Von meinen Wundervölkchen

Bist du auch einer dieser Leute, die einem Kind nicht glauben wollen, nur weil es ein Kind ist? Wenn dem so ist, brauchst du dir meine Geschichte gar nicht anzuhören, denn ich bin erst dreizehn – und für die meisten Leute bedeutet das: ein Kind. Aber solltest du wiederum jenen anderen angehören – ich meine damit diese, die sich zumindest nicht abwenden, wenn ein Kind spricht, wenn es versucht, etwas ihm Wichtiges, etwas, das ihm tief im Herzen liegt, mitzuteilen – wenn du einer von diesen Leuten bist, möchte ich dir von meinem Geheimnis erzählen …

„Wer nicht lesen kann, muss alles glauben, was einem gesagt wird“, hatten meine Eltern immer gesagt, als ich dasselbe gerade in der Schule lernte – eines der einzigen Dinge, in denen sie sich einig waren. Heute streiten sie nur mehr, stehen kurz vor der Scheidung, aber davon möchte ich gar nicht erzählen …

Jedenfalls hatte ich darum begonnen zu schreiben.

Auch außerhalb der Schule: „Was für Kinder in meinem Alter nicht so selbstverständlich war“, hatte unsere alte Nachbarin, Oma Socke – sie war nicht tatsächlich meine Oma, aber ich hatte es mir als Kleinkind angeeignet, sie so zu rufen –, einmal gemeint und mich angelächelt. Mittlerweile muss ich gestehen, dass mir der Name „Socke“ etwas peinlich ist – aber Oma Socke ist einfach Oma Socke: „… und daran wird sich so schnell auch nichts ändern“, hatte sie ein anderes Mal geäußert. – Ja ich schrieb, und ich schrieb viel. Über dies und das, manchmal über jenes, oft auch über etwas anderes.

Eines jedoch hatten meine Geschichten immer gemein – sie waren alle wahr.

Hörst du? Das ist wichtig, um alles Folgende zu verstehen – sie waren alle wahr!

Eines Abends also – es ist noch nicht so lange her – saß ich in meinem Zimmer auf dem Bett und erträumte mir neue Geschichten, wie ich es oft an den Freitagen zu später Stunde zu tun pflegte, da ich am nächsten Tag keine Schule hatte. Sie handelten von Elfen, Drachen, Baumwesen, Feen und vielen weiteren sonderlichen Gestalten, die zusammen die tollsten Abenteuer erlebten, Flüsse durchquerten, Gebirge überwanden, Burgen eroberten – und das alles in meinem Kopf.

Bis ich es zu Papier brachte.

Plötzlich glitten sie hinab, die Wundervölker, von meinem Kopf, über meinen Arm und die Finger, hin zu meinen Stift und schließlich auf dem Papier mündend – es war wie Zeichnen oder so wie wenn man Musik machte, die im Akt des Schreibens nur man selbst hören konnte. Sie waren mein Geheimnis, und ich schrieb sie auf, damit sie wahrhaftig wurden, damit auch meine Eltern und andere – jeder, der sich dafür interessierte – teilhaben durfte an den vielen Abenteuern. „Wer nicht lesen kann, muss alles glauben“, und darum schrieb ich über sie! Damit man mir glaubte, dass sie existierten, und das nicht nur in meinem Kopf, wie meine Eltern behaupteten.

Aber an jenem Abend war es dann wieder so weit gewesen …

Meine Eltern hatten die Stimmen gegeneinander erhoben. Das passierte in letzter Zeit so häufig. Und es war nicht eine dieser Auseinandersetzungen, die im Schweigen des jeweils anderen endeten, nein, diesmal war es richtig schlimm. Zuerst hatte es nur gebrodelt, wie es eben meistens so war, aber sobald jemand etwas Falsches sagt, irgendeine Kleinigkeit erwähnt, dann eskaliert es. Sie werden laut und lauter, schreien einander an, und wenn es nicht im Schweigen endet, so kann es passieren, dass einige Dinge in unserem Haus zu Bruch gehen, dass mein Vater handgreiflich wird …

Und an jenem Abend war es solch eine Auseinandersetzung.

Ich weiß nicht genau, was da unten in der Küche geschah, aber was ich hörte, gereichte mir für Tränen. Da fielen sie, von meinen Augen aufs Papier, zwischen die Worte und all die Namen meiner Wundervölker. Ich vermochte ihre Hilfeschreie zu hören, während sie in meinen Tränen ertranken: „Hilfe! Aufhören!“, drangen ihre unzähligen Stimmchen an mein Ohr, aber ich konnte nichts machen.

