Der große Oktzinoia

Ist dir schon mal aufgefallen, dass es kaum Lebewesen gibt, die werfen können? Das liegt natürlich daran, dass es zum Werfen Hände braucht. Richtig werfen können daher nur Menschen und Affen. Obwohl, eigentlich hätten Koalabären und Faultiere auch Hände, aber damit klammern sie sich lieber an Bäumen fest und sind den ganzen Tag sehr faul. Die Affen aber werfen häufig und zwar mit allem, was ihnen in die Finger kommt, und für die Menschen ist das Werfen eine richtige Leidenschaft – wenn sie einmal damit angefangen haben, können sie kaum mehr damit aufhören. Ja, sie sind so vernarrt in das Werfen, dass sie sogar stundenlang anderen dabei zuschauen können. Darum haben sie ja auch Tennis und Basketball erfunden und beim Fußball werfen sie sogar mit den Füßen. Trotzdem gibt es ein einziges Ziel, auf das die Menschen niemals werfen: Heuschrecken. Oder hast du schon mal einen Menschen gesehen, der auch nur einen winzigen Kiesel auf eine Heuschrecke geworfen hätte? Das ist doch wirklich eigenartig, nicht wahr? Vor allem, wenn man weiß, dass es einmal eine Zeit gab, in der es für die Menschen gar nichts Wichtigeres zu tun gab, ja wo sie sogar meinten, dass ihr Überleben davon abhängt, eine vermeintliche Heuschrecke zu bewerfen. Zum Glück gibt es eine Geschichte, aus der wir erfahren, warum die Menschen nichts mehr auf Heuschrecken werfen, nicht einmal ein Sandkorn.

Eines Tages bewarfen die Menschen eine Heuschrecke mit winzigen Kieseln, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Heuschrecke war aber in Wirklichkeit ein winzigkleiner Zwergdrache, der gerade seinen Mittagsschlaf hielt – Zwergdrachen können gewöhnlichen Heuschrecken zum Verwechseln ähnlich sehen. Dieser Zwergdrache wurde von einem Treffer auf seinen Kopf geweckt und darüber wurde er sehr wütend. Er zirpte, er sei zwar klein, aber wenn es darauf ankomme, ein gewaltig gefährlicher Drache und werde alle Menschen zur Strafe für diese Gemeinheit verbrennen und fing auch gleich damit an, auf ein paar von ihnen seine Flamme zu richten. Da lachten die Menschen lange und laut, denn der Zwergdrache war nicht größer als ein Daumennagel, ein Drächlein, ein Drächelchen, ein Drachelino, dessen Zirpen kaum zu hören war, und sein Flämmchen brannte nicht mehr als ein Gelsenstich. „Da haben wir ja ein gewaltiges Ungeheuer aufgescheucht! Lasst es uns mit vereinten Kräften bezwingen, bevor es uns alle vernichtet!“, lachten die Menschen und sie bewarfen das kleinwinzige Drächlein weiter mit Kieseln, um sich einen Spaß zu machen. Doch da geschah etwas Seltsames: Der Drache wurde bei jedem Treffer größer, und auch seine Flamme wurde richtig gefährlich und brannte bald so stark wie eine große Fackel.

Die Menschen bemerkten natürlich, dass der Drache vom Bewerfen mit Steinen größer und mächtiger wurde und wurden darüber langsam unruhig, doch da ihnen nichts Besseres einfiel, bewarfen sie ihn immer schneller mit noch mehr und noch größeren Steinen, schließlich kippten sie sogar gewaltige Felsbrocken von Bergwänden auf ihn. Doch der Drache blieb und wuchs mit jedem Treffer weiter.

Und wie immer, wenn es keine Lösung für ein Problem gibt, bildeten sich bald eigene Fach- und Spezialistengruppen dafür. Damals waren es die Drachen-Bewerfmeister, die auch von aller Welt in hohen Ehren gehalten wurden.

Diese Drachen-Bewerfmeister griffen eines Tages alle gemeinsam an, und es hagelte ganze drei Tage und drei Nächte lang einen ganzen Berg Felsen und Steine auf den Drachen. Der blähte sich auf, die Felsen und Steine prallten an ihm ab und da blieb er dann und wurde erst so groß wie der ganze Berg Gestein, der auf ihn geworfen worden war. Danach wuchs er aber noch weiter und wurde schließlich noch größer, bis er selbst die Sonne verdunkelte.

Da ließen die meisten Drachen-Bewerfmeister von ihm ab, denn sie hatten begriffen, dass es aussichtslos war, das himmelhohe Untier mit Steinen zu erschlagen. Und sie rauften sich die Haare, warum sie nicht schon viel früher verstanden hatten, dass sie die Bedrohung mit jedem Angriff nur verstärkten. Hinzu kam eine neue Not, denn ohne Sonne gab es keine Ernte mehr, und ohne Ernte drohte der Hunger. Nur noch eine Handvoll der tollkühnsten Drachentöter versuchte weiter, das Ungeheuer zu besiegen, doch waren diese entweder blind vor Ehrsucht oder mit Dummheit geschlagen und begriffen nicht, dass der Drache schon längst zu groß war, um ihn erschlagen zu können, und sie verstanden nicht, dass sie ihn mit jedem geworfenen Stein nur noch größer machten. Doch die übrigen Menschen glaubten nun dem Drachen, wenn er brüllte, er werde sie alle vernichten.

