In einem kleinen Dorf

Gratwein ist ein kleines Dorf in Österreich. Es ist unweit der steirischen Landeshauptstadt Graz gelegen. Etwa dreitausendfünfhundert Menschen leben in Gratwein, und die haben es in sich.

Oswald Heiner, der ehemalige Gratweiner Künstler, ist einer von ihnen. An einer Universität hat er nie studiert, er hat sich alles selbst beigebracht. Bevor er Künstler wurde, war er Metzger. Das erklärt die Kunst, die er macht. Doch davon später.
Ein weiterer Gratweiner ist Paul Meister. Sein Name passt zu ihm, denn er ist der Bürgermeister. Auch saß er einmal im Vorstand der örtlichen Raiffeisenkasse. Wie Oswald hat auch Paul sich alles selbst beigebracht. Als er kein Bauarbeiter mehr sein wollte, wurde er kriminell. Etliche Diebstähle und drei Jahre im Grazer Gefängnis später wurde er Bürgermeister.
Ein dritter Mann aus Gratwein ist Markus Suppan. Ihm gehört eines der siebzehn Gasthäuser im Ort. Er hat es von seinem Vater übernommen. Sein Lokal ist immer gut besucht, denn viele Gratweiner trinken gerne Bier und Wein. Schnaps trinken sie auch gerne.
Maria Ponisch war die Direktorin der Volksschule. Sie ist mit Gernot verheiratet, dem Dorfpolizisten. Maria besucht oft das Gasthaus von Markus, um Bier zu trinken. Es kommt häufig vor, dass ihr Mann in seiner Uniform neben ihr an der Bar steht. Er trinkt stets Wein und danach Schnaps.

Eines Abends standen die Genannten, ohne den Polizisten, an der Bar und beschlossen, ihr Dorf zu verschönern.
Oswald Heiner, der Künstler, sagte in die Runde: „Gratwein ist kein schönes Dorf! Lasst uns überlegen, wie wir es schöner machen können.“
Der Bürgermeister war sofort Feuer und Flamme. „Das ist eine gute Idee, Oswald! Ich bin schon lange der Ansicht, dass Gratwein zu grau, zu farblos ist.“
Maria Ponisch sagte: „Dann erschaffe ein Kunstwerk, Oswald. Du bist doch der Künstler hier.“

Der Angesprochene dachte einige Sekunden lang nach und sagte dann: „Das kostet aber Geld. Meine Kunstwerke sind nicht billig.“
Paul Meister nahm einen großen Schluck von seinem Bier und lachte. „Geld ist kein Problem. Ich bin im Vorstand der Bank. Sag mir einfach, wie viel du haben willst.“
Oswald Heiner wiegte seinen Kopf hin und her. Er gab sich den Anschein, dass er nachdachte und rechnete. „Achtzigtausend Euro“, sagte er schließlich.
Markus Suppan, der Wirt, warf ein: „Aber du hast uns ja noch gar nicht gesagt, was für ein Kunstwerk du erschaffen willst!“
„Ein wahres Meisterwerk wird das“, sagte der Künstler.
„Na, da bin ich aber gespannt!“, meinte Maria Ponisch. „Von dir habe ich noch nichts gesehen, das diese Bezeichnung verdient.“
„Lass dich überraschen“, gab Oswald zurück.

Auch wenn sich Oswald Heiner als Künstler sah und bezeichnete – er war immer noch ein Metzger. Er erschuf nämlich Kunstwerke aus Tieren.
Nach dem Tod seiner Eltern hatte er die Fleischerei verkauft, um sich ganz der Kunst widmen zu können. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten hatte er es geschafft. Im kleinen Rahmen wenigstens. Im Turnsaal der Hauptschule des Nachbarortes Gratkorn wurden seine Werke ausgestellt. Zwar nur für eine Woche, aber immerhin. Gegen Ende dieser Woche hatten sie sich nämlich aufzulösen begonnen. Oswald hatte versehentlich seine Ortsansichten von Gratwein in Essig eingelegt und nicht in Alkohol. Und da sie aus Fleisch gemacht worden waren, lösten sie sich eben auf.
Diesen peinlichen Fehler machte er kein zweites Mal. Er hatte angefangen, Tiere in Alkohol einzulegen, und zwar ganze Tiere. Und der Plan ging auf. Im ersten Jahr seiner Karriere als Künstler konnte er ganze drei Kunstwerke verkaufen. Immerhin.
Erst hatte er Kühe und Schweine eingelegt, doch bald tat er dies auch mit Hühnern und Fischen. Er nahm auch Aufträge an. Wollte ein Kunde bloß eine halbe Kuh in seinem Wohnzimmer stehen haben, so bekam er sie auch. Als Metzger war das Halbieren der Tiere kein Problem für Oswald Heiner.

