Das Häuschen im Wald

In den Tiefen des Landes gab es einen großen, dunklen Wald. Er war voller kräftiger Bäume und an mancher Stelle wurde er von saftigen, grünen Wiesen unterbrochen. Dennoch wagten sich die Menschen nicht tiefer als ein paar hundert Meter hinein. Sobald die Kinder laufen konnten, wurde ihnen eingebläut, niemals den Wald zu betreten, von jeher kursierten Schauergeschichten, um dieses Verbot zu untermauern. Sie handelten von ungezogenen Mädchen und Jungen, die nicht auf die Erwachsenen hören wollten, in den Wald gegangen und niemals zurückgekehrt waren. Manchmal saß man am Lagerfeuer, lauschte den Geräuschen der Nacht und jemand sagte: „Hört ihr das? Das ist der kleine Lukas, der sein Leid klagt. Wäre er nur damals nicht in den Wald gegangen!“ oder: „Das sind Marias Schreie, sie fleht, dass ihr jemand zur Hilfe kommt, doch jeder, der ihr folgt, ist genauso verloren wie sie!“

Allerdings konnte man sich nicht wirklich auf eine gemeinsame Ursache dieses Schreckens einigen. Die einen meinten, es handle sich um einen riesigen, menschenähnlichen Wolf, der von Menschenfleisch lebte, andere wiederum waren sich sicher, dass im Wald der Schlund der Hölle lag, der alles verschluckte, das in seine Nähe kam. Dann gab es natürlich auch die Traditionalisten, die von Hexen, Monstern und Kobolden sprachen.

Jeder Landstrich, der einen schönen, großen Wald sein Eigen nennt und etwas auf sich hält, hat solche Geschichten. Tatsache ist, dass es schon einige gab, die tiefer in den Wald eingedrungen waren, um wertvolle Rohstoffe oder sich selbst zu finden, und die auch heil wieder zurückgekehrt waren. Tatsache ist auch, dass es einige gab, die nicht wiederkamen, aber auch dafür existierten rationale Erklärungen. Immerhin, es war ein verdammt großer und dunkler Wald, da konnte man sich schon leicht verirren. Unter den Jugendlichen gab es andere Theorien. Die gängigste war, dass sich die „Verlorenen“ einfach aus dem Staub gemacht hatten, um diesem Kaff zu entfliehen und irgendwo ein besseres, aufregenderes Leben anzufangen. Die Wahrheit lag wie so oft irgendwo in der Mitte.

Der Wald war größtenteils eine ganz normale Ansammlung von Bäumen, nicht anders als andere. Vielleicht mit dem kleinen Unterschied, dass die Tiere hier ein friedlicheres, ruhigeres Leben führten, da die Menschen, dank ihres Aberglaubens, nicht das Bedürfnis hatten, die Gegend zu zivilisieren.

Jedoch gab es ungefähr in der Mitte des Waldes ein kleines Häuschen, das von außen unscheinbar wirkte. Zu jeder Tages- und Nachtzeit quoll Rauch aus dem gemauerten Schornstein, ein beeindruckender Kräutergarten erstreckte sich auf der Rückseite, und die Fensterläden waren fast immer geschlossen. Hervorzuheben wäre auch, dass es den Anschein hatte, als würde das Häuschen immer im Schatten stehen, obwohl es auf einer Lichtung erbaut wurde. Jeder Wanderer, der sich ihm näherte, ward nicht mehr gesehen, jedes Kind, das sich hierher verirrte, kehrte nicht mehr heim.

Die Bewohnerin dieses Häuschens war eine Hexe wie sie im Buche stand. Sie war alt und hässlich, hatte einen Buckel und eine Warze auf der Nase und war von so einer abgrundtiefen Bosheit erfüllt, dass sich selbst Werwölfe und Kobolde vor ihr fürchteten. Verirrte, die eine unsichtbare Grenze überschritten, wurden in ihren Bann gezogen und konnten sich nicht mehr wehren. Manche verspeiste sie gleich, andere ließ sie noch einige Zeit für sich arbeiten, bis sie sich ihrer entledigte. Sie war so alt wie die Zeit und kannte keine Furcht.

Allerdings hatte sie auch noch nicht Fred getroffen.

Eines Tages sah sie aus ihrem Fenster und erblickte mit Genugtuung, dass ein junger Mann die Lichtung betrat. Sie hatte schon seit geraumer Zeit kein Festmahl mehr gehabt, und auch wenn dieser Junge etwas schlaksig wirkte, es würde genug Fleisch an ihm dran sein. Die Hexe rieb sich die Hände, kicherte boshaft und trat ihm entgegen. Anstatt sich in eine wehrlose Kreatur zu verwandeln, die sich ihr bereitwillig zu Füßen legte, stolperte er ihr in die Arme und nieste ihr ins Gesicht.

