Die Nacht der grünen Sichel

Es geschah an einem warmen Abend im Mai in einem kleinen Waldstück im steirischen Hügelland.
Gustav Fiedler, ein Bauer von dreiundsechzig Jahren, ging gerade spazieren, als er in dem Wäldchen, das er auf seinem weitläufigen Grundstück hatte stehen lassen, um Lebewesen Raum zu geben, das Brechen von Zweigen hörte. Er ging ein Stück weit auf dem Weg, der zwischen den Bäumen durch den Wald führte, und dachte an einen Keiler oder Rehbock als Verursacher des Geräuschs. Angestrengt lauschte er, ob weitere folgen würden, doch es blieb still.

So ging er mit langsamen Schritten zum Wohnhaus seines Hofes und zog sich für die Nacht um. In seinem abgewetzten Schlafanzug legte er sich neben seine Ehefrau Aloisia. Sie hatte bereits geschlafen, doch die Bewegungen des Bettes und das ächzende Geräusch, das es von sich ab, als er sich darauf legte, ließen sie erwachen. Auf Nachfrage erzählte er ihr, dass er durch den Wald gegangen wäre und ein Reh oder ein Wildschwein gehört hätte, welches er in den nächsten Tagen wohl erlegen würde.
Seine Frau stieß einen gellenden Schrei aus, bekreuzigte sich und flehte ihn an, seinem Schwur treu zu bleiben, nämlich das Haus nach Einbruch der Dunkelheit nicht zu verlassen. Er beruhigte sie und versprach ihr, sich künftig daran zu halten. In seinem Inneren wusste er jedoch, dass er genau das nicht machen würde, dafür war sein Jagdtrieb einfach zu stark ausgeprägt.

Am nächsten Morgen bereitete Gustav, was selten vorkam, das Frühstück zu. Aloisia war erfreut, einmal nicht diese Arbeit verrichten zu müssen, und nahm die Entschuldigung für den Bruch des Versprechens an.
Sie war gleich alt wie ihr Gatte. Mit zwanzig Jahren hatten sie geheiratet, doch Kinder hatten sich keine einstellen wollen. Dennoch wussten sie, wie es mit ihrem Hof, den sie von seinen Eltern übernommen hatten, nach ihrem Tod weitergehen würde. Aloisia hatte darauf bestanden, dass er ihrer geliebten Kirche zufallen sollte, und Gustav hatte sich gefügt.

Von Wert war ohnehin bloß das große Grundstück, alles andere hatten sie aufgegeben. Zwei Katzen, Murli und Minka wurden sie gerufen, lebten noch auf dem Gehöft, nebst einer Vielzahl an Mäusen, von welchen sie sich ernährten. Vieh gab es keines mehr. Die Fiedlers waren arm, das waren sie ihr ganzes Leben hindurch gewesen. Aloisia hatte sich leicht mit diesem Umstand abfinden können, Geld bedeutete ihr wenig. Ihr Mann hingegen litt sehr unter der Armut. Wie gerne hätte er ein großes Auto gefahren und sein Wohnhaus renoviert und stilvoll eingerichtet, doch war ihm dies nicht beschieden gewesen.
Nachdem ihre letzte Kuh geschlachtet worden war und der Hahn, der seine letzten Jahre ohne Hennen hatte zubringen müssen, im Suppentopf geendet hatte, ernährte sich das Ehepaar von Gemüse, welches Aloisia mit viel Liebe zog, nur selten gab es Gerichte aus Wildfleisch. Gustav war zwar ein begeisterter Jäger, allerdings traf er selten.

Die Furcht seiner Frau vor der Dunkelheit lag in der uralten Mär vom Steirerwolf begründet, einer Kreatur, Dürers Werwolf sollte sie nicht unähnlich sehen, die in gewissen Nächten die Menschen der Umgebung plagen würde. Strenge Gottesfurcht und oftmaliges Beten würde sie fernhalten, erfuhr er von seiner Gemahlin, doch gab er nichts auf solches Gerede, ebenso wenig gab er auf das Gebet und die Beichte.