Im Laufe der Jahre wurde er erfolgreich. Seine Werke wurden von den Kunstkritikern zwar nicht beachtet, doch in vielen Gratweiner Häusern wurden sie geliebt. Besonders seine eingelegten Fische, wie Hechte oder Karpfen, wurden oft bestellt. Diese Objekte waren klein und nicht allzu teuer. Es kam häufig vor, dass Männer Karpfen bei Oswald in Auftrag gaben. Wahrscheinlich um sich bei ihren Frauen für deren Kochkünste zu bedanken. Oder als Wink mit dem Zaunpfahl. Um sie nämlich darauf aufmerksam zu machen, dass viel zu selten Karpfen auf dem Tisch stand.
Egal – Oswald Heiner war auf dem besten Weg, ein großer Gratweiner Künstler zu werden. Wenn nicht sogar der größte.

Und da kam ihm der Auftrag, das Dorf zu verschönern, gerade recht. Er freute sich sogar so sehr darüber, dass er die Anwesenden auf Schnaps einlud.
„Brauchst du Material für dein Kunstwerk?“, fragte Paul Meister.
„Ja, das brauche ich. Ich brauche ein Huhn, aber ein großes.“
„Dann geh zu einem Bauern und kaufe eines“, sagte Maria Ponisch und leerte ihr Schnapsglas.
„Nein, Maria, ich erledige das“, sagte Meister und grinste.
Alle im Raum lachten, denn sie wussten, wie das zu verstehen war. Bevor Paul nämlich Bürgermeister von Gratwein wurde und bei Raiffeisen anfangen durfte, war er ein berüchtigter Hühnerdieb. Und ein sehr erfolgreicher noch dazu. Bis er erwischt und ins Gefängnis gesperrt wurde.

„Was brauchst du noch?“, fragte Markus Suppan.
„Einen Ziegenbock. Aber einen schwarzen!“
„Wer in der Umgebung hat noch Ziegen?“, fragte Maria.
„Gustav Herbst hat noch welche. Aber ob er auch schwarze hat, weiß ich nicht“, murmelte der Wirt.
„Dann nimm einen weißen Ziegenbock und bemale ihn mit schwarzer Farbe“, schlug Paul vor.
„Genau! Du bist schließlich Künstler“, sagte Maria.
„Ja, das bin ich“, gab Oswald zurück. „Ich werde den Bock selbst bemalen. Markus, noch eine Runde Schnaps, bitte!“
Sie hoben ihre Gläser, stießen an und tranken sie aus. In Gratwein ist es nämlich Brauch, mit Schnapsgläsern anzustoßen. Besonders oft wird an Dienstagen angestoßen. Und jener Tag war ein Dienstag.

„Brauchst du noch weitere Tiere?“, fragte Paul.
„Ja. Ein Wildschwein. Einen großen Keiler.“
„Sag, Oswald, was für ein Kunstwerk wirst du für Gratwein erschaffen?“, fragte Maria Ponisch.
„Ein Meisterwerk, wie ich schon gesagt habe.“
„Das Wildschwein stellt kein Problem dar“, sagte Meister.
„Stiehlst du eines?“, fragte Oswald, und alle lachten.
„Nein“, sagte Paul. „Meine Bank besitzt ein Gehege mit über fünfzig Wildschweinen.“
„Wofür züchtet ihr die?“, fragte Maria.
„Ach, ich und meine Vorstandskollegen lieben die Jagd.“
„Im Gehege?“, fragte sie.
„Ja. Dort ist die Trefferquote höher.“

„Waren das jetzt alle Tiere?“, fragte die Schuldirektorin und bestellte eine Runde Schnaps.
„Nein, bis jetzt habe ich erst drei. Ich brauche aber vier.“
„Was brauchst du noch?“, fragte Markus.
„Eine schwarze Katze wäre gut.“
„Nein, sicherlich nicht!“, protestierte Paul. „Wenn du eine Katze in Alkohol einlegst, halten alle Leute uns Gratweiner für Barbaren!“
„Eine Katze geht wirklich nicht, Oswald!“, pflichtete Maria dem Bürgermeister bei.
„Ein Hund scheidet dann wohl auch aus“, murmelte Oswald.
„Bist du verrückt?“, rief Maria. „Willst du unser Dorf zum Gespött der Steiermark machen?“
Oswald Heiner dachte einige Sekunden lang nach und sagte lächelnd: „Nein, natürlich nicht.“

