Drei Episoden und die Wahrheit

Da geht ein sportlich gekleideter Mann vor mir. Plötzlich beginnt er zu laufen, hastet Richtung Fußgängerübergang, die Ampel steht auf Rot. Er ignoriert die Warnfarbe, blickt einmal kurz nach rechts, dann nach links, wieder nach rechts und läuft einfach weiter, über die Fahrbahn. Drüben angekommen, bleibt er stehen. Atmet schwer, sieht über die Straße zu mir herüber, auf die Zurückgebliebene, steht einfach da, auf der anderen Seite und wartet aufs Grünwerden der Fußgängerampel. Inzwischen ist er wieder zu Atem gekommen.
Es ist grün, ich quere die Fahrbahn, er auch. In der Mitte der Straße sehe ich ihn fragend an. Er lächelt und schüttelt den Kopf, mehr für sich als für mich, und geht in die Richtung zurück, aus der er ursprünglich gekommen ist.

Eine Frau bewegt sich langsam schwankend vor mir. Sie scheint mit ihren High Heels noch auf Kriegsfuß zu stehen. Passenderweise zeigen sich diese angriffslustig in grellem Pink. Darauf abgestimmt erscheint ihr Mund üppig geschminkt, wie in schreiende Farbe getunkt. Was will er damit sagen? Was will sie damit sagen? Mir offensichtlich nichts, sie lächelt und schwankt hüftschwingend weiter.

Ein Kind wirft den Ball. Er landet wieder in meinem Garten. Der Bub schreit mir fröhlich zu: „Nochmal bitte!“ Sicher, ich werfe den Ball zurück. Er kann es nicht lassen, immer wieder ballert er so haargenau an unserem gemeinsamen Zaun entlang, dass das Geschoß bei mir landet. Seufzend erhebe ich mich zum x-ten Mal aus meiner Liege. Das Buch fällt zu Boden, der Ball rollt vor meine Füße. Ich trete ihn diesmal ordentlich, sodass er höher als sonst über den Zaun fliegt. Gleich noch ein Stückchen weiter, in den anderen Garten. Ich höre den Buben aus etwas weiterer Entfernung schreien: „Bitte den Ball! Die Nachbarin war’s!“ (Genau, die Nachbarin war’s. Ich bin die Nachbarin, die Bälle in anderer Menschen Gärten schießt …) Kurz darauf ertönt seine Stimme wieder, mit erfreulichem, weil mich nicht mehr betreffendem Abstand: „Nochmal bitte!“

Da frage ich mich plötzlich, wie diese drei Personen, mit denen ich an jenem Tag zu tun hatte, wohl sind oder auch, wie sie einmal waren, bis sie so wurden, wie sie nun sind.
Nach reiflicher Überlegung komme ich zu dem Schluss: Es gibt mehrere denkmögliche Varianten (und unzählige denkunmögliche noch dazu), ich gehe sie der Reihe nach durch.

Der Mann: Er hatte sich etwas zu beweisen. Er suchte die Gefahr. Bei Rot über die Straße zu rasen, hatte ihm einen Nervenkitzel verursacht, noch gesteigert durch die Gewissheit, erstauntes Publikum wie mich vorzufinden.
Oder er war einfach zu spät dran gewesen und dann draufgekommen, dass er nochmal zurück musste, den Schlüssel vergessen hatte, oder eine Herdplatte in Verdacht, nicht abgedreht worden zu sein.

Die Frau: Sie glaubte, eine maximale Wirkung zu erzielen, wenn sie auf Farbe und Höhe setzte. Sie war oft übersehen worden und machte sich nun größer und bunter, als sie tatsächlich war, um mehr Aufmerksamkeit zu erhalten.
Oder aber sie war tatsächlich eine grelle, starke, ja, auch schreiende Person und ehrlich genug, dies sofort zu signalisieren: Wenn du damit nicht klarkommst, bin ich kein Umgang für dich! Ich gefalle mir, wie ich bin und lasse mich sicher nicht unterkriegen. Da geht es um mehr als um Lockbehübschung oder Kriegsbemalung.

Der Bub: Er wollte sich reiben, er wollte meine Geduld austesten. Er warf so oft den Ball über die gemeinsame Grenze, bis mir der Geduldfaden riss und ich über das Ziel hinausschoss. Er hatte mich provoziert und war damit erfolgreich gewesen. Darum wandte er sich dann den anderen Nachbarn zu, um deren Nervenstärke zu testen und sich dabei heimlich ins Fäustchen zu lachen.
Oder es war ihm unglaublich langweilig, bei ihm war niemand zu Hause, er freute sich, dass er mit jemandem reden konnte. Er suchte Kontakt, fand ihn auch wiederholt, und als er merkte, dass das zu viel des Guten war, suchte er anderweitig nach menschlichem Austausch (des Balles und von Worten). Eigentlich war es ein Ballspiel über die Zäune hinweg, aus diesem Blickwinkel betrachtet.

All diese Überlegungen bringen mich an einen Punkt, und zwar an einen, an dem ich über mich selbst nachdenken muss, nolens volens.
Bin ich die, die Menschen aufgrund einer Situation, aufgrund einer kurzen Szene einschätzen muss? Will ich etwa „die Wahrheit“ finden? Oder kann ich es bleiben lassen? Kann ich meiner so sicher sein, dass ich nicht bewerten muss, wer oder was auch immer meinen Weg kreuzt? Kann ich das, „nicht werten“?

Ich fange einmal damit an, meine eigene Rolle nicht zu bewerten, das ist das Einfachere. Ich hab hier einfach drei Episoden erzählt. Und nicht eine davon ist wahr.

Carmen Rosina

www.verdichtet.at | Kategorie: think it over | Inventarnummer: 16131