Die Errettung der Schwalben

Als sich der Vorfall ereignete, von dem ich jetzt erzählen möchte, war ich ganze fünf Jahre alt.
Der Sommer war schön gewesen, ein ganz besonders guter Sommer, sagten die Erwachsenen. Die Donau führte Niedrigwasser, und wir kleineren Kinder konnten ohne Gefahr in den warmen Tümpeln zwischen den Uferfelsen planschen, die älteren durften sogar im Hauptstrom schwimmen. Dazwischen waren wir oft in den Wäldern Beeren sammeln und Schwammerl pflücken, am Dimbach durften wir Forellen und Krebse fangen, der Obstgarten mit Äpfeln und Zwetschken, mit Quitten und Nüssen versprach reiche Ernte, der spärliche Weizen und Hafer waren auch schon gedroschen, in den Gärten der Tanten blühten die Dahlien und Gladiolen, die Hofhündin beim Schmiedgruber hatte vier Junge geworfen, das Hausschwein Rosalia meiner Tante Sofie fünf Ferkel, und ich hatte meinen jüngsten Bruder bekommen – genau in dieser Reihenfolge interessierte mich der Kreislauf der Natur. In der Kirche und in jedem Haus wurde das Erntedankfest vorbereitet.

Das Leben war ein einziges fröhliches und reiches Geschenk, und ich wünschte, dass sich daran in alle Ewigkeit nie etwas ändern sollte. Ich hatte lesen gelernt und war nicht mehr auf die Gnade der älteren Geschwister angewiesen. Zusätzlich hatte mir mein Vater, der in der großen Stadt arbeitete, die erste Blockflöte mitgebracht. Ich war sicher, ich würde Musikerin und Komponistin werden.

Anfang September schlug das Wetter plötzlich um; es brach ein furchtbares Gewitter los, und danach hörte es nicht mehr auf zu regnen. Am Abend saß die ganze große Familie mit allen Dienstboten um den Esstisch herum und betete in endlosen Schleifen den Rosenkranz. In den verschlossenen Fenstern flackerten hinter den Vorhängen die Kerzen. Draußen blitzte und donnerte es, in den Pausen hörte man das anschwellende Rauschen der Donau, während der Regen an die Fenster peitschte. Warum klopften einige Tropfen besonders hart und laut an die Scheiben? Durch das enge Donautal heulte der Sturm, manchmal in einem misstönigen Winseln, manchmal in einem rasenden Getöse, als hätte er alle Felsen und Wälder der Ufer mit sich gerissen, dann wieder in leisem, dumpfen Grollen. Dazwischen murmelten wir die Gegrüßet-seist-du-Marias auf und ab. Ein ganzer Schwarm gehetzter, vom Schreck gepackter Geister raste durch den engen, gewundenen Strudengau wie durch eine auf Hölle gestimmte Äolsharfe, an der niemand Geringerer als der Teufel den Ton angab.
Dann wieder das Vaterunser und das ewige Gegrüßet-seist-du-Maria, dein Leib sei gebenedeit, Heilige Jungfrau, Mariamuttergottes, da konnte es nur noch unbarmherziger und grausamer werden. Aber die verschlafenen Kinder waren schon längst, in Decken gehüllt, in die Zimmer im Oberstock gebracht worden.

