Stillstand

„Ich muss mal kurz telefonieren“, hast du gesagt, und wie spät ist es jetzt? Eine Dreiviertelstunde hab ich auf dich gewartet, was du unter „kurz“ verstehst, möchte ich mal wissen. – Das und zwei, drei andere Wut-Sätze hat mir mein Freund an unserem Jahrestag an den Kopf geworfen, als ich ihn 45 Minuten lang, im absolut angesagtesten und romantischsten Restaurant der Stadt, warten ließ. Der Grund unserer Auseinandersetzung war meine Mutter – wobei nicht wirklich sie als Person, sondern eher das „Problem“ meiner Mutter: Seit ihre Kinder, drei am Stück, nacheinander von zu Hause ausgezogen waren, um ihr Glück in diversen Städten rund um den Globus zu suchen, war bei ihr leider eine Art „Glucken-Sicherung“ geflogen, die wir nun in tränenreichen Telefonaten ausbaden mussten.

Irgendwie verstand ich meine Mutter ja auch ein bisschen: Da ziehst du die letzten 26 Jahre drei Kinder groß, widmest ihnen all deine Aufmerksamkeit und Liebe, und plötzlich, innerhalb von vier Jahren sind alle weg – dein Lebensinhalt verteilt sich sozusagen in alle Windrichtungen. Wir waren zwar nicht aus der Welt, aber alle Versuche, diese wunderbare Frau auf neue Hobbies aufmerksam zu machen, ihr einen interessanteren Arbeitsplatz – der ihren Talenten entsprach – einzureden, oder sie gar nochmals an die Uni zu schicken, um ihr Kunststudium abzuschließen, das sie für uns abgebrochen hatte, waren vergebens. Sie war und blieb eben eine „Vollblut-Mutter“ und nichts und niemand stellte sich zwischen sie und ihre Kids – nicht mal horrende Telefonrechnungen und Reisekosten.

Ich als Jüngste im Bunde war die Letzte, die das mütterliche Nest verließ, was ihr, in Anbetracht der Tatsachen und unter Berücksichtigung ihres ohnehin schon leicht angeschlagenen Mutterherzens, dann noch den Rest gab. Natürlich war das nicht meine Absicht gewesen, aber wie meine beiden älteren Geschwister musste auch ich meinen Platz in der Welt erst finden, und das war weit weg von der Provinz, wo die Jobaussichten im eigenen Metier besser oder sogar realistisch waren. Ich bekam nach Abschluss meines Studiums, das ich in Mindestzeit absolviert hatte, einen tollen Job als Marketingassistentin. Mein Leben verlief zu dieser Zeit in einer Art „High-Speed-Modus“, und ich hatte permanent das Gefühl, statt 100% für eine Sache, nur jeweils 25% für die vier absolut wichtigen Faktoren in meinem Leben geben zu können. Egal was ich auch tat, ich hatte immer das Gefühl, es würde nicht genug sein – ein metaphorisches Jahres-Abo, voll des schlechten Gewissens, war da vorprogrammiert. Diese vier wichtigen Faktoren waren mein Job, mein Freund, meine Mutter und mein kleiner Hund Billy, den ich aus einem rumänischen Tierheim „gerettet“ – das redete ich mir zumindest ein – hatte.

Meine Mutter hatte jedenfalls ein Gespür dafür, im unpassendsten Moment anzurufen: Wenn ich mich auf dem Klo befand, ein wichtiges Meeting hatte, mit Ben „beschäftigt…“ war oder grade mit vollen Händen an der Kasse stand. So geschah es auch am Abend unseres Jahrestages, an dem sie „nur kurz durchrufen wollte, um nachzusehen, ob es mir auch gut ging“. Als es dann wieder Zeit gewesen wäre, das Telefonat liebevoll, aber bestimmt zu beenden, begann wieder das große Wein-Konzert, was in letzter Zeit leider immer häufiger der Fall war. Sie war einsam und ehrlich gesagt brach mir das auch ein bisschen das Herz.

Meinem Jahrestag hingegen, kam das „Problem“ ordentlich in die Quere, und ich musste nun zusehen, wie ein romantischer und bis ins Detail perfekt geplanter Abend den Bach runter ging. Zu allem Überfluss musste ich mein kaltes Essen alleine aufessen, nachdem mein Freund bezahlt und wutentbrannt das Lokal verlassen hatte – tja, zumindest ging’s meiner Mutter nun besser.