Ich konnte nichts machen.

Weg, weg! Ich wollte weg! Doch wohin? Bei Oma Socke würden mich meine Eltern sofort finden, und sie sollten mich nicht finden – zumindest eine Zeit lang nicht. Während ich so überlegte, war ich bereits von meinem Bett gesprungen, aus meinem Zimmer und die Treppen hinabgestürmt und, ehe es meine Eltern bemerken konnten, aus der Haustür geeilt.

Die Wundervölker hatte ich in meinem Zimmer zurückgelassen.

Draußen war es bereits dunkel, nur ein paar Straßenlaternen zerstreuten ihr Licht auf meinem Weg durch jene nebelige Frühlingsnacht. Zuvor hatte geregnet. Da lief ich nun über den feuchten Asphalt meiner Siedlung, und während die tobenden Stimmen meiner Eltern in meinem Kopf in den Hintergrund rückten, mehrten sich die Tränen in meinen Augen. Wie die Brotkrümelchen im Märchen mit der Hexe im Knusperhäuschen, verlor ich sie auf meinem Weg, weg von Zuhause.

Im Unterschied, dass ich durch sie nicht zurückfinden wollte.

Die asphaltierte Straße wandelte sich zu einem Feldweg, der parallel zum dunklen Acker an einem Wald entlang verlief. Früher waren wir hier immer spazieren gewesen als Familie – an sonnigen Wochenenden. Damals noch mit Mäxchen, unserem Hund, bevor er …

Ach, weg, weg! Ich wollte weg!

Vom Feldweg bog ich durch das Gestrüpp in den pfadlosen Wald hinein. All die hohen Bäume in ihrer finsteren Gestalt zogen an mir vorbei, doch kam es mir so vor, als laufe ich am Stand. „Unerwünscht … du bist hier unerwünscht!“, wisperte es von ihren Kronen herab, ein mir hinterherjagendes Gemenge zischender Stimmen. Das Geäst knasterte, die Blätter raschelten, und nur mehr die Sterne und der Mond erleuchteten mir meinen Weg durch den nächtlichen Wald.

Irgendwann brach ich zusammen und landete im feuchten Moos, nahe einem Teich.

Dort weinte ich. Zusammengekauert und allein. Selbst die Bäume schienen sich von mir abzuwenden. Meine Tränen tränkten das Moos und mein stockender Atem verblies in der Nacht …

Das wäre ein ziemlich trauriges Ende für meine Geschichte gewesen. Den meisten Leuten entkommt an diesem Punkt ein mitleidiges Seufzen, sie klopfen mir auf die Schulter, streicheln meine Hand, aber das müssen sie nicht – ja sie sollen das nicht tun. Denn wäre das das Ende gewesen, würde es sich ja um kein Geheimnis handeln. Zumindest um keines, das es wert wäre, so zu nennen. Aber das, was dann passierte, was auf mein Zusammenbrechen im Wald folgte, das ist eines der Geheimnisse, die man auch wirklich so rufen darf:
Denn als ich so im feuchten Moos lag, zogen die fremden Stimmen fort, und das war als lichteten sich dunkle Wolken, an einem Tag, an dem du es gar nicht mehr erwartet hättest. Meist siehst du dann einen Regenbogen, manchmal sogar zwei, und genauso fühlte sich der Moment an, als mir freundlichere Stimmen an mein Ohr drangen, Stimmchen gar, vertraut und fürsorglich. Ein Kichern, ein zärtliches Schmunzeln, lautlos, aber irgendwie hatte ich auch das gehört. Etwas strich an meinen Haaren vorbei, irgendwas spürte ich auch an meinen Beinen – etwas Kleines, Zerbrechliches vielleicht – auf einmal zupfte mich etwas an meinem Ärmel, an der Schulter, und an den Socken! Das war schon ziemlich absurd, befand ich. Aber nicht falsch verstehen!, ich fühlte mich nicht bedroht oder ängstlich, nein, es war ein Gefühl der Geborgenheit, das ich empfand. So öffnete ich meine dem Moose zugekehrten Augen und sah auf … und was ich erblickte, glich einem Wunder …

Elfen tanzten um mich herum, dort an dem Baum, da an dem Teich und gleich hier am Moos; und neben ihnen her: eine Schar von Feen, die kleiner und etwas ungestümer sogar durch die Luft segelten. Sie neckten einander, erfreuten sich ihres Lebens und zupften an meinem Gewand herum, dass auch ich lachen musste.