Am nächsten Morgen sah man, was die Nacht gebracht hatte: Vom Krautberg hinter unserem Haus war eine Mure abgegangen, die sich fast bis an den ersten Holzstadel heranschob, in wüsten Wellen, von Felsblöcken, Wurzeln und Baumstämmen durchsetzt. Kurz danach brach im Schweinestall meines Onkels eine Seuche aus, alle Tiere mussten notgeschlachtet werden. Wir kannten sie alle persönlich, von der Geburt bis zur Blunzen und zum Speck. Jedes hatte einen Namen, auf den es hörte, und jedes seine Persönlichkeit. Dieses schnelle Vergraben hinter dem Stall und das notdürftige Verscharren in Gruben mit Erde und Kalk, aus denen manchmal noch die Beine herausstanden – die Urkatastrophe meiner Kindheit. Gestank und Fliegenschwärme waren von geringerem Grauen, jeder Bauernhof hatte so etwas. Auch wenn die Kadaver längst verwest waren, konnte ich später nie wieder an diesem Ort vorbeigehen. Die Schweinezucht sollte uns nicht nur ernähren, sondern das zweite Bein des Haushalts der Großfamilie werden, nachdem das Biergeschäft nicht gut ging. Im Bierkeller meines Onkels stand das Wasser schon knöchelhoch, die Holzfässer begannen zu schwimmen, und die Gesichter der Erwachsenen wurden immer ernster.
Von Sintflut und Arche Noah war die Rede, danach, oben um den Tisch. Die Geschichte kannte ich schon vom Vorlesen des Vaters aus der Kinderbibel, sie war eine meiner Lieblingsgeschichten, wegen der Tiere in Paaren, obwohl die Bedeutung von biblischen Strafen der Sünden für mich noch im Dunkeln lag. Mein älterer Bruder raunte mir in einer Rosenkranzpause zu, das ist nur wegen dir, du bist schuld. Warum? Wegen der Schwalben. Ich sah an mir herunter, sah nichts Schuldiges außer meinen kurzen und dünnen Beinen, sah wieder hoch auf das rot-schwarze Kreuzerlstichmuster im groben Naturleinen des Tischtuchs. Daran hielt ich mich bei den endlosen Gebeten, Litaneien und Gesängen, die mir vor den Augen wie endlose rot-schwarze Ameisenstraßen vorbeiliefen und das Hirn verriegelten. Am Ende nahm meine Großmutter einen Besen aus dem Weihwasserkessel heraus und besprengte uns alle in großen, feuchten Bögen.

Die Dorfbewohner gingen trotz aller Arbeit jeden Nachmittag in die Kirche, um mit dem Rosenkranz gegen den Regen anzubeten, so wie sie in trockenen Sommern mit Kreuzen und Heilgenbildern unter Gesängen und Litaneien durch die Wiesen und Felder zogen, um Regen zu erbitten.
Der September war die Zeit, in der sich die Schwalben auf den Telegraphendrähten zwischen unseren beiden Häusern versammelten, um in den Süden zu fliegen. In den Eingängen des Bräuhauses und in den Ställen nisteten jedes Jahr Schwalben in ihren an die Decken geklebten Nestern. Es gehört zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen, wenn die erste kam, der Vorbote des Frühlings, wenn sie im Frühjahr in Scharen einzogen und wir erklärt bekamen, dass es immer dieselben Paare waren, die kurz darauf viele piepsende, gelb geränderte, weit aufgesperrte Mäulchen stopften, sirrend, pfeifend und zwitschernd ein- und ausflogen, unermüdlich. Ich hatte von den Erwachsenen gelernt, an dem Verhalten der Schwalben die Wetterprognosen abzulesen. Je nach Luftdruck flogen sie hoch oder tief, ebenso wie die Fliegen. Die beiden zusammen waren verlässlicher als das Barometer meiner Großmutter.