Ben, mein Freund, nahm diese Anrufe eigentlich gelassen hin, aber heute war das eben nicht so gewesen. Als ich das Restaurant nach weiteren fünfzehn Minuten – etwas peinlich berührt – verließ und mit schlechtem Gewissen und hängenden Schultern die Straße hinuntertrotte, klingelte mein Handy erneut – Ben war am anderen Ende: „Sorry Süße, ich wollte dich nicht so anblaffen. Ich war eben enttäuscht, da es eigentlich UNSER Abend werden sollte, und da ruft deine Mutter schon wieder an. Grade heute musste das ja wohl nicht sein oder?“ Ich war über Bens Anruf sehr froh und schluchzte drauflos: „Du hast recht! Es tut mir so leid, dass ich dich da alleine warten ließ, aber du weißt ja, dass ich meine Mama nicht heulend ertrage. Sie macht sich eben solche Sorgen um mich, und in Wirklichkeit glaube ich ja, dass sie einfach nur einsam ist, jetzt, wo sie die Abende ganz alleine in dem großen Haus zubringen muss.“ Ben seufzte geräuschvoll ins Telefon, und ich bemerkte, wie ein kleiner Verständnis-Ballon bei ihm zu wachsen begann. Er bat mich, zu ihm zu kommen, um mit mir gemeinsam eine Lösung zu finden, und ich marschierte einigermaßen gelöst in Richtung der U-Bahn-Station.

Die nächste Bahn fuhr zur meiner Erleichterung direkt mit meinem Eintreffen am Bahnsteig ein, und ich setzte mich zufrieden auf einen freien Platz. Nach der vierten Station – es waren gesamt sechs bis zu Bens Wohnung – blieben wir jedoch abrupt stehen. Ich hoffte inständig, dass wir gleich weiterfahren würden, denn ehrlich gesagt fand ich die Idee, unter Tage gefangen zu sein, schon immer etwas gruselig. Mit mir warteten etwa zehn Personen im U-BahnWagon, doch als sich nach zehn Minuten immer noch nichts bewegte, wurden sämtliche Insassen unruhig. Einer der Fahrgäste – ein rundlicher Glatzkopf um die sechzig – betätigte das Nottelefon, um herauszufinden, „was da um Himmelswillen denn los sei!“, doch die Leitung war gänzlich tot. Auch unsere Mobiltelefone waren unter der Erde ohne Empfang, was die Situation nicht wirklich entschärfte. Ich versuchte möglichst „cool“ zu bleiben, um meine „Oh-mein-Gott-wir-werden-alle-sterben“-Gedanken zu zerstreuen und wippte nervös mit meinem Bein auf und ab.

Eigentlich hatte der ganze Tag schon besch…eiden angefangen: Am Morgen konnte ich meine Brieftasche nicht finden, was wiederum dazu führte, dass mir beide Busse, die ich für den Weg zur Arbeit benötigte, vor der Nase wegfuhren – ich kam zu spät. Tagsüber kleckerte ich mir während der Mittagspause ordentlich Ketchup auf die neue, weiße! Hose, und bis ich für unser romantisches Abendessen meine unfassbar störrischen Haare in eine auch nur einigermaßen ansehnliche Form gebracht hatte, vergingen fast eineinhalb Stunden, was mich – um noch rechtzeitig ins Restaurant zu kommen – auch noch ein Taxi gekostet hatte. Von dem „Jahrestags-Restaurant-Drama“ mal ganz abgesehen.

Nach fünf weiteren, bangen Minuten in dieser stickigen U-Bahn-Hölle begann sich meine anfängliche Angst in Wut umzuwandeln: Was, wenn Ben nun sauer auf mich werden würde, weil ich zu spät kam? Was, wenn meine Mutter neuerlich versuchte, mich zu erreichen und ich nicht wie gewohnt nach spätestens zehn Minuten zurückrief? Was, wenn ich den heutigen Abend und meine Erwartungen, die ich in ihn gesteckt hatte, nicht retten konnte? Fragen über Fragen gingen mir durch den Kopf und mein eigener Verständnis-Ballon wuchs stetig weiter: Verständnis für meine Mutter, Verständnis für Ben, Verständnis für diese besch…eidenen öffentlichen U-Bahnlinien, Verständnis für alles und jeden – ABER wer hatte verdammt nochmal Verständnis für mich? Nach etwa fünfunddreißig Minuten im absoluten Stillstand kochte ich vor Entrüstung nahezu über, und mir fiel es plötzlich wie Schuppen von den Augen, dass ich eigentlich permanent versucht hatte, es allen um mich herum recht zu machen, und mich dafür dann auch noch unterwürfig entschuldigte! Als ich mich gerade richtig in Rage gedacht hatte, machte es plötzlich einen Ruck und die U-Bahn setzte sich wieder in Bewegung. Über die Lautsprecherdurchsage plärrte eine kaum zu verstehende Stimme, dass man sich für das technische Gebrechen entschuldige und man sich als Entschädigung für die lange Wartezeit am nächsten Ticketschalter einen Gutschein für ein Tagesticket holen dürfe – „naja, besser als nichts“, dachte ich. Ich hüpfte bei Station 6 – Bens Station – aus dem Wagon und war heilfroh, mich endlich auf die öffentliche Toilette begeben zu können. Trotz meiner Verspätung schlug ich ein eher langsames Tempo ein, ich wollte mich an diesem Tag einfach nicht mehr stressen oder aufregen müssen.