Da erschien aus dem Lande Irgendwo ein alter Schuster und Eierverkäufer, der in Wirklichkeit ein als Mensch verkleideter Schimpanse war, und weil er gerade nichts Besseres zu tun hatte, sah er den letzten Drachen-Bewerfmeistern dabei zu, wie sie verzweifelt gegen die Riesenechse kämpften. Und da er ein Schimpanse war und Schimpansen fast so gerne Steine schleudern wie Menschen und den Menschen auch gerne alles nachmachen, wollte er bald unbedingt mitmachen. Mittlerweile gab es aber fast keine Steine mehr, und die Drachen-Bewerfmeister behielten die wenigen, die noch da waren, eifersüchtig für sich. Der als Schuster und Eierhändler verkleidete Schimpanse hatte leider auch gerade keine bei sich – nur einen Korb mit Hühnereiern, also warf er eben mit denen.

Der Drache sah die Eier auf ihn zufliegen und wurde aufgeschreckt durch ihr besonders hartes und zurechtgeformtes Aussehen, darum blähte er sich gewaltig auf, um sie abprallen zu lassen. Das wäre natürlich gar nicht nötig gewesen, denn die Eier zerbrachen ja einfach an ihm, und er spürte sie nicht einmal. Da schüttelten die Drachen-Bewerfmeister den Kopf und dachten: „Was für ein Affe, dieser alte Schuster und Eierverkäufer!“

Doch der Drache hatte ja nichts gespürt, und er blähte sich noch mehr auf, weil er meinte, diese für ihn gänzlich neuen und vielleicht gefährlichen Geschosse würden erst auftreffen. Und der Affe warf auch weiter, und der Drache dachte: „Vielleicht hat dieser kleine Mensch, der sich aufführt wie ein Affe, nur danebengeschossen, aber jetzt und jetzt trifft er mich!“ Und er blähte sich noch mehr auf, und der Affe warf noch ein Ei, und der Drache blähte sich noch mehr auf, so gewaltig blähte er sich auf, dass er fast den Mond berührte, doch er spürte noch immer nichts. Und der Affe warf weiter und weiter, und da blähte sich der Drache noch mehr auf und blähte sich auf, bis er nur noch eine einzige riesige Kugel war, so groß wie, ja, so groß wie die ganze Welt. Und da war die Haut des Drachen nur mehr ganz dünn wie bei einem Luftballon, und es wurde vollkommen dunkel auf der Welt, weil kein Futzelchen Licht mehr vom Himmel kam, und man hörte nur noch das Geräusch von der Stelle, wo er gerade noch an der Erde rieb. Und an dieser Stelle, die etwa so groß war wie ein Handteller, genau dort lag die zerbrochene Eierschale von dem ersten Ei, das der Schimpanse geworfen hatte, und an der rieb die hauchdünne Haut des aufgeblähten Drachen.

Da machte es ganz leise „Plopp!“, wie wenn ein Regentropfen in ein Glas Wasser fällt, und der Drache war zerplatzt. Gleichzeitig wurde es wieder hell, weil ja die Sonne nicht mehr verdeckt wurde.

Das war dem Schuster und Eierverkäufer, der eigentlich ein Schimpanse war, nur recht – es war ihm auch lieber, wenn die Sonne schien und er sah, wo er hinschoss. Doch da war nichts mehr zum Bewerfen, nur eine kleine Heuschrecke saß ärgerlich zirpend vor ihm auf dem Boden, und die war ihm kein Ei wert. Da bereute er wieder mal, es den Menschen nachgemacht zu haben.

Als er von den begeisterten Drachen-Bewerfmeistern gefragt wurde, wie er es denn geschafft hätte, mit ein paar Hühnereiern das furchtbare Ungeheuer zu erlegen, klagte er nur über den Verlust von achtzehn Stück seiner frischen Ware, und da er sich mit der Aussprache der Menschensprache ein wenig schwer tat, klang das wie: „Oktzin Oia!“ Und als sie ihn fragten, wie er denn heiße und woher er käme, klagte er immer noch: „Oktzin Oia! Oktzin Oia!“ Darum nannten ihn die Menschen den großen Helden Oktzinoia.

Seither vermeiden es die Menschen, Kiesel auf Heuschrecken zu werfen. Es wäre ja immer möglich, damit einen Zwergdrachen zu treffen. Ich zumindest habe noch nie einen Kiesel auf eine Heuschrecke geworfen, schon gar nicht auf eine schlafende. Du vielleicht?

Bernd Remsing
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