Der Geiger vom Donskoj-Friedhof

Gewöhnlich ging der alte Mann gegen Mittag zum Spielen hinaus. Unter dem Arm trug er einen alten, abgewetzten Geigenkasten. Gekleidet war er in einer Art von Uniform der sowjetischen Rentner. Auf dem Kopf eine Lenin-Schiebermütze, am Körper einen etwas zu groß gewordenen Stoffmantel mit abgestoßenen Kanten und großen, aufgesetzten Taschen. Immer hatte er auch eine Netztasche bei sich, wie alle Sowjetmenschen, für den Fall, dass es unterwegs unerwartet, aber immer erhofft, etwas zu kaufen gab. Er war sicher kein typischer Proletarier, sondern hatte einmal eine seriöse Anstellung gehabt. Sicher nicht in einem großen Orchester. Vielleicht in einem Kulturzirkel eines Arbeiterkollektivs? Vielleicht ein Musiklehrer einer volkseigenen Musikschule?
Wenn am Nachmittag die großen Begräbniszüge kamen, baute er sich vor dem Haupttor auf, etwas abseits der Mitte, damit er niemanden behinderte.

Vier Stufen führen vom Sockel des Denkmals für Wassilij Puschkin, den Onkel des berühmten Alexander, hinauf. Dort lässt sich der Geiger nieder, öffnet den Geigenkasten und wendet sich der Straße zu.
Er ist gut sichtbar in dieser Höhe, und er sieht von Weitem, wie groß und prächtig eine Prozession sein würde, welche viel Volk, Geistliche, Blumen und eigene Musik mitbringen würde. Kaum hat er seine Geige ausgepackt und den Bogen angesetzt, bleiben schon Menschen stehen in Erwartung seiner Musik: Kinder, Passanten, Liebespaare, Käufer vom Blumen- und Tabakskiosk. Alle lassen die Zeitungen sinken, verstummen und blicken zu ihm auf. Denn jede Musik tröstet und ist ein Versprechen auf ein besseres Leben. Im offenen Geigenkasten liegen ein Apfel und ein Stück Schwarzbrot, damit er, wenn er Hunger bekommt, etwas essen kann.

Sogar wenn nur ein einziger Zuhörer stehen bleibt und einsam lauscht, spielt er die Melodie zu Ende.
Er macht diese Arbeit freiwillig, nicht um Geld zu verdienen. Er bekam eine kleine staatliche Rente, von der er leben konnte. Wenn er auf Gewinn ausgewesen wäre, hätte er sich sicher nicht hier, an einem so stillen, abgelegenen Ort, sondern im Zentrum aufgebaut, zum Beispiel beim großen Alexander-Puschkin-Denkmal auf der Gorki-Straße, wo es einen ununterbrochenen Strom von Menschen gab.

Er war etwas anderes, er war kein Bettler.
Er wollte den Menschen etwas Gutes tun, und darum ging er bei jedem Wetter zum Donskoi Friedhof, um dort zu spielen. Ob er mehr als eine Art von Katzenmusik machte, war nie endgültig auszumachen und auch nicht wichtig. Die Klänge seiner Geige erhoben sich über den Straßenlärm, stiegen auf und senkten sich von oben wieder herunter. Manchmal waren die Töne zerrissen, manchmal waren ganze Melodienbögen eindeutig zu erkennen. Sie drangen in die Herzen der Menschen ein, berührten sie und beflügelten sie in ihrer Hoffnung auf ein schöneres Leben. Die Zuhörer holten sofort Geld hervor, Kopekenstücke, alle waren mehr oder weniger gleich arm, aber auch Fünf- und Zehn-Rubelscheine waren dabei.