„Also, Oswald, welches Tier brauchst du noch?“
„Eine Eule wäre gut. Am besten ein Uhu.“
„Eulen sind streng geschützt“, sagte Paul.
„Wie wäre es mit einer Krähe?“, fragte Maria.
„Nein, eine Krähe kommt mir nicht in mein Meisterwerk!“, rief Oswald entrüstet.
„Eine Gans vielleicht?“, schlug Markus vor und füllte die Gläser wieder voll.
„Eine Gans? Das ist eine sehr gute Idee“, sagte der Künstler mit zufriedener Miene. „Aber woher bekomme ich eine Gans?“
Paul Meister deutete mit dem Zeigefinger auf seine eigene Brust und meinte: „Um die Gans kümmere ich mich auch.“
„Dann wirst du aber einen großen Sack brauchen, Paul“, sagte Maria. „Wenn du in der Nacht in den Geflügelhof des Bauern Huber einbrichst.“
„Ich habe noch einen solchen im Keller“, sagte Paul. „Aus den alten Zeiten.“
Alle lachten und stießen an.

„Somit steht der Erschaffung meines Meisterwerks nicht mehr im Wege“, sagte Oswald heiter.
„In drei Tagen bekommst du die Tiere“, sagte Paul.
„Wie lange wird es dauern, bis du dein Werk vollendet haben wirst?“, fragte Maria.
„Das hängt davon ab, ob ich so viel Alkohol in kurzer Zeit bekomme. Das Meisterwerk wird nämlich ziemlich groß werden.“
Martin Suppan, der Wirt, stellte lachend eine volle Flasche Schnaps auf die Theke. „Die geht aufs Haus! Damit du erkennst, dass es in Gratwein immer genug Alkohol gibt.“
Alle lachten, Paul füllte die Gläser, und sie tranken.
„Nein, im Ernst“, sagte Oswald. „In etwa einer Woche bin ich damit fertig.“
„Und wo stellen wir das Kunstwerk hin?“, fragte Markus.
„Zwei Herzen schlagen nun in meiner Brust!“, rief Paul Meister. „Entweder vor dem Gemeindeamt oder vor der Raiffeisenkasse.“
„Paul, du musst entscheiden, welches Gebäude wichtiger für Gratwein ist“, sagte der Wirt.
Paul Meisters Antwort kam prompt: „Natürlich die Bank!“
Wieder lachten alle.

Zwei Wochen später war Oswald Heiners Meisterwerk fertig. In einem riesigen Behälter aus Panzerglas waren die vier Tiere in Alkohol eingelegt. Die Gans stand mit ausgebreiteten Flügeln auf dem Wildschwein. Und das Huhn hatte sich auf dem schwarz bemalten Ziegenbock niedergelassen. Am oberen Rand des Kunstwerks stand in goldenen Buchstaben geschrieben: ‘Oswald Heiner, Gratweiner Bestien, 2012’.
Die Enthüllung des Meisterwerks war groß angekündigt worden. Sogar die steirische Tageszeitung hatte einen Journalisten und einen Fotografen geschickt.
Etwa zweitausend Gratweiner waren gekommen, der Platz vor der Bank war voll.

Als Bürgermeister Paul Meister das Werk enthüllte, ging ein Raunen durch die Menge. Sogar junge Menschen nahmen ihre Brillen ab und reinigten deren Gläser. Sie konnten einfach nicht glauben, was sie da sahen.
Einige brachen in schallendes Gelächter aus. Eine alte Frau begann zu weinen.
„Von dieser Schande wird sich Gratwein nie erholen!“, schluchzte sie.
Der Apotheker des Dorfes, ein wichtiger Mann, begann mit Oswald Heiner zu brüllen. Der Künstler verstand die Welt nicht mehr.
Der Journalist stellte ihm ein paar Fragen zu dem Meisterwerk. Und nachdem der Fotograf die Bestien von allen Seiten fotografiert hatte, hielt er sich den Bauch vor Lachen.
Die Zeitung brachte ein Foto von Oswalds Werk auf der Titelseite. Die Schlagzeile lautete: ‘In Gratwein ertrinken nun auch Tiere im Alkohol!’
Unter dem Foto war ein kurzer Text zu lesen. ‘Der stolze ‘Künstler’ Oswald Heiner vor seinem ‘Meisterwerk’. Daneben steht eine alte Frau und weint! Ist das wirklich Kunst?’