Nach dem Frühstück erwachte seine Jagdlust. Den ganzen Tag über nagte sie an dem Bauern, er konnte kaum das Einsetzen der Nacht erwarten. Er beschäftigte sich mit dem Mähen von Gras und begab sich, nachdem er damit fertig war, in den Keller, um schlecht gewordenes Gemüse auszusortieren. Das wenigstens sagte er zu Aloisia.
In Wahrheit reinigte er hingebungsvoll seine Büchse. Mit Öl befreite er die Waffe von Flugrost, mehrere Male zog er den Lauf durch, er reinigte die Patronenkammer und polierte den hölzernen Schaft, bis dieser glänzte.

Als es dunkel zu werden begann, brachte er seiner Frau eine Kanne Tee, in welche er eine ordentliche Menge Schnaps gegossen hatte. Alsbald war sie eingeschlafen.
Gustav ging in den Keller, holte sein Gewehr und schlich mit langsamen leisen Schritten zum Waldstück. Dort wartete er einige Minuten, und als er erneut das Geräusch von brechendem Holz vernahm, lief er in das Wäldchen, welches vom Schein des Halbmondes einigermaßen gut erleuchtet wurde.
Er fühlte, dass er nicht alleine war.

Erst konnte er kein Lebewesen ausmachen, doch als er das Brechen der Zweige immer näherkommen hörte, wusste er, dass er in wenigen Augenblicken ein Wildschwein oder ein Reh schemenhaft erkennen würde.
Und schon sah er tatsächlich ein Wesen auf sich zukommen. Bei diesem handelte es sich jedoch weder um einen Keiler noch um einen Bock, dafür war die Kreatur viel zu groß. Auf vier Beinen kam sie näher und begann, fünf Meter vor Fiedler, kehlige knurrende Laute auszustoßen, die sich bald in ohrenbetäubendes Geheul steigerten.
Er wich zurück und zog mit zitternder Hand seine Taschenlampe hervor, schaltete sie ein und richtete den Lichtkegel auf das Antlitz des Wesens.
Da gefror ihm das Blut in den Adern.

Im Schein des künstlichen Lichts leuchteten die Augen der Kreatur grün, ihr Kopf war schwarz befellt und ihr offenes Maul ließ Reißzähne erkennen, die von einem Säbelzahntiger hätten stammen können. Gustavs Hand bebte so stark, dass das Licht der Lampe auch den Rest der Kreatur illuminierte. Sie war drei Meter hoch, hatte ein pechschwarzes Fell und Krallen, die jene eines Bären hätten sein können. Ein langer behaarter Schwanz an der Kehrseite und spitze Ohren an der vorderen rundeten das Bild ab, das Gustav Fiedler in dieser warmen Mainacht vor sich sah. Es war die Schnauze der Bestie, die ihn auf eine morbide Art und Weise faszinierte.

Wie das bei Hunden der Fall ist, hatte auch die Schnauze der Bestie zwei Löcher, doch, von unten betrachtet, kam es Gustav so vor, als ob die Nasenwände eine bestimmte Form aufnähmen, die er schon oft gesehen hatte. Als er ein Giebelkreuz erkannte, wusste er: Er stand dem Steirerwolf gegenüber.
Schnell entsicherte er sein Gewehr, richtete es auf den Brustkorb des Untiers und drückte ab. Das Projektil drang in den Körper des Biests ein, jedoch nicht in die Brust, sondern in die rechte der baumdicken Vorderpfoten. Es heulte auf, sprang seinen Peiniger an und biss in dessen Schulter. Augenblicklich fiel Gustav in Ohnmacht.

Als er am nächsten Morgen im Wald erwachte, entledigte er sich seiner Oberbekleidung und untersuchte die Stelle, an der der Steirerwolf ihn gebissen hatte. Die Wunde musste tief sein, denn er fühlte starke Schmerzen, doch blutete sie nicht mehr. Mühsam stand er auf und schleppte sich zum Hof zurück. Seine Ehefrau war gerade dabei, die beiden Katzen auf der Schwelle des Wohnhauses zu streicheln, als sie ihren Mann erblickte und die Wunde sah.
Sogleich fiel sie auf die Knie und flehte Gott um Gnade an. Ihr Mann erzählte ihr, was vorgefallen war, und zwar in allen Einzelheiten. Sie lief aus dem Raum und in das Schlafzimmer, wo sie sich auf das Bett fallen ließ und unablässig vom Steirerwolf stammelte.
Er wartete geduldig, bis sie sich wieder gefangen hatte, dann bat er sie, ihm die Sage von der Kreatur vorzulesen. Sie holte ein grünes Buch aus dem untersten Fach des Regals im Wohnzimmer. Auf dem Bucheinband erkannte er einen Apfel, dem ein Pentagramm eingezeichnet war. Dann las sie.

