Die neuen Welten der Maria Knehs

Am fünfzehnten April des Jahres 2013 hatte Maria Knehs endgültig genug von dieser Welt. An diesem Tag, exakt zwei Wochen vor ihrem sechzigsten Geburtstag, war ihr Hund gestorben.
»Frau Knehs«, sagte der Tierarzt, »Ihr Spitz hat Krebs. Es ist für Benni das Beste, wenn ich ihn einschläfere. So ersparen wir ihm Schmerzen.«
›Mach nur!‹, dachte sie, zu sprechen war sie nicht in der Lage. ›Wenigstens muss mein Benni nicht leiden, so wie ich. Ach, ich wünschte, ich könnte für immer woanders leben.‹
Mit ›woanders‹ meinte sie keineswegs einen anderen Ort als den kleinen im steirischen Hügelland, in dem sie zur Welt und aus dem sie nie wirklich herausgekommen war. Sie meinte eine andere Welt, einen anderen Planeten gar.

Sie ließ ihren toten Hund in der Praxis des Veterinärs und fuhr zu ihrem kleinen Haus am Rande der Ortschaft. Dort angekommen, rief sie ihre Tochter Monika an, die in Graz lebte.
»Moni, der Benni ist tot. Er wurde eingeschläfert«, weinte sie in den Hörer. »Wann fliegen wir wieder? Ich denke, dieses Mal bleibe ich oben.«
Monika Knehs seufzte. »Das tut mir leid für dich, Mama«, sagte sie halblaut. »Ich kann im Augenblick nicht mit dir reden. Manfred ist gerade eingeschlafen und du weißt ja, was für ein Theater er macht, wenn ich ihn wecke.«

Manfred war Monikas elfjähriger Sohn, der geistig behindert zur Welt gekommen war und der es überhaupt nicht schätzte, bei etwas gestört zu werden, egal, was er gerade machte. Sie hatte sich drei Monate nach seiner Geburt von seinem Vater getrennt, da dieser seinen Sohn weder akzeptieren konnte noch wollte. Nachdem erwiesen war, dass die Behinderung des Kindes schwer ausfallen würde, machte der Mann Monika Vorwürfe, sie wäre schuld an diesem Unglück. Bald jedoch ließ er das bleiben und ging dazu über, ihr Ohrfeigen zu verabreichen, worauf sich Maria Knehs gezwungen sah einzuschreiten.
Ihre Tochter hatte sie weinend angerufen und um Hilfe gebeten. Maria stieg sogleich in ihren Kleinwagen und fuhr zu ihrem hochschwangeren Kind. Mit tatkräftiger Unterstützung der als ruppig bekannten Grazer Polizei wies sie den Unhold aus der Wohnung und blieb drei Tage lang bei Monika.

Diese Zeit belastete Maria Knehs sehr. Zum einen, weil sie in all die Vorkommnisse eingeweiht wurde, die sich zwischen Monika und diesem Mann zugetragen hatten, zum anderen hatte sich Michael, ihr Sohn, soeben ein weiteres Mal auffällig verhalten.
Während Monika, die um drei Jahre jünger war als ihr Bruder, ihre Arbeit als Krankenschwester vorbildlich verrichtete, war Michael ein problematischer Fall. Er betrachtete sich nämlich als Künstler und führte ein entsprechendes Leben. Er hatte keine Arbeit, kein Geld und keine Frau. Er trank, schlief bei Freunden auf dem Sofa und bat seine Mutter in regelmäßigen Abständen um Geld.

»Es ist zum Verzweifeln mit dem Buben!«, sagte sie oft. »Klar, er hatte nie ein männliches Vorbild, weil er ohne Vater aufwachsen musste. Aber irgendwann muss er doch vernünftig werden! Nur Skulptur, Malerei und Alkohol ist zu wenig!«
Gustav Knehs, Marias Ehemann, war kurze Zeit nach Monikas Geburt bei einem schweren Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Daraufhin hatte sie ihre beiden Kinder alleine großgezogen. Da ihr Mann eine gute Lebensversicherung abgeschlossen hatte und ihre Eltern ihr eine hübsche Summe hinterlassen hatten, konnte sie es sich leisten, ihren Job als Volksschullehrerin aufzugeben, um sich ganz ihrem Nachwuchs zu widmen.

