Summer of deaths 2002

Bericht von Marina L.-L.

Ich kenne Viki schon lange und mag sie sehr. Sie ist sicher die verrückteste Diplomatin in ganz Moskau. Und ich kenne genügend frei herumlaufende verrückte Zeitgenossen, ich bin selber eine von ihnen.
Aber damit ging sie zu weit, fand sogar ich, die ihr bisher alles nachgesehen hatte. Schon als sie sich vor zwei Jahren in den schönsten, aber dümmsten Mann von Moskau verliebte, tuschelte die ganze Gesellschaft. Aber sie lässt sich nie von etwas abbringen, was sie sich in den Kopf gesetzt hat. Oder in ihrem Herzen verankert. Bei Lew, dem Flieger, machten wir alle Ohren zu, um möglichst wenig von seiner Dummheit mitzukriegen. Eigentlich nicht dumm, sondern einfältig.

In unserem Kreis von blitzender Intellektualität und Kultiviertheit fiel er auf wie ein Nackter unter Angezogenen. Zugegeben, zum Ansehen angenehm, ein gestandener Mann mit dem Flair eines Hollywood-Schauspielers. Vielleicht war’s das Bett. Das soll ja vorkommen, überhaupt wenn einem nicht mehr allzu lang Zeit bleibt. Viki war verrückt nach ihm, da konnte man nichts machen. Um das Außenbild kümmerte sie sich nicht. So war sie verfasst, das machte sie in meinen Augen noch reizender. Viele zerrissen sich den Mund über sie, aber sie hatte irgendwie Narrenfreiheit, war niemandem als sich selbst verantwortlich. Man konnte ihr ja auch nichts vorwerfen. Im Job extrem erfolgreich, gesellschaftlich sowieso bei diesem Auftreten und Aussehen. Intellektuell fast allen überlegen, dabei tief emotional, sozial wach, unterhaltsam und optimistisch. Wie viele Menschen hat sie nicht moralisch aufgerichtet oder ihnen praktisch geholfen. Ich weiß, wovon ich spreche, ich bin eine von ihnen, vielleicht an erster Stelle.

Alles selbst erwirtschaftet, an keinem Gängelband, nicht hier und nicht bei sich zu Hause. Eine rundum perfekte Person, wenn sie nicht zu Narreteien geneigt hätte. Aber auch diese betrieb sie mit Konsequenz, Aufrichtigkeit und Ehrlichkeit, eine selbstlose, natürliche, selbstverständliche Großzügigkeit konnte ihr niemand abstreiten. Einen großzügigeren Menschen hat die Stadt noch nicht gesehen. Manche nennen sie hinter vorgehaltener Hand „unsere Florence Nightingale“. Sie hatte einen angeborenen Helfertrieb. Innerlich vollkommen unabhängig mit standfesten Meinungen und klaren Einschätzungen. Mit einem immer gut gefüllten Konto.
Den einfältigen Lew konnten wir ihr noch verzeihen, eine sexuelle Narretei, den leistete sie sich eben, sie durfte das.

Aber in diesem Sommer übertrieb sie es. Da begann sie, wirklich verrückt zu werden. Aber wir alle wurden fast verrückt. Es war der Sommer des Todes, Sommer 2002, leto smerti. So schrien es die Medien heraus, und wir übernahmen das.

Die Todesserie begann im Mai. Islamistische Terroristen warfen in Dagestan einige Bomben in eine Militärparade, 70 Tote, viele davon Kinder. Dann stürzte im Juni ein mit Kindern, Eltern und Lehrern besetztes Flugzeug über Deutschland ab. 154 Tote, große Spannungen zwischen Moskau und Berlin, Attentat, die ewigen Feinde, aber wahrscheinlich ein technisches Gebrechen bei der alten sowjetischen Antonow.
Im August dann der Abschuss eines russischen Militärhubschraubers in Tschetschenien, 119 russische Soldaten sterben.
Das alles sind Nachrichten aus dem Fernsehen mit den entsprechend schrecklichen Bildern. Viele entschieden, den Apparat nicht mehr aufzudrehen. Es war zu viel an Unglück und Schrecken mit den entsprechenden Verschwörungstheorien und Verdächtigungen in alle Richtungen. Es war Krieg, auch wenn das Wort niemand aussprechen wollte. Wir konnten das einfach nicht mehr ertragen. Aber doch war alles ziemlich fern, niemand kannte jemand direkt Betroffenen, wir waren alle nur fern-betroffen. Es war auch ein ungewöhnlich langer und heißer Sommer. Die ansonsten immer sommerhungrigen Russen hatten die Nase schon voll und sehnten den Regen herbei.