Zwei Wochen nach der Enthüllung hatte sich ein Komitee in Gratwein gebildet. Es forderte im Namen von über zweitausend Unterstützern die sofortige Entfernung der Bestien. Paul Meister versuchte, die Wogen zu glätten. Er ließ die Schrift am oberen Rand ergänzen. Und zwar um ‘Eigentum der Raiffeisenkasse Gratwein’. Das beschwichtigte die Gegner des Meisterwerks jedoch bloß für wenige Tage.
Ein Einwohner Gratweins drohte telefonisch gar damit, das Werk in die Luft zu sprengen. Da wurde es dem Bürgermeister dann doch zu viel. Das Eigentum seiner Bank durfte einfach nicht angetastet werden. Er ließ es bekleben.
Der Würfel steht immer noch auf dem Platz vor der Bank. Sein Inhalt wird von schwarz-gelben Folien vor Blicken geschützt. ‘Raiffeisen – so eine Bank!’ ist darauf zu lesen. In Gratwein nennt man den Würfel mittlerweile ‘Wespenstich’. Vermutlich weil Wespen ebenfalls schwarz-gelb sind. Und weil sie Schmerzen verursachen, wenn man ihnen zu nahe kommt.

Was wurde aus den an diesem Skandal beteiligten Personen?
Nun, Maria Ponisch ist nicht mehr Direktorin der Volksschule. Sie wurde in den Landesschulrat berufen, und zwar an eine verantwortungsvolle Stelle. Heute ist sie Inspektorin für Volksschulen. Und steht noch öfter mit ihrem Ehemann, dem Polizisten, an Markus Suppans Bar.
Paul Meister ist immer noch der Bürgermeister von Gratwein. Die letzten Gemeinderatswahlen hat er knapp gewonnen. Er arbeitet auch noch immer für Raiffeisen, jedoch nicht mehr als Vorstand der Gratweiner Kasse. Eine interne Prüfung hatte einen Fehlbetrag in Höhe von achtzigtausend Euro ans Tageslicht gebracht. Man fand eine Lösung für die Sache. Das fehlende Geld wurde einfach von der Raiffeisenbank Graz überwiesen. Als Dank für diese selbstlose Geste durfte die Bank Paul Meister in ihre Dienste nehmen. Heute sitzt er in einem kleinen Büro in Graz und beantwortet die Briefe unzufriedener Kunden. Dass ein Wildschwein offenbar aus dem Gehege entkommen war, wurde ihm nicht zur Last gelegt.
Markus Suppan steht immer noch jeden Tag in seinem Gasthaus. Seitdem er Alkohol ausschenkt, ohne nach den Ausweisen offenkundig noch sehr junger Menschen zu fragen, läuft es noch besser für ihn. Er kann es sich mittlerweile sogar leisten, die Gratweiner Kinderfußballmannschaft zu sponsern. Auf den Dressen steht: ‘Komm in Suppans Gasthaus – deine Eltern sind schon dort!’

Und Oswald Heiner wurde der Assistent eines wirklichen Künstlers. Nach dem Gratweiner Skandal hatten viele Menschen ihre Kunstwerke von Oswald zurückgegeben. Einige nicht einmal von Angesicht zu Angesicht. Sie warfen sie einfach auf Oswalds Grundstück und fuhren schnell weg. Vergebens hatte er versucht, in Gratwein eine Arbeit zu finden, denn als Künstler wurde er nicht einmal mehr in diesem Dorf wahrgenommen. Niemand wollte ihn einstellen. Auf der Straße wurde er verspottet. Und als ob das nicht schon genug gewesen wäre, erteilte ihm Markus Suppan auch noch Lokalverbot. Dies war der Wunsch einiger Stammgäste gewesen. Er zog nach Graz, doch auch dort wurde er erkannt und auf der Straße ausgelacht. So sah er sich gezwungen, die Steiermark zu verlassen.
Und dennoch geht es Oswald Heiner heute weit besser als den anderen Beteiligten. Ein bekannter und steinreich gewordener britischer Künstler hatte von Oswalds Schicksal erfahren. Dieser Brite macht ein Vermögen mit eingelegten Tieren. Aus Solidarität gab er dem Künstler Oswald Heiner eine Stelle in seiner Werkstätte und entlohnt ihn bis heute fürstlich. Nie im Leben hätte es sich Oswald träumen lassen, einmal mit Haien arbeiten zu dürfen.

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: kunst amoi schaun |Inventarnummer: 16147