Als sie fertig war, wusste er, dass von nun an keine Halbmondnacht mehr so sein würde wie jene, die er bislang erlebt hatte. Aloisia verbot ihm, sich vor der Nacht der grünen Sichel, so wurde die Phase des Halbmondes im Buch genannt, in der Nähe des Hofes aufzuhalten. Er versprach, sich wenigstens an dieses Verbot zu halten. Die nächsten Tage verliefen ruhig für das Ehepaar Fiedler. Sie kümmerte sich um den Garten, er widmete sich der Lektüre von Büchern über Gestaltenwandler und besuchte seinen Onkel im Krankenhaus, der sich bei der Jagd versehentlich in die rechte Hand geschossen hatte.

Dann nahte Gustavs erste Nacht der grünen Sichel.
Er fühlte, dass sich etwas in seinem Körper veränderte. Er hörte besser als zuvor, selbst das Fiepen der Mäuse im ehemaligen Kuhstall konnte er vernehmen, obwohl er im viele Meter entfernten Wohnzimmer saß. Sein Bart wuchs schneller und dichter, und seine Nase und Augen nahmen Gerüche und Dinge in nie zuvor gerochener und gesehener Reinheit und Schärfe wahr.
Die bei Weitem intensivste Veränderung aber fand in seinem Innersten, seiner Seele, statt. Das Gefühl des Hasses auf seine Armut wuchs beständig, nie zuvor war ihm diese so grässlich erschienen wie nun. Also beschloss er, etwas dagegen zu unternehmen.

Als die Phase des Halbmondes einsetzte, warf Aloisia Fiedler ihren Mann aus dem Haus. Die Tage brachte er in einer baufälligen Holzhütte am Rande seines Grundstücks zu, in den Nächten marodierte er durch die Obstgärten der Nachbarn. Er ernährte sich von Mäusen und Ratten, selbst ein Steinkauz fiel ihm zum Opfer. Einmal wurde er von einem Nachbarn dabei beobachtet, wie er sich über eine Katze hermachte. Da sein Fell zu diesem Zeitpunkt noch kurz war, sodass er es unter seiner Kleidung verbergen konnte, glaubte der Nachbar, der obendrein schwer betrunken war, dass Gustav die Katze lediglich liebkosen würde.

Dann kam die Nacht, in der die grüne Sichel in voller Schärfe am Himmel hing.
Gustav Fiedler hatte schon den ganzen Tag über starke Schmerzen verspürt, dazu kam ein Ziehen in seinen Gliedern und starker Fellwuchs am ganzen Körper. Als die Nacht hereinbrach, begann die Stelle, an der er gebissen worden war, wie Feuer zu brennen, und er gab in einem fort knurrende Laute von sich.
Eine Stunde vor Mitternacht war es so weit. Als der Halbmond von den Wolken, die ihn zuvor verhangen hatten, freigegeben wurde, starrte er diesen aus leuchtenden grünen Augen, die zuvor braun gewesen waren, an und begann zu heulen.
Nachdem er sich unter beinahe unerträglichen Schmerzen in das Ebenbild der Kreatur, die ihn gebissen hatte, verwandelt hatte, machte er sich auf den Weg zu seinem ersten Opfer.

Dieses war Josef Reinprecht, der reichste Bauer der Umgebung. Gustav stand vor dessen Haustüre und einen Tritt mit dem kräftigen Hinterlauf später in des Großbauern Vorraum. Mit schnellen Sprüngen brachte er die Treppe, die in den ersten Stock führte, hinter sich und stand neben Reinprechts Bett, aus welchem dieser sprang, sobald er des Wesens ansichtig wurde, das soeben mit einem kraftvollen Hieb seiner neben ihm schlafenden Ehefrau den Garaus gemacht hatte.
Um Gnade flehend stand er vor der Bestie, die Hose seines Schlafanzugs verfärbte sich, doch Gustav kannte kein Erbarmen. Er fuhr seinem Opfer mit der Pranke über den Hals, der sich sogleich öffnete. Aus der Wunde schoss Blut, und Josef Reinprecht sank zu Boden, um nur Augenblicke später zu verscheiden. Fiedler warf einen Blick auf die Armbanduhr des reichen Bauern, erkannte, dass sie aus Gold gefertigt war und nahm sie mitsamt dem Unterarm an sich, welchen er im Maul in den kleinen Wald trug.

