Landstraße umfuhr er geradezu liebevoll. E.S. wollte ein bisschen Volkes Stimme hören, also übersetzte ich ihre Fragen an ihn.
Ob er Komarowo, die Datscha und das Grab von A.A. kenne?
Ja, mit der Schule seien sie einmal rausgefahren, aber sein Star sei sie nicht.
Sie sei ein bisschen überkandidelt, überhaupt habe er es nicht so mit der Poesie.
Und gesprochen hat sie wie ein sterbendes Pferd, so wie Schaljapin gesungen hat, und er schüttelte sich dabei so, dass das Lenkrad ins Schwanken kam.
Es gibt eine alte Radioaufnahme, auf der sie so klingt, dass ich Ivan nicht widersprechen kann.

Das Letztere übersetze ich für E.S. nicht, diese Beschreibung der hässlich und dick gewordenen Göttin könnte die zartbesaitete Schwärmerin vielleicht aufregen. Wenn Gäste unzufrieden waren, fiel das immer auf mich persönlich zurück. Sie brachten alle ihre Koffer voll mit eigenen Russland-Bildern, Russland-Sehnsüchten und Russland-Abneigungen mit. Und die wollten sie bestätigt haben.

Da klappte der Fahrer das Sonnenschild herunter, zog ein abgegriffenes Ledermäppchen hervor und reichte es nach hinten. In den Fächern hatte er Bildchen gesammelt – es waren die Beatles. Wo andere die Fotos ihrer Kinder, Frauen oder Enkel mit sich tragen, hatte er die Pilzköpfe immer mit dabei. Er sei ein Fan der ersten Stunde. Er träume davon, einmal nach Liverpool zu fahren und alle Orte der Beatles aufzusuchen erzählt er. Seit seiner Jugend schwärmte er für die vier, zu Hause habe er mehrere große Ordner voll mit Artikeln über die Stars. Auch alte Kassetten habe er noch, die man in der Sowjetunion unzählige Male überspielt hatte, weil es ja keine Platten gab. Auch im Radio durften die westliche, imperialistische, dekadente Musik nicht gespielt werden. Es war das größte Glück, jemanden zu kennen, der ein Mitbringsel aus dem Ausland ergattern konnte oder gar einen Ausländer kannte. Aber sogar viele russische Stars wie Wladimir Wyssotzki und Bulat Okudschawa bekamen nur im Westen Platten, die wir Ausländer dann mit Glück ins Land schmuggelten. Gut in Erinnerung ist mir die Platte von Okudschawa „Gebet des Dichters Francois Villon“ die ich an meine russischen Freunde zum Kopieren verlieh: Ich erhielt sie zurück, aber mit flachen Rillen, so oft hatten sie sie abgespielt. Bei meiner ersten Reise in die SU im Jänner 1971 hatte ich ein paar Beatles-Platten dabei, die mir zusammen mit dem Leonard Cohen beim Zoll in Brest-Litowsk abgenommen wurden. Nur den Chopin mit Nocturnes und Impromptus hat man mir gnädig gelassen.

Ivan hielt am Rande des Föhrenwaldes, in dem sich die Datschen-Siedlung befand.
Stalin, der sich für den besten und obersten Kunstkenner hielt, als Herr über Ideologie und Geschmack, über Sozrealismus und Formalismus, über Leben und Tod, zeichnete überlebende Dichter, Musiker und Wissenschaftler mit einem Lenin- und Stalin-Orden aus, dazu bekamen manche noch eine Dienstdatscha.