Jedenfalls war Michael auffällig geworden. Wieder einmal. Er hatte sich als Nacktkünstler versucht und unbekleidet eine Aktion auf dem Grazer Hauptplatz zelebriert, als dort gerade einige Klosterschwestern friedlich gegen die Kriege und für Gott demonstrierten. Es kostete Maria viele Worte und einige Scheine, ihren Sohn aus den Fängen der Polizisten freizukaufen. Eine Entschuldigung bei den Ordensfrauen war auch vonnöten. Die versprachen, für Michael zu beten.
»Frau Knehs, ich muss Sie aber bitten, sich keine allzu großen Hoffnungen zu machen«, sagte die Äbtissin. »Ich fürchte nämlich, dass Michaels Zug schon zu weit gefahren ist, als dass Gebete ihn noch aufhalten könnten. Meiner Ansicht nach kann bloß noch die Schulmedizin Ihrem Sohn die Hilfe geben, die er offensichtlich benötigt.«
Daraufhin konnte sie ihren Sohn überreden, seine Tabletten wieder zu nehmen, und bald legte sich sein Wahnsinn.
›Er ist ja ein guter Junge‹, dachte sie oft. ›Er scheint halt nicht für diesen Planeten geschaffen zu sein. Er müsste auf einem anderen leben dürfen, dann wäre er sicherlich ein anerkannter Künstler, von mir aus auch nackt.‹

Zu dieser Zeit dachte Maria Knehs oft über ihr Leben nach. Sie hatte, das Wort ›eigentlich‹ kam ihr dabei häufig in den Sinn, alles richtig gemacht, oder wenigstens nichts allzu falsch. Sie war eine hübsch anzusehende, einigermaßen gut situierte Frau, die zwei erwachsene Kinder hatte. Eines von diesen war sogar, und das wurde ihr von sämtlichen Bewohnern des Dorfes bestätigt, wohlgeraten. Sie war gutherzig, großzügig und ihren Mitmenschen gegenüber stets freundlich und zuvorkommend. Schlechte Manieren waren ihr nämlich ein Graus. Dass ausgerechnet ihr Erstgeborener solche gerne und oft an den Tag legte, erfüllte sie mit Trauer. Nie hatte sie sich etwas zuschulden kommen lassen, von der Sache mit Willibald einmal abgesehen.

Willibald Grampert war ein übel beleumundeter Geselle, ein echter Nichtsnutz. Ein Tischler, gemacht aus dem schlechtesten Holz, das war er. Nicht nur, dass er seinen Lehrbuben ihre Ausbildungszeit ganz und gar vergällte durch Tritte, Schläge und unflätiges Geschrei, er hatte auch den Hang dazu, Frauen nicht eben gut zu behandeln. Grampert war ein im ganzen Ort verhasster Mann, doch wagte niemand, etwas gegen ihn zu sagen, war er doch der Ortsparteiobmann der Rechten.
Eines Tages erfuhr Maria Knehs, dass er sich mit Jennifer Wildbolz eingelassen hatte. Sie, die fünfzehnjährige Tochter des Betreibers mehrerer Solarien, hatte sich den dreiundvierzigjährigen Tischler angelacht. Maria dachte zwei Tage lang über dieses Gespann nach, dann informierte sie den Landesparteichef der Rechten, der ein widerlicher Ingenieur mit Schmissen im Gesicht war, persönlich über die Vorlieben seines Ortsobmannes. Willibald Grampert beendete die Mesalliance und wurde, auch was seine politische Gesinnung anging, katholisch.

Es waren die Umstände und die Zustände, auf die sie keinen Einfluss hätte nehmen können, die Maria Knehs verzweifeln ließen. Die Menschen reagieren in solchen Situation auf unterschiedliche Arten. Manche flüchten sich in den Rausch, andere in die Nervenheilanstalt und ein paar scheiden gar aus dem Leben. Nicht so Maria.
Wurde ihr die Verzweiflung unerträglich, stellte sie sich einfach vor, auf einem anderen Planeten zu leben. Und zwar auf einem, wo alles gut war. ›Omega‹ hieß dieser, doch wusste seine Erdenkerin nicht, wie sie auf diesen Namen gekommen war.
Auf Omega schien, wenn es nicht gerade Nacht war, stets die Sonne, und obwohl es ein von blühenden Bäumen und Sträuchern bestandener Planet war, regnete es dort nie. Kein Wölkchen trübte das Blau des Himmels. Es gab viele Tiere, doch befanden sich unter ihnen keine Beutegreifer allzu brutaler Wesensart. Maria bewohnte ein weiß gekalktes geräumiges Haus, dessen Zimmer schlicht, aber schön möbliert waren. Es gab einen großen Schwimmteich, eine Sauna und einen Pferdestall, doch Zaun gab es keinen. Ein solcher wäre auch gar nicht notwendig gewesen, denn es musste niemand davon abgehalten werden, ihren Rückzugsort zu betreten.