Zufrieden mit sich und seiner Tat legte er sich auf den Boden, rollte sich ein und schlief bis zur Mittagszeit des nächsten Tages. Als er erwachte, war nichts mehr übrig vom Steirerwolf, er war wieder Gustav, der nackte Gustav Fiedler.
Er nahm die goldene Uhr von Reinprechts Arm und legte sie an. Sie passte. Dann machte er sich auf den Weg zu seinem Hof. Er begrüßte Aloisia, die eben aufgestanden war und ihn mit argwöhnischen Blicken bedachte. Sie bemerkte, dass er einen teuren Zeitmesser trug und fragte nach dessen Herkunft. Gustav sagte ihr die Wahrheit, worauf sie sogleich ein Gebet für die Seele der Opfer ihres Mannes sprach. Hernach stellte sie fest, dass dieser der Welt einen Gefallen erwiesen hätte, denn der Großbauer wäre fürwahr kein großes Licht auf dem Kronleuchter der Gottesfurcht gewesen.
Nach dem Mittagessen fuhr Gustav mit dem Zug nach Graz, wo er die Uhr versetzte. Von dem Geld kaufte er einen Ring und ein Kleid für seine Frau, und für sich selbst einen Anzug und ein Paar Schuhe. Den Rest brachte er nach Hause und legte ihn in eine alte metallene Handkasse, die viele Jahre lang leer im Keller gestanden hatte.

Gustav und Aloisia Fiedler führten wieder ihr gewohntes kleines Leben, jedoch im Wissen, dass sie eine kleine Summe Bargeld im Haus hatten, über die sie verfügen konnten. Er dachte über den Ankauf einer neuen Jagdwaffe nach, doch da seine Frau beim nächsten Kirchgang endlich eine größere Summe in den Klingelbeutel werfen wollte, begrub er diesen Wunsch vorerst.

Der Zufall wollte es, dass der alte, mit Holz beheizte Ofen in der Küche den Geist aufgab und Ersatz angeschafft werden musste, und das eine Woche vor dem nächsten Halbmond. Da der Hafner eine Unsumme für die Errichtung eines neuen Ofens veranschlagt hatte, von dem Geld für die Uhr aber nicht mehr viel übrig war, teilte Gustav seiner Frau mit, dass sie ein paar Tage von Rohkost würde leben müssen, doch bald würde ein neuer Ofen ihre Küche zieren. Dann musste er den Hof verlassen.

Im Dorf war der Tod Josef Reinprechts kein allzu großes Thema, schließlich war er vielen Menschen verhasst gewesen, vor allem denjenigen, die Schulden bei ihm gehabt hatten. Die Polizei untersuchte sein Ende und schloss den Bericht mit der Vermutung, dass es sich um Raubmord gehandelt hätte, denn es fehlte die Uhr, mit der der reiche Bauer gerne und oft im Wirtshaus geprahlt hatte.

Nachdem Gustav nicht einmal befragt worden war, fühlte er sich sicher.
Wieder durchstreifte er die Gärten, zwei Katzen waren ihm Nahrung für drei Tage, einen Kater, den er gefangen hatte, ließ er wieder frei. Sein feiner Geruchssinn sagte ihm, dass das Fleisch des Tieres nahe der Grenze zur Ungenießbarkeit angesiedelt war. Einen Tag vor seiner Verwandlung fasste Gustav nicht nur den Plan, den Direktor der örtlichen Bank seines Lebens zu berauben, sondern auch sein Geldhaus um eine erkleckliche Summe zu erleichtern, denn ein neuer Küchenofen stellte eine finanzielle Herausforderung dar.