Diese Brände, die Moorbrände, die um Moskau schwelten, den Himmel verdunkelten und das Atmen erschwerten, zehrten an den Nerven. Das war die Apokalypse. Dazu brauchten wir kein Fernsehen und keine Zeitungen. Die kannten wir alle und litten ganz direkt, jeden Tag und jede Nacht. Niemand schien in der Lage zu sein, diesem Grauen ein Ende zu setzen. Erst der erste lange Septemberregen machte dieser Hölle ein Ende, ein erstes Aufatmen.

Da kam aus dem Kaukasus die Nachricht von der Katastrophe. Der Regisseur und Schauspieler Sergej Bodrow wurde von einer Lawine verschüttet, zusammen mit 130 Menschen seiner Crew. Vorerst wusste man nichts von Überlebenden.

So, jetzt muss ich mit meiner Erzählung über Viki etwas in der Zeit zurückgehen. Sie hat mich eingeweiht, dass sie sich in Sergej Bodrow verliebt hat, aus der Ferne, am Bildschirm, in seiner Rolle als Brat I (Bruder) und Brat II, in den Jungen im französisch-russischen Film „Ost-West“ mit Sandrine Bonnaire. Viki hat sich in die Kinos gesetzt, die Videokassetten gekauft und glotzt seither zu Hause auf dem Sofa immer nur noch Sergej Bodrow. Sie hat sich in diesen Schauspieler verschaut. Vernarrt war sie in diesen jungen Mann mit den dunklen Haaren und den veilchenblauen Augen, leicht schräg gestellt von seiner burjatischen Mutter. 31 Jahre alt, großgewachsen mit einem wunderschönen Körper gesegnet, Sohn des berühmten Regisseurs Wladimir Bodrow, schon längst in die USA ausgewandert. Auch in ihn war sie schon verliebt, eine Generation früher.

Viki hatte es schwer erwischt. Sergej Bodrow war wirklich sehr schön, ein neuer russischer Superstar mit eigener TV-Sendung über die russische-sowjetische Filmkunst, sehr klug. „The hottest young russian moviestar today“, schrieb der englischsprachige „Ekran“.
Viki saß nächtelang gebannt vor der Glotze, ich war öfters dabei und wunderte mich über ihre extreme Begeisterung.
Bewunderte ihre Bewunderung. Sie war so begeisterungsfähig, aufnahme- und lernbereit, wie ich in Moskau keinen anderen Menschen kenne, ausländischen, westlichen.
Aber mit diesem jungen Sergej, da hatte sie einen Knall weg. Sie schrieb Briefe an ihn, sie ging auf seine Filmsets, drängte sich an ihn heran. Eine echte Närrin, mit ihren 51 Jahren, er ein junger Vater von zwei Kindern mit einer attraktiven Ehefrau im Alter ihrer eigenen Kinder. Welche Chancen rechnete sie sich aus? Sie rechnete nicht. Sie machte. So war sie, so kannte ich sie.

Dann kam die Katastrophe. Es war der 20. September. Sergej drehte gerade im Kaukasus seinen neuen Film „Zvjasnoj“, Verbindungsmann, Kontaktmann, Bote oder Messenger. Eine aktuelle Geschichte über den tschetschenischen Konflikt mit Wurzeln tief in der russischen Geschichte und Literatur, in Puschkins und Tolstojs Erzählungen vom kaukasischen Gefangenen. Andere übersetzen sie mit „Gefangener in den Bergen“.

