Immer der Wirt

Als ich vor ein paar Tagen aufwachte, fühlte ich sofort, dass etwas anders war.
Mein Blick war getrübt, meine Zunge fühlte sich an, als wäre sie in altes Nutriafell gehüllt, und die Reste meines Gehirns, die noch zu denken in der Lage waren, schienen in wogenden Bewegungen an mein Stirnbein zu schwappen. Da wurde mir klar, dass ich an einer postrauschalen Bewusstseinstrübung litt.
Ich beschloss daher, mit dem ungesunden Zeug aufzuhören, wollte mich vorher aber beraten lassen. Also wankte ich zu meiner Mutter, um ihr von meinem durchaus löblichen Vorhaben zu erzählen.

Meine Frau Mama hat mir in der Vergangenheit nämlich oftmals gute Ratschläge erteilt. An diesem Tag jedoch erhielt ich keinen Rat von ihr, dafür aber verbale Schläge: „Michael! Wie viel hast du gestern gesoffen? Um Himmels willen, du bist ja ein Alkoholik-“ In diesem Augenblick verlor ich auf wundersame Weise mein Hörvermögen und verließ die Küche, bevor ich Mutter meinen großen Plan unterbreiten konnte.
Im Nebenraum erlangte ich mein Gehör wieder und hörte meinen Vater sagen: „Warum regst du dich auf? So sieht er jeden Vormittag aus.“

Ich flüchtete ins Nachbarhaus zu meiner Großmutter. „Oma“, setzte ich an, doch sie unterbrach mich. „Michael, ich habe gestern Nacht zufällig gesehen, wie du deine Haustüre aufsperren wolltest.“ Mir wurde abwechselnd heiß und kalt. Ich setzte meinen unschuldigsten Blick auf und fragte leise: „Und?“ „Nach fünf Minuten hast du es geschafft!“
Die dieser Feststellung folgende Standpauke ließ mich erkennen, dass meine Großmutter mir ausgerechnet den Rat geben würde, den ich keinesfalls hören wollte, nämlich den langsamen Tod des abendlichen Verdurstens zu wählen.

Es ging mir wirklich schlecht, also schlich ich mich in den Keller ihres Hauses und trank eine Flasche Bier. Dann stand ich mit der leeren Flasche in der Hand da und stellte fest, dass meine andere Hand unbeschäftigt war.
Schnell schaffte ich Abhilfe, und drei Minuten später stellte ich zwei leere Flaschen in die Kiste zurück. Ich fühlte mich besser und rief eine Bekannte an, mit welcher ich eine sogenannte schlampige Beziehung führte.
„Heute ist mir klargeworden, dass ich aufhören muss, Heidrun“, sagte ich. Sie schnaubte bloß, und aus dem Klang der stets zahlreichen Ringe auf ihren Fingern schloss ich, dass sie ihren perfekt manikürten Mittelfinger ans Telefon hielt. „Das sagst du jedes Mal, Michael, und dennoch schläfst du beinahe jede Nacht auf der Theke ein, und ich muss Erwin mit nach Hause nehmen!“

Nun ging es mir wieder schlecht, und ich legte mich ins Bett. Am Abend dieses Tages betrat ich mein Stammlokal und sagte zum Wirt: „Stief, ich habe beschlossen, mit dem Zeug aufzuhören, aber ich brauche deinen Rat.“ „Ach Michael“, sagte Stief, „das sagst du jeden Abend. Hier hast du dein Bier, und schon ist die Welt wieder in Ordnung. Nach dem dritten Bier wirst du glücklich sein und doch kein Nichtraucher werden wollen.“

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: süffig |Inventarnummer: 17039