Während die Erwachsenen immer sorgenvoller ihren Tätigkeiten nachgingen und immer wortkarger wurden, beobachteten wir Kinder die Schwalben auf den Telegraphendrähten. Sie saßen dicht gedrängt, manchmal mehrstöckig, manchmal flogen Gruppen gemeinsam wieder auf, zogen Kreise weit hinaus über die Donau und ließen sich wieder nieder. Wer befahl ihnen, dass sie da draußen sitzen mussten und nicht in ihren Nestern die Regentage abwarten konnten? Niemand hatte Zeit, so eine Frage zu beantworten, sollte sie jemand gestellt haben.
Aber wie so oft, wird die unbestimmte Antwort unter Achselzucken wahrscheinlich gelautet haben: die Natur eben. Zum Beispiel, wenn eine Muttersau fünf Ferkel bekam und eine andere nur zwei, das war doch ungerecht, oder unter einem Schwalbennest ein zerbrochenes Ei oder ein winziger Vogelkörper lag, wobei klar war, dass die Katzen Minka und Murli in so eine hochgelegene Ecke nicht hinaufgelangt sein konnten. Unten machten sie sich gütlich an der Beseitigung dieser Unfälle.
Oder die während der Schweineseuche getöteten Tiere, die alle ihre Namen hatten, sie waren doch unschuldig, hatten nichts angestellt, wurden ermordet und hatten uns nicht einmal zu Schinken, Speck, Schmalz und Blunzen verholfen, immer hieß es: die Natur eben. Aber ich war, wie bereits gesagt, fünf Jahre alt, und in Anbetracht der Umstände, denen man sich zu fügen hatte, konnten meine Fragen nicht beantwortet und meine Wünsche nicht berücksichtigt werden.
Ohne mich vorzudrängen, glaube ich in Erinnerung zu haben, dass ich der Liebling meiner Großmutter war. Dieses Gefühl eben, gegenseitige Zuneigung. Sie war meine Heilige und sie ließ mich schlimm sein. Sie verteidigte mich sogar vor anderen Erwachsenen, denn ich galt als schwieriges, zumindest ungewöhnliches Kind.

An einem Nachmittag entdeckte ich auf dem Mäuerchen unterhalb der Telegraphendrähte die ersten toten Schwalben. Ich stand fassungslos da und sah dem Massensterben zu. Die Vögel fielen einfach von den Drähten, wie Steine. Es regnete Vögel. Manche der kleinen Lebewesen zuckten noch mit den nach oben gedrehten Beinchen. In großer Aufregung sammelte ich sie in einen Korb, der neben dem Hühnerstall für das Eierausnehmen bestimmt war, und lief zu meiner Großmutter.
Sie stand an dem riesigen Herd in der Küche und rührte in einem großen Topf. Omama, bitte. Ich streckte ihr den Korb entgegen.
Hier verlassen mich meine Erinnerungen über diesen Vorfall. Die Verzweiflung aber spüre ich bis heute in der Kehle aufsteigen, wahrscheinlich meine erste Begegnung mit dem Sterben, mit der Hilflosigkeit angesichts der grausamen Natur. Solche Worte hatte ich damals natürlich noch nicht, aber das Gefühl.

Den Ofen kann ich genau beschreiben, weil er noch lange über diesen Vorfall hinaus dort in dieser Küche stand. Damals, mit fünf, werde ich kaum über den oberen Rand hinausgeragt haben, unten gemauert, mehrere Türchen, Fetzen, darüber weiße Kacheln, dann Eisen, Gestänge darum herum und oben auf der Platte, Eisen, vier Löcher mit abnehmbaren Eisenringen, Schürhaken drumherum und Riesentöpfe. Links oben köchelte immer der größte Topf von allen mit dem „Sauquascht“- Schweinefutter – dort kamen im Laufe des Tages alle Abfälle hinein, die als Schweinefutter geeignet waren.
Vorne vielleicht ein Topf mit Stosuppe, einer mit Erdäpfeln, Schmalz aus Schweinespeck, Grammeln, frische, das war mir das Liebste, gleich hinter der Küche eine Backstube, aus der es duftete. Wenn daraus das frische Brot in langen oder runden Körben kam, kam das Himmelreich auf die Erde.
Das große runde Brot kam aus dem Korb auf den Tisch. Großmutter holte aus der Lade unter dem Esstisch ein Messer hervor, zog an ihrer Brust ein Kreuz an der Unterseite des Brotes durch und fing feierlich an, es anzuschneiden. Das erste Scherzl bekam ich, weil ich die Kruste so gerne mochte. Sie sagte zu mir, mein Eichhörnchen.
Bevor es mit Schmalz und Grammeln bestrichen wurde, roch ich daran, Salz natürlich, an Zwiebeln und Schninttlauch erinnere ich mich, und zog das Scherzl unter meiner Nase immer wieder vorbei, sog den Geruch ein, atmete aus und ein wie ein Opiumsüchtiger mit seiner Droge.