Was war passiert?
Regisseur Bodrow hat gerade den letzten Drehtag hinter sich, im Dorf Karmadon auf 2000 Meter Höhe in einem engen Tal auf der nordossetischen Seite des Kasbek. Es war ein Freitag, das Wochenende wollte er schon wieder mit der Familie in Moskau verbringen.
Der Gipfel des Maili ragt über dem Drehplatz in einer engen Schlucht bis zur Höhe von 5300 Meter hoch.
Da löst sich ein Drittel des Gipfels, wahrscheinlich wegen des Klimawandels, und rast in das Tal, in dem sich gerade die 130 Filmleute zum Aufbruch bereit machen.
Eine 150 Meter dicke Eis- und Geröllschicht schiebt sich über das schmale Tal, dreißig Millionen Tonnen Eis und Fels, zehn bis dreißig Meter breit. Zwischen den Dörfern Tschartali und Waschloba war die Baidara-Schlucht auf sieben Kilometer verschüttet. Bis zur 300 Meter hohen, senkrechten Felswand, wo der Sage nach der Titan Prometheus angeschmiedet worden sein soll. Zeus hat ihn dafür bestraft, dass er den Menschen das Feuer brachte.
Die Rettungsmannschaften kamen nur schwer voran. Sie fanden erst nach drei Tagen acht Tote und 27 Überlebende. Sergej Bodrow war nicht darunter. 97 Menschen sind vermisst.

Da drehte Viki vollkommen durch. Sie hatte natürlich wie alle Menschen im Lande die Sendungen im Fernsehen verfolgt. Sie ließ alles liegen und stehen, nahm sich eine Woche Urlaub und wollte in den Kaukasus fahren.
Niemand konnte sie davon abbringen. Sie nahm eine Maschine nach Krasnodar, den nächst gelegenen Flughafen innerhalb Russlands.
Niemand konnte sie davon abhalten, obwohl sie als Diplomatin genau wusste, welch heißes Gebiet zwischen Russland, Georgien und Nordossetien das war.
Sie wollte ihren Sergej mit eigenen Händen selbst ausgraben. Sie wollte nicht an seinen Tod glauben, nicht anerkennen. Das kann nicht möglich sein. Wer hat das gemacht? Sie zürnte mit allen Schicksalen und Göttern, an die sie nicht glaubte, aber dafür verantwortlich machte. Sie war einfach verrückt geworden um diesen Sergej Bodrow, treffend im Russischen vom Verstand verlassen, ona ssuma ssoschla.

Trotz ihres österreichischen Diplomatenpasses wurde sie am Flughafen gestoppt, sie hatte keinen offiziellen Auftrag. Außerdem war das nordossetische Gebiet um den Kasbek gesperrt, man fürchtete neue Gletscherstürze vom Maili und anderen Gipfeln. Die Miliz setzte die Verwirrte in das nächste Flugzeug zurück nach Moskau. Alles lief zum Glück ohne weitere diplomatische Verwicklungen ab.
Die Botschaft schwieg über den Vorfall und schickte sie in unbefristeten Krankenstand.

Danach habe ich Viki nur noch selten getroffen. Keine großen Gesellschaften mehr, wofür sie früher bekannt und begehrt war. Ihren sagenhaften Atom-Piloten hat sie auch ins Ausgedinge geschickt, er diente ihr in stummer Treue als Chauffeur, hörte man. Er durfte sie und ihre Gäste in seinem alten Wolga herumkutschieren.
Sie zog ganz auf ihre Datscha in Abramcewo.
Immer mehr eine komische Alte. Die Dörfler akzeptierten sie. Sie hatten eigene Verrückte. Die russische Kultur achtete sie als Narren in Christo. Sie flüsterten darüber, dass sich die Diplomatin mit der Ziegenhirtin Fronja aus Bykowo angefreundet hat und mit ihr über die Weiden streunt. Viel hält sie sich bei heiligen Quelle von Radonesch auf und beim ehemaligen Gutshaus von Glebowo. Dort sitzt sie mit ihrer Mundharmonika auf einem Grabstein des aufgelassenen Friedhofs, wie immer begleitet von Laika und Tuman. Sie sah immer mehr aus wie die Frauenfigur in Wrubels Gemälde von der Undine, das im Museum von Abramcewo ausgestellt ist.