Weil er oben auf der vierten Stufe stand, wussten die Leute nicht, wohin sie das Geld legen sollten. Manche versuchten, mit einem kühnen Wurf in den Geigenkasten zu zielen. Andere ließen es einfach auf einer der Stufen liegen, zu Füßen des marmornen Puschkin-Onkels.
Seit das Donskoi-Kloster wieder geöffnet, wenn auch noch nicht renoviert war, kamen vermehrt Spaziergänger auf den Friedhof. Es ist noch nicht lange her und unter den Liebhabern des alten Moskau noch ein Geheimtipp. Jeder kannte den nahen Gorki-Park mit seinen zahlreichen Vergnügungsattraktionen, kaum jemand das Donskoi, über dem sich ein Rad eines Karussels wölbte.
Auch der Radioturm von Schukow gleich nebenan war ein unübersehbares Wahrzeichen am südlichen Rand der Moskauer Innenstadt. Der Staat des noch nicht ganz neuen Russland im letzten Jahr des Gorbatschow hat das Donskoi der orthodoxen Kirche zurückgegeben, 73 Jahre nachdem die Bolschewiki Kloster und Friedhof zum Teil zerstört und dann geschlossen hatten. Es lag verborgen hinter einer hohen Mauer im schon 73 Jahre andauernden Dornröschenschlaf. Gebaut ist es als eine Wehranlage mit zwölf gigantischen Türmen, obwohl gerade im Gründungsjahr 1591 die letzte große Gefahr, der Ansturm der Krimtataren, unter Zar Fjodor siegreich abgewehrt werden konnte.

Ich kannte es wahrscheinlich als einer der wenigen Menschen gut, zumindest aus dem Vogelblick, weil ich vom Balkon meiner Wohnung im siebten Stock der Donskaja ulica direkt in den Friedhof und auf das Kloster hinabsehen konnte. Bald hatte ich einen Mann ausgeforscht, der als Wächter ab und zu auf das Gelände kam, ich weiß nicht, wofür. Für ein paar Kopeken ließ er mich ins Innere, es war zu sehen, dass er dem Wodka nicht abgeneigt war.

Die Große und die Kleine Kathedrale waren in einem erbärmlichen Zustand. Viele Mauerstücke lagen wüst vermengt mit Unrat am Boden, selbst schon wieder bedeckt von der Patina des Efeus und Hollunders.
Seit der Revolution war nichts renoviert worden, vielmehr vieles zerstört, abtransportiert und gestohlen. Wie viele kirchliche Gebäude hat man sie zweckentfremdet, entweiht und dem Verfall preisgegeben. Die Grabdenkmäler und Grabsteine waren zum Teil umgestürzt, manche Figuren geköpft oder anderweitig verletzt mit abgeschlagenen Armen und Nasen, mit ausgekratzten Augen und zerstörten Inschriften. Auch die wuchernden Pflanzen und die unbarmherzige Witterung trugen das Ihre zum Zerstörungswerk bei.

Dabei lasen sich die Namen auf den Grabsteinen, soferne man sie noch lesen konnte, wie das Moskauer Who is Who des 18. und 19. Jahrhunderts, fast so viele ehr- und gedenkwürdige wie auf dem größeren und berühmteren Friedhof des Neujungfrauen- Klosters. Der erste Dichter in russischer Sprache Sumarokow war hier begraben.
Auch der erste Philosoph Pjotr Tschaadajew, Sollogub, ein Schriftsteller, Schukowski, ein Mathematiker und Luftfahrtpionier, der Maler Perow.
Der letzte Klosterbewohner war Patriarch Tichon, ein erklärter Gegner der Revolution, den die Bolschewiken hier bis zu seinem Tod 1925 einsperrten. Die 28 Mönche hat man umgebracht oder vertrieben.

Wenn die großen Begräbnisse vorüber waren, packte der alte Geiger seine Sachen zusammen. Er wickelte die Geige in ein schwarzes Tuch, verstaute den Bogen in einem Sack und setzte sich zu Füßen des Puschkin-Onkels nieder. Er blickte rund um sich und verzehrte seine Jause. Die Kopekenstücke und Rubelscheine sammelte er achtlos und ohne sie zu zählen auf und steckte sie in die Manteltasche. Dann verließ er seinen Posten auf den Stufen und ging eilig tiefer in den Friedhof hinein.

Lange verstand ich nicht, was der Alte dort suchte.
Er beachtete keine der Kirchen, nicht das Refektorium, keines der Mausoleen, keine der Werkstätten, auch die Urnenmauer interessierte ihn nicht. Keines der verwahrlosten Kulturdenkmäler erregte offensichtlich seine Aufmerksamkeit. Er schlenderte nur, ohne dass ich ein Muster erkennen konnte, so wie ich ihm von Grabstein zu Grabstein, von Baum zu Baum, nachging, über die Wege zwischen den Grabsteinen, in unerforschlichen Schlingen. Traumpfade. Er interessierte sich offensichtlich nicht für die Architektur, nicht für die verworrene Natur oder die halb lesbaren Grabinschriften.
Suchte er jemand bestimmten? Wollte er sich an etwas oder jemanden erinnern, das und den es nicht mehr gab? Wartete er auf jemanden?