Auf Omega war Maria Knehs alleine.
Er war ein Planet des Glücks für sie. Keine Kriege wurden dort geführt, keine Verbrechen begangen, und die Kunst war Kunst im besten Sinne. Ihre Tage auf Omega brachte sie mit Lesen und Kochen zu, und wenn sie informiert und satt war, dann steigerte sie ihr ohnehin vollständiges Glück um noch ein kleines bisschen, indem sie es auf dem Rücken ihres Schimmels in sich sog.
Wann immer es ihr auf der Erde zu viel wurde, flog sie auf Omega. Bereits in der ersten Minute nach ihrer Ankunft dort fielen alle Sorgen von ihr ab, Rindenbrocken gleich, die von einem Baumstamm fallen.
Auch am letzten Tag, den sie auf Omega verbrachte, der gleichzeitig der letzte der Existenz dieses imaginären Planeten war, verhielt es sich so.
›Nun stehe ich wieder auf deinem Boden, mein Omega!‹, dachte sie. Sie entkleidete sich und öffnete die Türe ihrer Sauna.

Diesen Besuch hatte sie auch bitter nötig, denn Michael hatte wieder einmal einen Skandal provoziert, oder besser gesagt: eine ganze Reihe von Skandalen.
Irgendwie hatte Michael es fertiggebracht, als Künstler durchzugehen. Sogar in der Zeitung war er ein paarmal erwähnt worden, wenngleich diese Aufmerksamkeit eher seinem Hang zur Nacktheit geschuldet war als seiner Kunst.
Jedenfalls, alles begann mit einem Kunstwerk, das er erschaffen hatte. In einem riesigen Aquarium, voll mit Formaldehyd, wurde ein Bullenhai von einem Schwarm Karpfen mit Piranhazähnen attackiert. ›Die große Rache der Karpfen‹ hieß das Werk, das den ersten Eklat auslöste. ›Der Nacktkünstler als exemplarischer Wahnsinniger‹, so betitelte ein Magazin einen Artikel, in welchem Michaels Fischwerk analysiert wurde.

Maria Knehs las diesen Artikel und wagte zwei Tage lang nicht, ihr Haus zu verlassen, so groß war ihre Furcht vor hämischen Kommentaren der Leute im Dorf. Also flog sie auf ihren Planeten.
Nur zwei Wochen nach diesem Vorfall wurde der Künstler Michael Knehs weit über die Grenzen der Steiermark hinaus bekannt und berüchtigt.
Das Grazer Frauenkloster hatte ihn beauftragt, eine Skulptur für den Klostergarten zu erschaffen. Die Nonnen, die seine Nacktaktion keineswegs vergessen hatten, hatten ihm mit diesem Auftrag unter die Arme greifen wollen. Es kam der Tag der Enthüllung. Eine Klosterschwester fiel sofort in Ohnmacht, den anderen trieb es die Schamesröte ins Gesicht beim Anblick dessen, was sich da vor ihnen entphallte.

Maria Knehs bat ihren Sohn, doch wieder seine Pillen zu schlucken, doch dieser lehnte mit der Begründung ab, dass ein Drogenfreak, und ein solcher wäre er mittlerweile, keine herkömmlichen Medikamente bräuchte. Dann forderte er Geld von ihr.
»Ich weiß nicht, wie ich Michael noch helfen kann!«, sagte sie zu ihrer Tochter.
»Vergiss ihn. Der wird nicht mehr«, lautete deren Antwort.
Auf Omega fand Maria Trost.
Als Michael öffentlich ankündigte, die Paarung eines Ebers mit einem Stier filmisch dokumentieren zu wollen, wobei er den Eber an des Stiers Kehrseite platzieren wollte, war das Maß voll und des Künstlers Belohnung die Zwangseinweisung in die Grazer Irrenanstalt.

Maria Knehs besuchte ihren Sohn dort mehrere Male, konnte sich jedoch kaum mit ihm unterhalten, so sediert war er von den schweren Medikamenten.
Nach ihrem letzten Besuch beschloss sie, dass es an der Zeit war, eine ganze Woche auf Omega zuzubringen.
Sie öffnete also die Saunatüre auf ihrem perfekten Planeten. ›Das wird mir guttun‹, dachte sie noch. Dann schrie sie laut auf. In ihrer Sauna saß Michael, nackt, grinsend und die ausgestreckte rechte Hand vor ihr Gesicht haltend, offensichtlich in Erwartung einer gewissen Summe an Bargeld. Dann sprach er auch noch.
»Hallo, Mama. Schön hast du es hier! Ich denke, ich werde für eine Weile« – weiter kam er nicht.
Maria Knehs packte ihren verrückten Sohn an der Hand und flog mit ihm zur Erde zurück. Über der Klapsmühle ließ sie ihn los. Er fand den Weg an den Ort seiner Bestimmung, sie den zurück in ihr Haus.

Omega, ihren Planeten, ließ Maria in der Sonne verglühen. Eine gleißende Explosion von Licht, und alles war vorbei.
»Monika, mein imaginärer Planet ist verglüht!«, schluchzte sie ins Telefon.
»Das macht nichts, Mama«, beruhigte Monika Knehs ihre Mutter. »Dann kommst du mit auf Epsilon. Alleine wird es mir dort allmählich langweilig.«

Michael Timoschek

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