Einmal nahm ich all meinen Mut zusammen und fuhr spontan zu ihr nach Abramcewo hinaus. Ich dachte, nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht hatten, durfte ich mir das leisten. Ich wusste, das war ihr Refugium, ihr Heiligtum, mein Paradies, wie sie selbst den Flecken Erde nannte. Ich drang ein, ich kannte das Türchen mit der Nummer 9. Es klappte hinter mir zurück zu wie früher immer bei meinen Besuchen mit einem schlappen Knall.
Über den schmalen Steig, durch das Wäldchen zur Wiese vor dem Haus. Da lag sie hingestreckt in einem Liegestuhl, vollkommen bedeckt von weißem Leinen und einem ausladenden Strohhut. Schlummernd, die Katzen und der Hund irgendwo zwischen Gras und Farnen. Auf sich und rundherum Zeitungsblätter ausgebreitet.
Ein Bild des Friedens in der milden Augustsonne.
Ich trete näher an sie heran, sie atmet, die Lippen bewegen sich und sie murmelt abgerissene Worte vor sich hin. Mit Mühe kann ich etwas verstehen.

Retten, ich hätte ihn retten … Rettung, wenn ich früher dort, sie haben ihn nicht gerettet, im Stich gelass … retten … aber er lebt, das kann nicht sein … ich, retten, er muss leben …
Sie war so verliebt, dass sie einen Ausweg für ihn suchte, der sein Überleben sicherte.

Viki war ernsthaft krank. Sie erholte sich nie wieder ganz. Die Nachbarn erzählten, dass sie manchmal in wallenden weißen Kleidern durch die Siedlung und die Wälder läuft und mit sich spricht. Immer an ihrer Seite Laika, ihre Schäferhündin, manchmal auch der Streuner Tuman, ein sibirischer Huskymischling. Laika und Tuman hatten sich schon im ersten Sommer ihres Lebens auf der Datscha angefreundet, Tuman hat sich in die Familie hineinadoptiert.
Sie wurde auf ihren eigenen Wunsch aus dem diplomatischen Dienst entlassen, kehrte aber nicht nach Hause zurück, sondern entschied sich dafür, in Abramcewo zu bleiben. Für immer. So verschwand sie von der Bildfläche der Stadt.

Aber einmal hörte ich doch noch von ihr, wenn auch nur indirekt. In meinem Friseursalon nahm ich während des Wartens das Moskauer Boulevard-Blatt Bliz zur Hand und fand einen reich bebilderten Bericht über das Unglück am Kazbek.
Es waren die alten Bilder, die damals durch die Medien gegangen waren. Aber der Text war neu und mit Viki F. S. gezeichnet, das waren Vikis Initialen.
Die Autorin bringt alle bekannten Fakten und Daten über die Katastrophe und folgert daraus, dass die 97 Vermissten mit hoher Wahrscheinlichkeit noch lebten. Sie hatten sich knapp bevor die Lawine ins Tal raste, in einer Höhle befunden, wo der letzte Dreh stattgefunden hatte. Das gaben die acht Überlebenden unisono an. In dieser Höhle entspringen heiße Mineralquellen, die die rostbraune Färbung des eisenhaltigen Gesteins kennzeichnen. Das alles ist nichts Neues, denn in dieser Höhle hat auch nach dem Drehbuch der Held des Filmes einige Zeit Zuflucht vor seinen Verfolgern gefunden.