Ich hatte nicht so viel Zeit, ihn öfter und näher zu beobachten, wie ich es gewünscht hätte. Denn meine Arbeit beanspruchte mich sehr, und ich war oft auf Reisen. Eine sehr bewegte Zeit.
Eines Tages im Oktober setzte das erste Schneegestöber ein. Ich sah auf meinem Weg vom Büro in die Mittagspause, dass das Haupttor zum Donskoi offenstand. Schnell stellte ich das Auto ab und lief über den Vorplatz auf das Kloster zu.

Der alte Geiger stand wie immer auf der obersten Stufe des Puschkin-Onkels und spielte das letzte, das 24. Lied der “Winterreise“ von Schubert, das traurige Lied vom Leiermann. Die Worte flogen mir unhörbar zur Melodie dazu: Drüben hinterm Dorfe steht ein Leiermann / Und mit starren Fingern dreht er, was er kann.
Es klang etwas kratzig, manche Töne waren schief, wahrscheinlich waren seine Finger auch schon starr.
Er hatte keine Zuhörer; er spielte für sich und für die verfrorenen Spatzen. Sie umflatterten ihn zerzaust und hofften auf ein paar Krumen von seinem Schwarzbrot.
Ein besonders fürwitziger Spatz sprang hinein und suchte selbst nach Brosamen. Der Geigenkasten war schon halb zugeweht vom Schnee.
Als er die letzten Klänge beendet hatte, packte er schnell zusammen und verschwand im Inneren des Friedhofs. Ich schlich ihm nach, obwohl ich nicht mehr zu meinem Mittagessen kommen würde. Weit hinten entdeckte ich den Geiger an einem frischen Grab. Die Grube war offen, und vor dem Grab stand einsam ein Pope, der Gebete herunterleierte, eine violette Stola umgelegt hatte, das Weihrauchfass schwang und aus einer Metallschüssel mit einem Besen freigiebig Weihwasser über die Grube verspritzte. Da verstand ich das Wort „Einsegnung“ zum ersten Mal.

Und die Aufgabe, die sich der alte Geiger gestellt hatte: Es sollte kein Mensch ohne Begleitung von dieser Erde gehen müssen. Der Pope war sozusagen nur ein offizieller Abgesandter, der seinen Dienst versah, so wie es vorgeschrieben war. Aber ein so einsamer Mensch, der allein gestorben war und niemanden hatte, der ihn auf seinem letzten Weg begleitete – der sollte zumindest von ihm mit seinem Geigenspiel verabschiedet werden.
Der alte Mann hatte sich seinen eigenen Dienst vorgeschrieben.
Er machte das nicht für Geld, nicht für Ruhm, nicht für Ansehen, nicht zu seinem eigenen Vergnügen. Denn da hätte er auch zu Hause bleiben und in seinem warmen Wohnzimmer spielen können. Vielleicht machte er das in Gedanken an seinen eigenen einsamen Tod.

Wer würde ihn begleiten? Wie oft würde er spielen müssen, bis er sich seine eigene Auferstehung erspielt hatte? Nach orthodoxem Glauben muss ein Verstorbener einen Begleiter haben, denn sonst kann er am Jüngsten Tag nicht aus Hölle oder Fegefeuer herausgeführt und erlöst werden. Die Todes-Vorbereitungen des alten Geigers rührten mich so, dass es mir hinter meinem Baum die Kehle zuschnürte und ich diese grausame Religion verfluchte.
Nach diesem Winter sah ich den alten Mann nie wieder.

Zu Ostern wurden die Glocken der Großen Kathedrale neu geweiht. Als ich sie zum ersten Mal von meiner Wohnung aus läuten hörte, brach so ein Sturm los, dass ich dachte, das Jüngste Gericht sei angebrochen. Ich hoffe, es hat auch den Geiger erlöst.

25.12.16

Veronika Seyr
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