„Hallo ihr“, begrüßte ich die kleinen Wundervölkchen, und sie erwiderten mir ein Lächeln. „Sei nicht traurig“, bedeutete mir der Tanz der Elfen: „Wir sind für dich da“, der Flug der Feen. Ihre Sprache drückte sich nicht mit Worten aus, so wie die meine, nein, sie kommunizierten eleganter, mit ihren Bewegungen, ihren Gesichtsausdrücken, den verschmitzten Blicken …

Da bemerkte ich, dass da noch mehr waren! Aus dem Unterholz und dem Gestrüpp traten sie hervor, die Baumwesen, in ihren knorrigen Gestalten und friedfertigen Gesichtern. In einem entschleunigten Tempo wandelten sie geruhsam hinab zum Teich, ließen sich nieder und tauchten ihre Wurzelfüße ins kühle Wasser. Von dort aus winkten sie mir zu und genossen ihre Wahrhaftigkeit. Ihnen folgten die Drachen, die größer waren als ich erwartet hatte: Sie legten sich neben mich zur Ruh, dabei sie ab und zu aus ihren Nüstern in die frische Nachtluft schnaubten.

„Seid ihr alle meinetwegen gekommen?“, fragte ich sie glücklich, und mir war es, als antworteten sie mit: „Ja.“ Das ließ mich innehalten und all den Schmerz vergessen, Tränen der Trauer wandelten sich zu jenen der Freude. Meine Wundervölkchen um mich versammelt … schlussendlich also waren sie doch am Leben, und nicht nur stumme Schriftzüge auf einem Papier. Meine Eltern würden mir das nie glauben …

Meine Eltern …

Ich überlegte kurz, und wandte mich mit einer neuen Frage an meine Wundervölkchen: „Sagt, wollt ihr mich nach Hause begleiten? – Zu meinen Eltern? Ich möchte, dass sie euch kennenlernen!“

Da sahen die Wesen einander an, sowohl Elfen und Feen als auch die Baumgestalten und Drachen. Auch sie überlegten. Und das nicht kurz, möchte ich anmerken! Aber nach einer Weile einigten sie sich und beschlossen, mich zu begleiten.

Ich hätte mich nicht mehr freuen können!

Zuerst setzten sich die Baumwesen in Bewegung. Langsam erhoben sie sich und stapften im gemächlichen Gange los. Dann formierten sich die Elfen – gleich einem Tanz wehten sie daraufhin durch den Wald. Ich selbst sprang auf den Rücken eines der Drachen und führte meine Völkchen, umgeben von umherschwirrenden Feen, an.

Ein Lied … ein Lied hätten wir nun singen können.

Doch ihr Anblick und das Gefühl, das mir meine Völkchen gaben, waren so als ob man Musik machte, und damit mir Lied genug.

Bald hatten wir den Wald hinter uns gelassen. Und zurück am Feldweg wurde mir erst unsere Anzahl bewusst, Scharen um Scharen tauchten zwischen den Bäumen hervor. Nun waren es nicht nur mehr Elfen, Feen, Baumwesen und Drachen, nein, hinzu traten Greifen, Einhörner, schillernde Vögel, die ihre Farbe wechseln konnten und ich deswegen „Purpuren“ getauft hatte, und und und …

Das ganze Gefolge meiner Wundervölkchen. Sie waren alle gekommen.

Die Straße nach Hause war menschenleer, da es bereits spät in der Nacht geworden war. Nun wimmelte es da von meinen Wesen. Zuhause angekommen, läutete ich selbstbewusst an der Tür. Es dauerte nicht lange, bis sie geöffnet wurde und meine besorgten Eltern heraustraten.

„Wo bist du gewesen?“, umarmte mich meine Mutter erleichtert.

Als ich zu meinem Vater aufsah, bemerkte ich, dass sein Blick woanders ruhte. Staunend musste er meine Wundervölker gemustert haben, denn kein Wort entkam seinen Lippen. Auch meine Mutter hielt inne, nachdem sie sich wieder aufgerichtet hatte.

Und beide lächelten sie.

Tobias Vees
tobiasvees.wordpress.com

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