Aber das Geschick dieser Höhle ist viel älter. Sie geht auf das finsterste Kapitel der georgischen Geschichte zurück.
Im Jahr 1739 überfielen muselmanische Horden aus Südossetien, die Lesgier unter dem Eristaw Schanse III., die christlichen Chewsuren. Die Überlebenden retteten sich in diese Höhle in 2000 Metern Höhe und gruben sich durch den Berg bis zur Tschabaruchi-Schlucht auf der Nordseite des Kasbek. Die für ihre Reitkunst und Architektur berühmten Chewsuren errichteten aus Dank für ihre Rettung ein Höhlenkloster mit den Kirchen Spas und Uspenie. Beide Basiliken in der landesüblichen Ziegelbauweise mit Kuppeln, zweischiffig die eine, dreischiffig die größere, mit Polygonpfeilern als Stützen für die nach Osten ausgerichteten Apsiswände.
Viele Details zur Baugeschichte, zu den Fresken und kulturhistorischen Bedeutungszusammenhängen. Das war die echte Viki mit ihrem alten, immer wallenden Journalistenblut.

Gleichzeitig bauten die Chewsuren den hinteren Ausgang der Höhle zu einer uneinnehmbaren Festungsanlage aus, dem Ananuri, die man noch heute besichtigen kann. Sie ist ein beliebter Ausflugspunkt von Tbilisi aus, das nur 50 Kilometer entfernt liegt im wildromantischen Tal des Aragwi. In der Festung hatten Sergej Bodrow und sein Team schon im August mehrere Drehtage zugebracht. Das ging ganz klar aus dem Filmtagebuch hervor. Allerdings hat das Rechercheteam nichts von einem Hinterausgang der Höhle erwähnt. Sie mussten die Flucht und Rettung des Helden vor der russischen Armee simulieren, für das Medium Film kein Problem, es lebt ja von der Simulation.

Wie aber konnte die angeblich verwirrte und kranke Viki das alles recherchiert und folgerichtig aufgezeichnet haben? Jede einzelne Angabe ist überprüfbar. Das hat die Redaktion von Bliz offenbar auch getan. Sie versieht den Bericht mit zahlreichen Zitaten, von den Überlebenden bis zu den Rettungsmannschaften und Anwohnern des Kasbek. Aus dem Artikel geht auch hervor, dass die Autorin vor Ort war und mit vielen Menschen gesprochen hat. Alles fein säuberlich garniert mit Ort- und Zeitangaben, georgischer und ossetischer Geschichte, Architektur und Kunstgeschichte.

Die Folgerungen, die sie zieht, sind aber wieder typisch Viki: ihre überbordende Fantasie, ihr profundes Wissen über historische Zusammenhänge und ihr leichter Hang zur Mystik. Die 97 Vermissten konnten sich nicht nur physisch in die Aragwi-Höhle retten, sie hatten auch genügend Wasser, Luft und Vorräte. Viki ist überzeugt, so schreibt sie, dass die Überlebenden auch Hilfe bekamen. Nicht von außen, denn die Suche wurde nach zwei Wochen als aussichtslos eingestellt und das ganze Tal gesperrt.
Sie nennt konkret drei Frauen: Medea, die Tochter des Königs von Kolchis Medea, Tamar, die legendäre Königin von Georgien und die griechische Dichterin Sappho haben Bezüge zu dieser Landschaft. Nicht vollständig nachweisen kann sie die Anwesenheit von Antigone, aber ihre Argumentation ist bestechend und die Vorstellung reizvoll. Antigone hat sich nach dem Todesurteil ihres Onkels Kreon, des Königs von Theben, laut Sophokles in einer Höhle einmauern lassen. Ist also eine ausgewiesene Höhlenspezialistin. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich auch noch die burjatische Großmutter um Sergej kümmert.

