Vier Aventiuren

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Ich biege noch einmal bei der Fiktion ein und überlege die Leseerfahrung von Roman. Da er aus Deutschland stammt, sind seine Vorbilder wahrscheinlich Kafka und Hesse. Er ist aufgeschlossen für die Weltliteratur, jedoch kein Vielleser, Gott bewahre. Roman ist glücklich, wenn er von einem Buch gefesselt  und bei Bedarf unterhalten wird. Roman liebt dicke Bücher, die ihm ein Gefühl der Geborgenheit vermitteln. Während ich sehe, dass am Nebentisch zwei Espressi getrunken werden, ich könnte mir vielleicht noch eine Geschichte über diese Leute ausdenken, aber ich bin ehrlich gesagt froh, keine weitere schreiben zu müssen, denn eine reicht. Alles ist Übung, und für die Schriftstellerei braucht man wahrscheinlich einen langen Atem. Ich habe Bedenken, ob das Erfinden von Figuren auf Dauer gelingen wird. Und dann wäre da noch meine Abneigung gegen Abenteuergeschichten. Das einzig wahre Abenteuer ist doch – mit Verlaub gesagt – der Alltag.

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Ich erinnerte mich an Menschen, die ich sah und die blöde aussahen, beispielsweise an den Menschen, der einen Menschen mit einem Taschenmesser aß. Er erinnert sich daran, dass vieles blöde aussieht, was tagtäglich, jahrjährlich getan wird. Was von den Reisen übrigblieb. Ein Blick über die Gracht in Holland, ein Blick über eine Brücke in Stockholm. In Erinnerung geblieben ist mir das Öffnen von Karten auf Motorhauben. In Erinnerung geblieben ist mir das Aufbrauchen des Reiseproviants. Das Grün der Wälder – nur sehe ich darin auch keine Geschichte. Ich erinnere mich daran, dass das ganze Leben aus Nebensächlichkeiten besteht und dass sie als Bilder mehr oder weniger fest in deinem Gedächtnis gespeichert sind. Wieder einen Eiskaffee trinken. Und zwischenzeitlich wieder auf Roman zurückkommen. Und ich gebrauche noch ein Wort Wolfs: Horror vor dem Vergessen.

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Ich sehe Roman an meinem Nebentisch mit einer Frau sprechen. Roman trägt eine Brille mit dickem schwarzen Rand, er hat graue Haare und trägt zudem einen blauen Pullover. Er unterhält sich mit einer Frau, die sich etwas in einem Buch angestrichen hat.

Romans Gespräche sind irrelevant und außerdem möchte der Erzähler nicht so genau hinhören – es langweilt ihn zu sehr. Ich als Erzähler habe in einem anderen Café Platz genommen. Stellen Sie sich jetzt einmal das Unterschiedlichste vor, über Roman, und versuchen Sie, mit diesen Vorstellungen ein Buch zu füllen, das wäre meine Definition von Schriftsteller.

Ihm ist es zur Zeit noch nicht wichtig, ob sein Schreiben gut oder mittelmäßig ist. Ihn interessiert einzig, die Bezeichnung Schriftsteller für sich zu beanspruchen. Es liegt nun wieder in der Hand des Erzählers, den Text neuerlich ein Stück weit voranzubringen. Mir fällt ein, dass literarische Versuche über Depressionen meist kein Happy End nehmen, man nehme nur Sylvia Plath “Die Glasglocke“ als Beispiel. So wie ich angesichts meiner ausgetrunkenen Kaffeetasse schon wieder ganz perplex bin, ob es sich lohnt, eine fiktive Geschichte weiterzuschreiben, der geneigte Leser möge entscheiden.

Zum Deutschen möchte ich so viel sagen, dass das Imperfekt die Erzählzeit schlechthin ist. Das Tempus ist das größte Statement des Schriftstellers. Die drei Möglichkeiten stark/schwach/gemischt lassen sich dadurch umgehen, dass die starken Verben durch eine schwache Tempusbildung ersetzt werden können und das in 90% der Fälle mühelos verstanden werden kann. Die Bezeichnung unregelmäßige Verben ist nicht präzise (man vergleiche springe/sprang/gesprungen mit singe/sang/gesungen). Die starke, also ablautende Imperfektbildung ist allen Germanen mit Ausnahme der Afrikaaner zu Eigen.

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Über die vielen Nebensächlichkeiten sprechen. Mir ist nicht wichtig, ob Roman zu Mittag beim Asiaten ein Sushi-Set mittel bestellt hat (oder auch nicht). Auch andere Kleinigkeiten entgehen mir, obwohl gerade ein kriminalistisches Auge darin das Wichtigste sehen könnte: Welches war die Mordwaffe, wie sah der Fluchtwagen aus etc. Ich persönlich bin jemand, der solche Schilderungen gerne überliest. Stattdessen unterstreiche ich mir lieber gelungene Satzkonstruktionen und lerne sie auswendig. Ich bin übrigens wieder in meinem Stammcafé und sehe herüber zu den anderen Tischen. Interessante Begegnungen hat es heute nicht gegeben, wahrscheinlich müsste ich mich erneut mit Roman verabreden. Er war gestern im Museum und im Kino. Das hilft ihm – so sagt er – eine Katharsis zu erreichen. Er betont, dass es sich um Bildträger und nicht um Bilder handelt. Das Bild an sich ist ephemer und flüchtig wie Musik. Ich werde auf Roman wieder zurückkommen, sobald er mir einen Brief hinterlegt hat. Er braucht wahrscheinlich auch wieder Ruhe. Unterdessen kann ich den Raum des Textes tatsächlich mit Nebensächlichkeiten füllen. Ein Nachbar im Café telefoniert mit einem Smartphone, das in einer Kuhfleckenschale steckt. Ich kann schreiben, dass an einem anderen Tisch ein Kind mit einem gelben Auto spielt und gleichzeitig von seiner Mutter ein gelbes Auto in einer Werbeanzeige aus einem Magazin gezeigt bekommt. Nebensächlich ist weiterhin der Fakt, dass ich beim Schreiben eine graue Weste trage. Auch der Salzstreuer neben meinem Heft ist nebensächlich.

“Aber in Wahrheit kann nichts die immer häufigere Wiederkehr jener Augenblicke verhindern, in denen ihre absolute Einsamkeit, das Gefühl einer universellen Leere und die Ahnung, dass ihre Existenz auf ein schmerzhaftes und endgültiges Desaster zuläuft, Sie in einen Zustand echten Leidens stürzen“. Michel Houellebecq

Michael Bauer

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