E.S. und ich suchten zwischen den kleinen, locker verstreut im Wäldchen stehenden Holzhäuschen nach der Nummer 39, die angeblich von A.A. bewohnt worden sein soll. Zuerst fanden wir sie nicht, dafür aber die Nummer 27, die von Schostakowitsch. E.S. ließ natürlich nicht locker, so nah am Ziel wollte sie sie zumindest berühren oder durchs Fenster ins Innere lugen. Und dann doch – was für eine Freude und gleichzeitig der Schock, wie bescheiden, ja primitiv so eine Stalin‘sche Dienstdatscha für die besten Köpfe der Sowjetunion ausgefallen war. In unseren Gärten würden sie wahrscheinlich für Schuppen für Gartengeräte oder Holzlager gehalten werden. Aber E.S. war glücklich, fotografierte einen Film aus, ließ sich von mir in allerhand Posen ablichten – mit einem Gedichtband von A.A. in der Hand. Eine Zeitlang setzte sie sich auf das dreistufige Treppchen, das zur Eingangstüre führte und blätterte in den Gedichten. Das Haus war verschlossen und hatte außer der Nummerntafel keine Hinweise auf seine frühere Bewohnerin.

Ich machte solche Pilgerfahrten immer bereitwillig mit, nicht nur weil sie zu den einfachsten und angenehmsten Pflichten meiner Kulturaustauschtätigkeiten gehörten. Den Kulturgästen aus Österreich ihre Pläsierchen zu erfüllen, machte mir wirklich Spaß. Ob es das Grab des Boris Godunow war, der Ort des Duells zwischen Puschkin und seinem belgischen Widersacher, die Panzersperren gegen die Wehrmacht am westlichen Stadtrand von Moskau, die Datscha von Boris Pasternak in Peredelkino oder die Hauskirche Lew Tolstoj, in der ich immer gerne meine eigene Entdeckung präsentierte, die Ikone mit der Madonna mit den sechs Fingern. Die sechsfingrige Liebe zum Jesuskind.

Auch spürte ich nach so vielen Jahren einen gewissen Besitzerstolz, mit dem ich die Fremden führte und sie für „mein“ Russland begeistern konnte. Ein Gast meinte einmal, zutiefst beeindruckt nach dem Besuch von Sergijew Posad: Du solltest keinen österreichischen, sondern einen russischen Orden bekommen. Ja, den Stanislav. Das verstand er aber wiederum nicht. Der polnische Lumpenorden, nachdem sich Russland wieder einmal Polen unter den Nagel gerissen hatte, das Kongresspolen.

E.S. war im siebenten Himmel, als ich sie zum Grab der A.A. auf dem kleinen, parkähnlichen Friedhof führte: eine weiße Steinstele mit ihrem eingemeißelten Halbrelief, das schöne, schmale Tatarengesicht ihrer Jugend. Ansonsten nur ihre Lebensdaten in Goldbuchstaben.
Die Grabstelle war nicht eingezäunt wie sonst meistens bei den Orthodoxen, sondern nur eine Erdfläche mit Efeu und Farnen. E.S. legte ihren Nelkenstrauß darauf. Die rechte Seite der Stele wurde umrankt von einem üppigen Rosenstock, der in diesem frühen September noch volle, rote Blüten hatte. Die schon schräg stehende Sonne warf aus dem Westen noch einen rosa Hauch über das Ganze, sodass das zarte Marmorgesicht lebendig zu werden schien. E.S.‘s Entzücken kannte keine Grenzen, sie hatte ihren Sehnsuchtsort erreicht. Ich bemühte mich, sie von meinem inneren Schmunzeln nichts merken zu lassen, hatte ich mich doch einstmals genauso verhalten, nur halt schon in sehr viel jüngeren Jahren. Diesmal schoss ich zwei Filme mit ihr und dem Grab aus.