Die Großmutter seufzte: „Die Schwalben sterben heuer wie die Fliegen, so ein Jammer, ohgottohgott, das ist kein gutes Zeichen für den Winter, der wird hart.“ Sie bekreuzigte sich mehrmals, führte das Kreuz an ihrem Halskettchen an den Mund, legte die Hand auf das Herz, murmelte Gebete und drehte die Augen zum Himmel.
Ich ließ den Korb fallen und stürzte ihn um. Die Schwalben purzelten auf den Kachelboden vor dem Herd, ein schwarz-weißes Häufchen in einer Regenlache. Ich sah ein leichtes Lächeln auf ihrem Gesicht, zumindest war sie nicht böse auf mich.
Wie in allen Bauernküchen üblich, verlief oberhalb des Herdes ein Gestänge, auf dem Geschirrtücher, Lappen und Putzfetzen aufgehängt waren, aber auch unsere nassen Socken und Kleider, die in der Früh dann nach Holz und Rauch rochen.
Omama räumte alle Tücher vom Gestänge weg und setzte die Schwalben darauf, eine nach der anderen, die noch ein Lebenszeichen von sich gaben. Sie befestigte die Krallen mit Vogelringen, die gleichzeitig die Füßchen stärken sollten. Einige drehten sich sofort nach unten und fielen dann mit einem leisen Zischen auf der heißen Ofenplatte auf. Es roch leicht wie nach verbranntem Haar. Omama fischte sie sofort herunter, öffnete eine Ofentüre und warf sie ins Feuer. Dort zischten sie noch etwas lauter als auf der Platte, manche explodierten zwischen den glühenden Holzscheiten, wahrscheinlich die Gedärme, manche lüfteten ein letztes Mal die Schnäbel nach oben, vor allem die Jungen mit den gelben Schnabelrändern, die Flügel- und Schwanzfedern plusterten sich noch einmal auf in einem winzigen Feuerregen und verbrannten still in kleinen, roten Flammen, im Höllenfeuer. Wofür sie bestraft wurden, konnte ich nicht verstehen. Aber dass manche im Verbrennen noch die Füßchen ausstreckten, als wollten sie sich ein letztes Mal entspannen, fand ich tröstlich. Sie wurden im Sterben wieder lebendig.

So sah die biblische Welt meiner Großmutter aus: Schwarz oder weiß, gut oder böse, oben oder unten, Himmel oder Hölle, Gnade oder Verdammnis. Und immer das schreckliche „Die Natur eben, da kann man nichts machen.“ Dann schloss Omama schnell die Ofentür und schaute nach, ob sich eine Schwalbe oben gehalten hatte. Sie wollte für mich ein Wunder vollbringen, obwohl sie nicht daran glaubte.
So ging es lange. Allmählich kamen mehr andere Hausbewohner dazu, die auch Schwalben eingesammelt hatten.
Langsam ließ man das Herdfeuer ausgehen und legte feuchte Tücher auf die Platten. Jetzt schlafen sie und bald du auch, sagte meine Großmutter, zog mich an sich und drückte mir einen Kuss auf die Stirn.

Das Ende der Schwalben-Rettung an diesem finsteren Abend bekam ich nicht mehr mit, es sollen aber einige Schwalben gerettet worden sein. Die Erwachsenen sprachen nie wieder darüber, und ich wagte nicht zu fragen. Der nächste Morgen war strahlend, die Sonne stand groß im blauen Himmel, und auf den Telegraphendrähten saßen die Vögel dicht an dicht, flatterten auf und ordneten sich neu nach ihren Gesetzen, übten ihre Formationen vorher schon, das Sirren und Zwitschern klang in unseren Ohren fröhlich, als sei nichts geschehen und als freuten sie sich auf ihre lange Reise. Irgendjemand meinte, sie nehmen die Jungen zwischen sich und verabreden sich, wer für wen Verantwortung übernimmt. Der Trost einer Familie nach der Katastrophe. Aber ich bekenne, die Bilder von diesem Schauspiel könnten auch vor der Tragödie entstanden sein.

20.2.17

Veronika Seyr
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