Im Einundsechzigsten

Die Hauptperson fehlt.
Noch nicht alt. Nicht mehr jung.
Zu jung.

Eine gebrochene hochbetagte Mutter, deren Schmerz nur kurz Linderung erhält durch Momente der  Erleichterung darüber, nun nicht mehr Sorge für die Zukunft der kranken Tochter tragen zu müssen.
Kartenspielen mit der Mutter, beiderseitige Fürsorge.
Was wird sein, wenn die Mutter geht?
Wer rechnet schon mit der umgekehrten Reihenfolge?
Der heißgeliebte Kater in der Obhut der Mutter.

Ein ebenso alter Vater im jägerlichen Lodenrock, verkniffen, erschöpft.
Der Kontakt zur Tochter war nicht der beste.

Der Cousin, angereist aus Wien, der Jüngste und Letzte der Familie.

Zwei ehemalige Kolleginnen, zwei Kameradinnen aus der Kindheit und einige der Freundinnen, die später dazustießen. Gemeinsame Reisen, unbeschwerte Plauderstunden, Salzburgfahrten (zum Patenkind), bei denen erste Gehstörungen auftreten.
Besuche bis zuletzt, aber bestimmt zu selten! Keine Vorwürfe oder Klagen.

Eine feierliche Stimmung will nicht aufkommen, bedrücktes Schweigen.
Der Tross folgt der Urne in der Sommerhitze quer über den Friedhof. Auf knirschendem Kies und unter Verkehrsgetöse und Baustellenlärm.

Die Männer in ihrem Leben sind auch gekommen.

Die Verlobung mit dem ersten Freund empfindet sie gerade noch rechtzeitig als zu eng. Da war immer schon ein großer Wunsch nach Eigenständigkeit, danach, selbst zu entscheiden. Die Freundschaft bleibt dennoch bis zuletzt. Ich hab ihn mir anders vorgestellt, agiler, aber natürlich ist er ein grauer Mann.

Die Gesellige, stets Freundliche – es war Verlass auf sie.
Die Lebenslustige, Aktive und Sportliche war eine attraktive Frau und hatte schöne Zeiten.

Ihre große Liebe ist auch hier, ein elegant ergrauter Herr. Der, der sie vor Jahrzehnten einmal sehr verletzt hat. Dem verziehen wurde, und mit dem es danach weiterlief, so nebenbei, aus seiner Sicht in Teilzeit sozusagen.
(Zu der Zeit trat der erste Schub auf, die Sehbeschwerden wurden erst im Nachhinein auf  ihre Krankheit zurückgeführt.)
Wie gut, dass er gekommen ist, aber kurz sträuben sich meine Nackenhaare, wie er jetzt da eine Zeitlang so neben mir hergeht.
Er hat etliche Frauen in sein ruhmreiches Leben gepackt.
Die Freundschaft bleibt aber tragfähig bis zuletzt.

Danach eine Vollzeitbeziehung, im Nachhinein gesehen aber nicht mit dem Richtigen. Nachdem sie diese beendet hat, holt er sich eine junge Frau aus Thailand, empfindet als störend, dass sie ein Söhnchen nachholen will und auch, dass sie schiefe Zähne hat. Der falsche Partner, aber ein Freund, auf den sie zählen konnte. Auch er ist grau; er war es schon immer.

Der nächste und letzte Mann in ihrem Leben hat ihr gutgetan, in Teilzeit und unverbindlich – an ihre Unabhängigkeit hatte sie sich gewöhnt. Als das Leben beschwerlich wird, ist er ein Freund, achtsam in guten wie in schlechten Tagen. Eine gewisse Treue. Auch er ist unter jenen, die sie jetzt begleiten.

Die Tapfere, Zuversichtliche.
Der es dreckig ging, und die kaum geklagt hat.
Die bitteren Entscheidungen: das Auto aufgeben, von der Freiheit ganz zu schweigen!, sich Hilfe suchen, das Pflegebett, der verhasste Rollstuhl, der Badewannenlift, vorzeitige Pensionierung und Pflegegeld beantragen.
Und das niederschmetternde Aufwachen, nachdem im Traum das Gehen-Können wieder möglich war.

Hölzern absolvierte katholische Abschiedsrituale, Trauer nach Regieanweisung. Das Geschehen und der Schauplatz unter der sengenden Sonne und dem nahen Alltagslärm auf seltsame Weise surreal.
Die Mutter untröstlich.
Bei uns anderen wird die Beklommenheit dem Kummer erst später weichen.

Nach einem sehr schlechten Tag mit massiven Sprachstörungen beginnt der folgende mit viel Zuversicht und einem guten Gefühl. Aus diesem heraus verlangsamt sich in der Früh plötzlich der Herzschlag, ihr Sterben ein erstauntes Aus-dem-Leben-Gleiten ohne Kampf und Angst.

Wir sind traurig.

Michaela Swoboda

www.verdichtet.at | Kategorie: hardly secret diary | Inventarnummer: 17137