Zufrieden mit sich und seinem Plan, brachte er es nicht übers Herz, ein Rehkitz, das nur zwei Meter vor ihm über den Weg lief, zu töten und aufzufressen. Stattdessen suchte er nach der Mutter des Rehleins. Er fand sie im Unterholz, tot, aber noch warm. Ihr Fell war blutverkrustet, und als er den Körper des Tieres näher betrachtete, entdeckte er zwei Einschusslöcher im Bauchbereich, jedoch keine Austrittslöcher auf der anderen Seite des Bauches. Der Jäger, der zweimal auf das Reh angelegt hatte, musste dies mit einer kleinkalibrigen Waffe gemacht haben und bescherte dem Tier dadurch tagelanges Leid. Gustav riss den Kadaver mit bloßen Pranken auf und fraß die Leber, das Herz und beide hinteren Oberschenkel, denn er brauchte Kraft für seine bevorstehende Verwandlung.

In dieser Nacht verwandelte sich Gustav Fiedler zum zweiten Mal.
Er schlich ein paarmal um das weitläufige Anwesen des Bankdirektors, erkannte, dass dieser alleine war und sich ein Fußballspiel im Fernsehen ansah und brach durch die Türe aus Sicherheitsglas, die das Wohnzimmer vom Garten trennte. Walter Pichlbauer, so hieß Fiedlers drittes Opfer, fiel vor Schreck aus seinem Fernsehsessel. Er rappelte sich auf, drehte sich um und blickte in Gustavs leuchtend grüne Augen. Wieder fiel er vor Schreck, dieses Mal in Ohnmacht. Sein Mordtrieb sagte dem Biest, dass es die Sache rasch zu Ende bringen sollte, doch da der immer noch im Wolf steckende Mensch auf Bargeld aus war, wartete er erst einmal ab.
Als Pichlbauer wieder erwachte, stand Gustav zwei Meter von ihm entfernt in einer Ecke des Raumes. Der Direktor starrte fassungslos auf die Kreatur, dann rang er sich einige wenige Worte ab, um am Leben gelassen zu werden. Der Wolf näherte sich ihm mit langsamen Schritten, und als Walter die Nasenwände der Bestie sah und das Firmenzeichen seiner Bank oberhalb der gierigen Zähne erkannte, da fiel er auf die Knie und betete den Steirerwolf mit der Giebelkreuzschnauze an. Dieser ließ sich davon nicht beeindrucken und packte Pichlbauer mit den Zähnen im Genick und hob ihn hoch.
Mit langen schnellen Sätzen brachte er den Direktor zur Bank und zwang ihn, den Sicherheitscode der Türe einzutippen, indem er mit der Vorderpranke auf das kleine Tastenfeld neben dem Eingang wies und dabei bedrohlich knurrte. Die Türe öffnete sich, und Gustav warf Walter in den Kassenraum. Mit einem Satz war er wieder bei ihm, hob ihn erneut hoch und ließ ihn vor der Türe des Tresorraumes fallen.

Am nächsten Tag machten Gerüchte die Runde im Dorf. Gustav Fiedler wurden diese am Vormittag am Tresen des örtlichen Gasthauses zugetragen. Demnach hatte Walter Pichlbauer vermutlich seine private Schatulle auffüllen wollen. Ansonsten hätte er sich wohl kaum mitten in der Nacht Zutritt zum Safe seiner Bank verschafft. Dort, im begehbaren Tresor, war er nämlich aufgefunden worden. Es war wohl ein riesiger Keiler, der ihn derart zugerichtet hatte. Man fand Haare auf dem Boden, lange schwarze Grannen, wie von einem Wildschwein. Was es dort zu suchen hatte, konnte jedoch niemand erklären. Pichlbauers Leib war von tiefen Wunden übersät, wie von Hauern verursacht. Die Überwachungskamera hatte den Keiler unscharf gefilmt, und die Polizei wollte noch einen erfahrenen Jäger hinzuziehen. Sie war sich nämlich nicht sicher, ob das Ungetüm auf dem Video tatsächlich ein Wildschwein war.