„Ich bin Fred!“, krächzte er, während ihm ein dicker Rotzfaden aus der Nase hing. „Tschuldigung“, fügte er hinzu, als er die besudelte und durchaus verdutzte Hexe sah.
„Es sind diese verdammten Gräser und Pollen. Und die Bäume und diese fürchterlichen Tiere, die überall ihre Haare herumliegen lassen. Dieser Wald ist so was von DRECKIG!“
Er schnaubte in ein riesiges, gelbliches Taschentuch und nach kurzem Zögern bot er es großzügig der Hexe an. Diese reagierte nicht, sondern starrte Fred fassungslos und wutschnaubend an.
„Nein? Na, dann halt nicht.“
Er steckte das Tuch wieder ein, stemmte die Arme in den Rücken und blickte sich um.
„Nettes Plätzchen haben Sie hier. Abgesehen von der vielen Natur, natürlich!“ Fred lachte über seinen gelungenen Scherz und schlug der Hexe auf den Buckel.
„Huch, das ist ja ein ekliges Ding! So was kann man heutzutage wegmachen lassen, wissen Sie das?“
Die Hexe warf einen kurzen Seitenblick auf ihren Rücken, hob die Hand vor Freds Brust und begann Zauberformeln zu murmeln.
„Ja, danke! Ich würde schrecklich gern etwas trinken!“

Fred fuhr sich mit dem Handrücken über die Nase und schob sich an der Hexe vorbei, um durch die offene Tür zu schreiten. Die Hexe war zwar kurzfristig überrascht, dass ihr Zauber nicht gewirkt hatte, aber sie war jetzt erst recht entschlossen, den Jungen zu ihrem Sklaven zu machen und ihn für sein Verhalten zu maßregeln.
Als sie seine nasale Stimme aus dem Haus hörte, beeilte sie sich hineinzukommen.
„Mein GOTT, ist das stickig hier!“
Darauf folgte ein beeindruckender Hustenanfall.
„Wann haben Sie denn hier das letzte Mal geputzt? Überall Staub!“
Zwei elefantöse Nieser.
„Also erstmal muss hier ein bisschen Licht rein!“

Fred begann schwungvoll die Fensterläden aufzureißen und störte sich auch nicht daran, dass einige Gläser und Schüsseln mit undefinierbarem Inhalt zu Bruch gingen. „Nein!“, kreischte die Hexe und zerrte an seinem Hemd. Körperliche Kraft hatte sie dank ihrer Fähigkeiten bis dahin nie gebraucht.
„Schon in Ordnung, Sie brauchen mir nicht zu helfen, ich kann das allein!“
Er schüttelte sie erfolgreich ab.
„Aber Sie könnten mir in der Zwischenzeit was zu trinken bringen. Das haben Sie wohl schon wieder vergessen, altes Mädchen, häh?“

Er lachte und zwinkerte ihr nachsichtig zu, während er sich weiter an den Fenstern zu schaffen machte. Für einen Moment stand die Hexe ratlos da, bis sich auf ihrem Gesicht ein furchterregend bösartiges Grinsen breitmachte. „Aber natürlich!“, krächzte sie und mixte mit ihren Zauberutensilien einen grausigen Trank aus Krähenfüßen, Rattenherzen und Froschschleim zusammen. Mit ihren knorrigen, warzigen Händen hielt sie ihm die Tasse vor die Nase und sprach: „Hier. Alles austrinken!“

Fred schnüffelte daran und verzog das Gesicht. „Da haben Sie mir eine Limonade gemacht, was?“ Beherzt griff er zur Tasse, zögerte nur einen Moment und leerte das Gefäß mit einem Schluck. Die Hexe kicherte unheilvoll und verkündete: „Jetzt bist du mein!“
Die Farbe verschwand aus seinem Gesicht und sein Blick wurde glasig. Die Welt um ihn begann zu schwanken, und er musste sich an einem Tisch festhalten, woraufhin dieser nachgab und sämtliche Flaschen, Töpfe und Tierleichen, die sich darauf befanden, auf den Boden kugelten und sich im ganzen Häuschen verteilten. Fred sank auf die Knie und griff sich auf den Bauch. „Mir ist so…“

„Jetzt wirst du dafür büßen, du elender Wurm!“ Triumphierend blickte sie auf ihn herab, hob ihren Arm und zischte einen grausigen Zauberspruch.
Plötzlich schrie Fred auf: „Mein Darmleiden! Wo ist das Klo?“
Er schubste die Hexe beiseite und stürmte ins erstbeste offene Zimmer. Mühsam rappelte sie sich auf und ihr Gesicht verwandelte sich in eine vor Schrecken verzerrte Fratze, als sie ihm nachblickte. „Das… das ist mein Schlafzimmer!“, keuchte sie und begann zu rennen. Sie war jedoch zu aufgebracht, um darauf zu achten, wo sie hintrat, so landete sie unglücklicherweise auf einer herumliegenden Flasche, rollte darauf zirkusgleich ins Schlafzimmer, wo die Flasche von einem abgetrennten Hasenkopf gebremst wurde. Für den Körper der Hexe kam dieser Halt allerdings zu abrupt, sie überschlug sich und brach sich das Genick vor den Füßen Freds. Dieser erhob sich mit einem tiefen Seufzer, machte einen großen Schritt über die Überreste der Hexe und zog sich dabei die Hose hoch.

„Hui, das war aber knapp. Ein gemütliches Klo haben Sie da! Oh, Sie haben sich hingelegt? Jaja, ich verstehe den Hinweis. Ich bin nämlich ein äußerst feinfühliger Mensch. Ich merke, wenn ich nicht mehr erwünscht bin. Bringen Sie mich ja nicht zur Tür, ich finde allein raus! Cheerio!“

Beschwingt und erfrischt verschwand Fred wieder im Wald und er lebte glücklich mit seinen Allergien bis ans Ende seiner Tage.

Constanze Scheib

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