Da ertönte in der Ferne eine Autohupe. Unser Ivan wurde ungeduldig, er wollte zurückfahren.
Schwer trennte sich die Pilgerin von ihrer angebeteten Dichter-Gottheit. Wir kehrten zum Auto zurück und drehten noch eine Runde durch das unbedeutende Dorf Komarowo, wo allerdings die Datschen der Neureichen wie die Pilze nach dem Regen sprossen.
Nur der Blick vom Strand über den Finnischen Meerbusen hinaus aufs Meer konnte einem den Atem rauben, der Grund, warum die Menschen hierher kamen. Komarowo heißt nicht nur Gelsendorf; diese in dichten Wolken auftretenden Tiere konnten einem im Sommer das Leben zur Hölle machen. Ich schätze diese nördliche Landschaft mehr, wenn sie fest und sicher versiegelt ist von mehreren Metern Schnee. E.S. ließ sich auf dem querliegenden Stamm einer Föhre nieder und versenkte sich in den Blick, den auch A.A. von hier auf die Ostsee gehabt haben muss. Danach bat sie mich, aus ihrer zweisprachigen Ausgabe ein Gedicht auf Russisch vorzulesen, sie will hören, wie das hier klingt, zu diesem Meeresrauschen und in diesem Wind. Sentimentalität ist nicht eingrenzbar, die ist wie eine DNA. Aber mich freut‘s, wieder der Besitzerstolz, wenn ich meinen Gästen etwas von der Größe und Großartigkeit Russlands näherbringen kann.

Eine Freundin, die mich einmal im Juni in Moskau besuchte, in der allergrößten, windstillen, grässlichen, feuchten Hitze, konnte es drei Wochen lang nicht glauben, dass es in Russland etwas anderes gab als Eis und Schnee. Die Bilder, die Bilder im Kopf.
Ivan hat geduldig am Auto gewartet, jetzt freut er sich, dass wir die A.A.-Andacht beenden und bereit zur Rückfahrt sind.

Ob die Leningradskoje Chaussee schon auf der Hinfahrt das gleiche Bild geboten hat und ich es beim Plaudern und Übersetzen einfach nicht gesehen habe, ich weiß es nicht.
Russland war erst Mitte August einem Bankenkrach, einem schwarzen Freitag, nur knapp entgangen. Im freien Fall gebremst nur durch einen deutschen Riesenkredit. Aber die Folgen waren noch lange nicht vorbei – es herrschte extreme Bargeldknappheit in jedem Bereich, am schlimmsten traf es die Fabriken, die die Löhne nicht auszahlen konnten, weil sie von der Zentralbank kein Geld bekamen. So wurden die Arbeiter in Naturalien ausbezahlt, in diesem Falle musste es die Produktionsstätten von Klopapier und Plastik aus der Umgebung getroffen haben. So entfaltet sich entlang der Leningradskoje ein fantastisches Bild: Kilometer um Kilometer haben sich die mit Klopapier oder Plastikgegenständen ausgezahlten Werktätigen am Straßenrand aufgebaut, fein säuberlich zu Kegelbergen aufgeschichtete weißen Rollen die einen, Haufen von buntem Plastikgeschirr, Eimern und Schläuchen die anderen.

Solche weißen Pyramiden, die habe ich schon einmal gesehen, in den Salzseen der Camargue in Südfrankreich, die quietschbunten Plastikprodukte glichen eher einem überdimensionierten Kinderladen. Meterhoch aufgestapelte Eimer, Schüssel und Wannen, im Gras kringeln sich bunte Schlagen von Schläuchen, Kabeln und Planen. Ein Kunstwerk, diese Pyramiden, stoße ich hervor. Vielleicht der ursprüngliche Sinn von Papyrus. Daran kann ich mich begeistern, diese sicht- und greifbare Absurdität, mit der sich das System vorführt, die schreiende Lächerlichkeit, die unbeabsichtigte Bloßstellung, der Irrwitz auf die Spitze getrieben, wenn alle Marktteilnehmer nur ein oder zwei Produkte miteinander austauschen und Produzenten, Verkäufer und Käufer ein und dieselbe Person sind. Wie kann man da Profit machen, was überhaupt austauschen? Es gibt Straßenabschnitte, wo ausschließlich Klopapier angeboten wird. Es reicht sicher für viele Menschenleben. Diese wie in einer Versuchsanordnung aufgebaute Endvision des Kapitalismus. Mein Gast dagegen kann dem nicht das Schräge, Verquere, Fantastische abgewinnen, das ich sehe. Sie kann nicht mitlachen und hat auch keine Lust, als Kunde aufzutreten. Eine sentimentale Trutschn, ein Nockerl, sage ich zu mir innerlich.