Die Angelegenheit verlief im Sande, wenigstens behördlich, doch nachdem es auch den Besitzer des Sägewerks erwischt hatte, machte sich allmählich Angst unter den Reichen des Dorfes breit.
Kurt Haas hatte er geheißen und hatte grässlich geendet. Er wurde vor seinem Sägewerk gefunden, am Morgen nach der Nacht der grünen Sichel. Die Arme und Beine waren ihm herausgerissen worden, wie auch der Tresor in seinem Büro. Offenbar war der Geldschrank etliche Male zu Boden geschleudert worden, bevor er nach- und das Geld darin freigegeben hatte.
Gustav hatte keine Angst, und bald auch keine Geldsorgen mehr. Er stellte seinen Reichtum nicht zur Schau, kaufte bloß zwei Kühe und drei Hennen. Im Wohnhaus beließ er alles so, wie er es jahrzehntelang gekannt hatte, erneuerte lediglich den Fernseher und das Sofa. Aloisia stiftete der Dorfkirche eine neue Orgel, dies jedoch mit der strengen Auflage, dass niemand den Namen der Stifterin erfahren durfte.

Mit der Zeit wurden Gustav die schmerzhaften Verwandlungen zu kräftezehrend, also beschloss er, dass noch ein letztes Opfer dran glauben musste. In der darauffolgenden Nacht der grünen Sichel würde er einen unbescholtenen Mann in die Schulter beißen, dadurch den Steirerwolf übertragen und dann wäre er frei. So stand es im Buch seiner Ehefrau. Und er wäre nicht bloß frei, sondern auch reich.
Seitdem er der Steirerwolf war, hatte sich Gustav Fiedlers Blick auf das Geld nämlich geändert. Hatte er vor seiner Wolfwerdung mit verachtenswertem Begehren auf Geld geblickt, so tat er dies nunmehr mit begehrlicher Verachtung.

Sein letztes Opfer war Josefa Bohnstingl, die Besitzerin der größten Sattlerei im Umkreis von sechzig Kilometern. Sie führte den Betrieb in der achten Generation und war für ihren Geiz, somit auch für dementsprechenden Reichtum, bekannt. Gustav suchte sie auf und musste erkennen, dass nicht nur Aloisia und er von der Existenz des Steirerwolfs wussten. Die alte Frau empfing ihn in ihrem Bett, eine Schrotflinte hatte sie im Anschlag und drückte ohne Vorwarnung ab. Ein Schrotkorn streifte sein linkes Ohr, ansonsten blieb er unverletzt. Nach einer Schrecksekunde knurrte er böse und sprang zu ihr ins Himmelbett, dessen weiße Laken sich binnen Sekunden rot färbten. Im Keller fand er eine Truhe, voll mit Münzen aus Gold und Silber, und trug diese im Maul in das Wäldchen. Mühsam schleppte er am Morgen nach seiner letzten Untat als Steirerwolf den Schatz zu seinem Haus und teilte Aloisia mit, dass er in der nächsten Nacht der grünen Sichel das Wesen des Wolfs weitergeben würde. Sie umarmte ihn und fragte, an wen er es denn weitergeben würde.
Er wüsste es noch nicht, log er.

Gustav Fiedlers letzte Nacht der grünen Sichel war angebrochen. In den Tagen davor hatte er sich von Fasanen und Rebhühnern ernährt, ein Hundewelpe wurde ihm ebenso zur Nahrung wie ein Wellensittich und ein Kalb, denn er hatte sich vorgenommen, gut genährt in diese Nacht zu gehen.
Kurz vor Mitternacht, die Verwandlung war längst vollzogen, läutete die Glocke der Dorfkirche. Johannes Zirngast, der Pfarrer, schrak aus seinen Träumen auf und lief in sein Bethaus, um zu sehen, was vor sich ging. Dort sah er sogleich den mächtigen Steirerwolf, der von der Kanzel herab abwechselnd heulte und knurrte. Zirngast reckte seine Arme gen Himmel, doch Gott war in dieser Nacht nicht anwesend. Der Wolf sprang, riss den Gottesmann zu Boden und vergrub seine Zähne in dessen Schulter. Dann lief er aus der Kirche.

Aloisia und Gustav Fiedler lebten noch zwölf Jahre lang ein bescheidenes, jedoch nicht armes Leben, bis sie im selben Monat friedlich einschliefen.
Ihr Geld vermachten sie der Dorfkirche, die eine hohe Mauer um das Wohnhaus des Pfarrers errichten ließ, die nach dessen Tod wieder abgetragen wurde.

Michael Timoschek

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