Der Prinz

Ein Prinz verließ das Schloss seines Vaters, um im nahegelegenen Wald Pilze zu sammeln. Es war ein sommerlich warmer Tag, also trug er dünne Kleidung, auf dem Kopf die goldene Krone, die seinen Rang symbolisierte. Er brach auf, ohne Waffen zu tragen, die letzten Wölfe waren Jahre zuvor erlegt worden, und nachdem es keine Banditen mehr gab, sein Vater hatte alle henken lassen, verzichtete er auch darauf, sich von der ihm zugeteilten Leibwache eskortieren zu lassen.
Er ging durch den Wald, den Kopf zu Boden gesenkt, um nur ja keinen Pilz zu übersehen, als er plötzlich Schritte hinter sich wahrnahm. Er wandte sich um und erblickte den für seine Grausamkeit und Unerbittlichkeit bekannten und gefürchteten Zauberer Gordon. Der Prinz wollte davonlaufen, doch der Zauberer packte ihn am Genick und hielt ihn zurück. Der Prinz weinte, schrie, flehte um Gnade, doch der Magier sagte bloß: „Wer einmal Gordons Weg kreuzt, ist verloren!“ Der Prinz bot ihm Gold an, Edelsteine, die schönste Jungfrau im Lande, jedoch er hatte keinen Erfolg.

Gordon erhob sich, den armen Prinzen an der Hand, in die Luft und flog viele Meilen weit zu einem Turm, welcher einsam und verlassen auf einer Lichtung an der dunkelsten Stelle des Waldes stand. Allein, der Turm hatte keine Türen, lediglich ein Fenster knapp unterhalb der Spitze, vergittert und angsteinflößend. Gordon schwebte durch die Mauer hindurch in einen kleinen Raum. Er warf den Prinzen auf den Boden und machte ihm deutlich, dass sein Leben an diesem Ort ein Ende finden würde.
Er warf dem Königskind einen Kürbis vor die Füße und sagte, dass dieser für die nächsten drei Tage vorhalten müsse. Er würde von nun an jeden dritten Tag kommen, um der armen Seele einen Kürbis und einen Eimer Wasser, für die Körperpflege und um den Durst zu löschen, zu bringen. Er entschwebte und ließ den jungen Mann zurück. Der Prinz versuchte, zu dem vergitterten Fenster zu gelangen, jedoch war dieses unerreichbar. Er schrie und weinte, doch niemand hörte ihn.

Ein Gewitter zog auf, es stürmte und hagelte, zumindest das Dach hielt dicht, der Prinz betete, doch wurde er nicht erhört. Er aß ein Stück vom Kürbis, trank wenige Schlucke Wasser und schlief auf dem Stroh, welches den Boden bedeckte, ein. Am nächsten Morgen wachte er schreiend auf im Glauben, einen Albtraum durchlitten zu haben, jedoch war es kein Traum. Er schrie sich die Seele aus dem Leib, er schlug gegen die Wand aus Stein, versuchte sie zu zerkratzen. Schließlich brach er blutend und weinend nieder.
Der Zauberer hielt Wort und brachte ihm wortlos jeden dritten Tag Speise und Trank. Es war ein sehr frugales kulinarisches Vergnügen, doch es hielt den Prinzen am Leben. Dieser hatte die Idee, die Schalen der Kürbisse zu trocknen und aufzuschichten, um so zum Fenster zu gelangen und Hilfe herbeizurufen. Nach vielen Monaten gelang ihm dies, und er klammerte sich an die Gitterstäbe und schrie sich die Seele aus dem Leib. Allein, es hörte ihn niemand.

Eines Tages, er schlug gerade mit seinem Kopf gegen die Wand, bis diese blutrot war, dachte er an das Geräusch, welches Metall verursacht, wenn es gegen Metall geschlagen wird. Er hatte dies oft gehört, beim Fechtunterricht, den er gemeinsam mit seiner Jugendliebe erhalten hatte. Beim Gedanken an diese und an die geringe Wahrscheinlichkeit, sie jemals wieder im Arm halten zu können, brach er erneut in Tränen aus. Aber er musste stark sein.

Er stieg auf den Haufen aus getrockneten Kürbisschalen und schlug mit seiner goldenen Krone, die der Zauberer Gordon ihm gelassen hatte, gegen die Gitterstäbe. Es war ein lautes, metallisches Geräusch, und durch die Höhe, in welcher das Fenster gelegen war, war es weithin zu hören. Er schlug von nun an jeden Tag viele Stunden mit der Krone gegen das Eisen, doch er erhielt niemals Antwort. Die Bauern auf den Feldern hielten in ihrer Arbeit inne, sobald dieses Geräusch ertönte, etwas Schöneres und Lieblicheres hatten sie noch nie zuvor gehört. Es war Musik in ihren Ohren, vorgetragen von Engelschören. Sie fragten sich, woher es wohl kam, doch sie hatten Angst, sich dem Wald zu nähern. So erfreuten sie sich viele Jahre an diesen Klängen, ohne sich bewusst zu sein, wessen Schicksal sie ihnen bescherte.

Eines Tages waren die Klänge nicht mehr zu hören. Sie ertönten niemals wieder. Der Prinz hatte aufgegeben, er hatte sich in sein Schicksal ergeben.

Michael Timoschek

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