Ich denke an meine neu erworbene Datscha und will zwei Eimer, eine große Wanne, ein Nudelsieb, zwei Kochlöffel und einen Gartenschlauch kaufen. Die Verkäufer prügeln sich fast um mich und untereinander, dass ich auch bei anderen etwas kaufen soll. Leider, geht nicht, an Klopapier habe ich selbst großen Vorrat. Aber okay, lasse ich mich von den streitenden Anbietern breitschlagen, als Souvenir, als Erinnerung und Zeugen, weil die Erzählung von diesem Bild wird mir niemand glauben. Meinen Plastikeinkauf teile ich also auf sieben und die vier Klopapierrollen auf zwei Verkäufer auf.

Als Russland-Neuling acht Jahre nach der Wende kann E.S. nicht wissen, welch knappes Luxusgut Klopapierrollen in der Sowjetunion waren. Die alten Russland-Reisenden waren über Jahrzehnte gebeten worden, solche aus dem Westen mitzubringen. So heiß begehrt wie Schallplatten, Bic-Kugelschreiber und -Feuerzeuge, Nylon-Strumpfhosen, Burda-Schnitthefte und BHs von Palmers. Oft wurden einem das begehrte Papier und die Bics an der Grenze in Brest-Litowsk abgenommen – aus Hygiene- und Sicherheitsgründen, wie es hieß, oft auch die Burda-Hefte, wenn am Zoll eine Frau Dienst tat oder ein Zöllner eine Frau hatte, die die Schnitte nachschneiderte.

Einmal bin ich dahintergekommen, dass ein Freund von der Uni mit meinen eingeschmuggelten Klopapierrollen und Bics einen Handel begonnen hat. Nach der Wende traf ich ihn wieder, schon ein bekannter Name, er war Banker und Millionär, groß geworden mit gefakten Elektrogeräten aus Polen. An öffentlichen Orten wie etwa den Toiletten im Bolshoi bekam man von der Klofrau zwei dünne Blättchen überreicht, die man mit ihrer Durchsichtigkeit nicht benutzen wollte. Auf ihrem Tischchen waren sie in Stapeln stückweise so fein gelagert wie Goldbarren. Wie oft habe ich als Gastgeschenk zu einer Privateinladung nicht nur ein Viertel Meinl-Kaffee, sondern auch ein paar Klopapierrollen mitgebracht. In keinem Haushalt gab es auf den Toiletten etwas anderes als in kleine Vierecke geschnittene Pravdas oder Izvestias, an der Wand auf einen Nagel gespießt. Die Finger waren oft schwarzgefärbt, wenn man dieses Papier benutzte, wie es hinten aussah, wollte man nicht wissen. Wer richtiges Toilettenpapier besaß, nahm in der Kommunalka die Rolle mit aufs WC und versteckte sie nach der Erledigung wieder in seinem Zimmer. Die Kriege um geklautes Klopapier sind sowjetische Legende und bei Radio Jerewan die Witze über das rare Kulturgut Legion. Sie flogen in den Kosmos, aber konnten den ersten Arbeiter- und Bauernstaat nicht mit genügend Toilettenpapier versorgen.

Und nun dieses Bild auf der Leningradskoje. Das war mein Highlight. Ich jubilierte. Ich war einfach nur happy. Das war mein Blick, mein Beweis für die vollzogene Wende, und welcher! Wahrscheinlich zweifelte die poetische E.S. an meinem Geisteszustand, dass ich mich an diesem Irrwitz derart berauschen konnte. Ich versuchte ihr das zu erklären, aber manches muss man einfach miterlebt haben, vor allem die abgrundtiefe Absurdität des Lebens im Kommunismus. Aber so kamen wir an diesem Nachmittag beide zu unserem Genuss und Ivan zu einem fetten Fuhrlohn – in den Sparstrumpf für die Reise nach Liverpool.

13.7. 17

Veronika Seyr
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