Auf halber Strecke zu Bens Wohnung beschloss ich, kehrtzumachen und in meine eigene Wohnung zurückzufahren. Ich hatte genug: genug zugehört, genug entschuldigt, genug gehofft und gehetzt. Mir reichte es!

Zu Hause angekommen wartete Ben bereits besorgt vor meiner Tür, da sich mein verdammtes Telefon auch nach meiner unterirdischen Wiederauferstehung nicht wieder in mein Netz eingewählt hatte. Ich war offenbar für eine ganze Stunde nicht erreichbar gewesen. Als er meinen Gesichtsausdruck und die Tränen in meinen Augen – die mir während des Heimwegs gekommen waren, weil ich mir selbst unheimlich leid tat – sah, nahm er mich einfach in den Arm, und wir gingen schweigend in meine Wohnung. Wir setzten uns auf die Couch und sahen uns lange an: er, weil er herausfinden wollte, was passiert war, und ich, weil ich einfach keine Lust mehr hatte, mich zu erklären. Als Ben nach einigen Minuten aus der Küche mit zwei Gläsern Wein zurückkehrte – Wein hatte ich zu dieser Zeit meines Lebens immer zu Hause – fasste ich mir ein Herz und redete mir alles von der Seele:

„Ich habe es so satt, immer die gehetzte, liebenswürdige, alles verstehende Tochter oder Freundin zu sein. Ich fühle mich mit meinen Bedürfnissen nicht mehr ernst genommen, aber dafür gebe ich weder dir noch meiner Mutter die Schuld, ich habe mich selber total vergessen.“

Als mir die ersten Tränen die Wangen hinunterkullerten, sprang Billy auf meinen Schoß und begann, meine Hand abzulecken. Ich streichelte ihm kurz über sein lockiges Pudel-Mischlings-Fell und setzte fort: „Die Rolle, in die ich das letzte Jahr über geschlüpft bin, zehrt mich aus. Einerseits möchte ich es dir recht machen, meine Mutter nicht vernachlässigen, meinen Job zu 100% erledigen und vielleicht sogar Karriere dabei machen, aber alles, was übrig bleibt ist, dass ich mich permanent schlecht fühle und glaube, es wiedermal irgendwem nicht recht zu machen. Ich habe immerzu geglaubt, alle anderen müssten aufgrund meiner Unzulänglichkeiten mehr und mehr Verständnis für mich aufbringen. Meine Wahrheit ist aber, dass ich nicht bemerkt habe, wie mein eigener Verständnis-Ballon – zuständig für alle Sorgen und Probleme um mich herum – mich völlig eingenommen hat, über mich hinausgewachsen und über die Grenzen meiner eigenen Persönlichkeit mutiert ist. Ich fühle mich von meinem Umfeld nicht mehr verstanden oder unterstützt. Diese vierzig Minuten in einer stehenden U-Bahn – im Stillstand – haben mich seit Monaten erstmals dazu gezwungen, tatsächlich stillzustehen und meine Gedanken zu ordnen – ich hatte das Gefühl, nach einer Ohnmacht zu mir zu kommen.“

Je mehr ich über meine Gefühle sprach und diesen den Raum gab, sich zu entfalten, desto kleiner wurde mein – anfangs prallgefüllter – Verständnis-Ballon. Ich redete fast zwei Stunden ohne Unterlass und Ben hörte mir zu – ohne mich zu unterbrechen oder sich abzuwenden.

Als ich mit meinen Ausführungen fertig war, sprachen wir noch bis in die frühen Morgenstunden über uns, meine Mutter, unsere Jobs – einfach alles, was ihn und mich beschäftigte. So hatte ich ihn auch kennen- und liebengelernt, bis ich mich – verblendet durch meinen eigenen Perfektionismus – immer weiter in die Rolle dieses ferngesteuerten und abgehetzten „Persönchens“ gepresst hatte.

Rückblickend bin ich sehr froh, dass die Geschehnisse dieses Tages mein Ventil geöffnet hatten und den Verständnis-Ballon wieder schrumpfen ließen. Wenn ich seither morgens in den Spiegel schaue, erkenne ich mich jeden Tag wieder ein bisschen besser.

Verena Tretter

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