Aber warum hat es diese Ausländerin gebraucht, um diese Informationen ans Tageslicht zu bringen? Das verheimlicht der Artikel; die Autorin, ganz Journalistin, gibt ihre Quellen nicht preis.
Und wo sind die 97 Überlebenden geblieben? Auch das verrät der verwirrte Geist nicht, geht über Andeutungen nicht hinaus. Als Parallele zieht sie dabei die alte Erzählung von der versunkenen Stadt Kitesh heran. Beim Ansturm der Goldenen Horde hätten sich die Bewohner von Kitesh in einen See zurückgezogen. Nur wer eine reine Seele habe, könne die Glocken am Grunde des Sees hören. Diese mittelalterliche Sage aus dem Historienbuch des Nestor kennt in Russland jedes Kind, und jeder Russe hofft, diese unschuldige Seele zu sein.
Die Crewmitglieder hätten nicht mehr in ihre früheren Leben zurückkehren können, ohne sofort ins Irrenhaus gesperrt zu werden. Das versteht jeder Russe sofort. Also seien sie nach ihrer Rettung heimlich an einen unbekannten Ort geflohen.

Viki, die Kennerin der russischen Geschichte und der deutschen Literatur, gibt noch einen kleinen Hinweis.
Er ist so versteckt, dass er nur von einem Teilnehmer selbst kommen kann. Ich vermute, sie hat die 97 gefunden und mit ihnen gesprochen. Ihre angebliche Verwirrtheit ist nur vorgetäuscht, um ihre Schützlinge nicht zu gefährden.
Den Schauernimbus hatte sie sich zugelegt, damit sie sich nicht selbst verriet. Denn wenn sie sich verplappern sollte, wer würde so einer Figur schon Glauben schenken. Plemplem, eh klar.

Ihr Fingerzeig besteht in der Erwähnung des Schicksals von Zar Alexander I. Der offiziellen Geschichtsschreibung nach ist er am 1. Dezember 1825 in Taganrog am Asowschen Meer gestorben. In Wirklichkeit hat er sich aber in fremden Kleidern davongestohlen und ist zu den Altgläubigen in die sibirischen Wälder gegangen. Eine andere Volksweisheit will wissen, dass er sich in Rostow am Don unter einen Sträflingszug mischte und mit ihm in die Katorga marschierte. Warum er das gemacht haben soll, das weiß das weise Volk natürlich nicht, sondern nur der deutsche Schriftsteller Reinhold Schneider. In seiner Erzählung „Taganrog“ gibt er das Geheimnis preis.
Alexander I. wurde 1801 Ohrenzeuge der Ermordung seines Vaters, des Zars Paul I., welche ihm den Zarenthron einbrachte. Im Laufe der Jahre litt Alexander immer mehr unter dieser Schuld, bis er der Melancholie anheimfiel und sich nicht mehr für regierungsfähig hielt. Als seine Frau Elisabeth erkrankt und zur Genesung den Süden aufsucht, findet er die Gelegenheit zur Flucht.
Schneider hält beide Möglichkeiten offen und lässt den Leser wählen.

Es gibt zwischen Radonesch und Sergijew Posad tatsächlich noch undurchdringliche Urwälder, die seit dem Heiligen Sergej niemand betreten hat. Meine private Vorstellung ist, dass Viki ihren Sergej Bodrow an der Quelle getroffen und von ihm alle diese Informationen bekommen hat.
Da ich Viki wirklich gut kenne, weiß ich, dass sie seit vielen Jahren das Innere Russlands sucht, eigentlich ihr ganzes Leben schon. Sie glaubt ja, dass sie selbst eine Wiedergeburt der Bojarin Morozowa ist. Ihre innere Blindheit war unheilbar.
Sergej Bodrow hat den Film im Kloster fertiggestellt, er wurde bekehrt und ist dort geblieben. Frau und Kinder besuchen den Mönch einmal im Monat. Er heißt jetzt Bruder Sawwati und gilt als heiligmäßig, vielleicht wird er sogar einmal Starez des Klosters. Die Menschen pilgern jetzt schon zu diesem Sawwati, ohne zu wissen, wen sie vor sich haben. Die Mönche können schweigen.

Vielleicht wird man mehr erfahren, wenn der neue Film von Sergej Bodrow demnächst herauskommt.
„Messenger“ ist schon für das nächste Cannes-Festival angemeldet, heißt es im Bliz.

14.7.17

Veronika Seyr
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