Ballonfahrer

„Verständnisvoll“ ist einer dieser unfassbaren Begriffe… Ein Wort, das nicht klar darstellt, wie viele Opfer man tatsächlich dafür erbringen, oder wie viel Groll man dafür hinunterschlucken muss, um eben für sich selbst als verständnisvoll zu gelten. Wie sehr man sich innerlich auch verbiegt, um Verständnis zu zeigen, das Wort selbst verändert sich nicht. Selbst Adjektive wie: „sagenhaft“ oder „unsagbar“, die man davorstellt, um die Intension zu betonen, bringen den tatsächlichen Sachverhalt oft nicht zum Vorschein. Manchmal ist es eine Kleinigkeit und mit einer einfachen Entschuldigung ist wieder alles im Lot – so als würde man in einer vollgestopften U-Bahn angerempelt, woraufhin der Rempler sich entschuldigt und man selbst gar nicht auf die Idee gekommen wäre, mit der Erwiderung: „nichts passiert“ Verständnis gezeigt zu haben.
Doch in gewissen Angelegenheiten dehnt und wächst dieser Verständnisbegriff auf Ballongröße heran. Nicht auf Luftballongröße, sondern auf die eines Heißluftballons, der schnell mal einen Korb mit Elefanten über die Alpen schleppen muss. Das sind genauer gesagt solche Situationen, die einen zutiefst verletzt haben, man aber trotz allem versucht, die Perspektive oder noch präziser, das Motiv des Gegenübers nachzuvollziehen. Wenn man dann dahinterkommt, dass man im Zusammenspiel der Ereignisse eigentlich nur ein Kollateralschaden war, ist es eigentlich noch einigermaßen verzeihbar. Wenn so eine Verletzung aber aus reiner Nachlässigkeit, Ignoranz oder gar Böswilligkeit passiert, stürzen plötzlich ganze Konstrukte diverser Weltanschauungen – die Freundschaft betreffend – in sich zusammen und der metaphorische Verständnis-Ballon wächst in schmerzhafte Dimensionen.

Leider habe ich in meinem Leben schon einige dieser Verständnis-Ballons wachsen lassen, um Konflikte mit Menschen, die mir lieb und teuer sind, nicht zu eskalieren. Genau diese Menschen, die einem so nahestehen, dass man einen mietfreien Fixplatz in seinem Herzen für sie reserviert hat, verletzen einen dann am härtesten, und selten aber doch hält der Ballon die Spannung nicht mehr aus und explodiert, einem Weltuntergangsszenario nahe, in tausend blutende Stücke. Katastrophal ist für dieses Szenario nur ein Hilfsausdruck, weil ringsum sämtliches emotionale Leben ausgelöscht wird. Die weltliche Übersetzung dieses Infernos,nennt man auch „in einen Blutrausch verfallen“ oder wenn es einem schlicht „die Sicherungen raushaut“.

Nun kann man sich unter einem Blutrausch so einiges vorstellen, doch Anna, die vor kurzem exakt so einen am eigenen Leib erlebte – es waren tatsächlich fast alle Sicherungen in ihrem Hirn geflogen – beschrieb ihn in einer späteren Erzählung wie folgt: „Als ich an diesem Abend nichtsahnend in mein Stammlokal ging, um mir nach der unfreiwilligen Trennung von meinem Exfreund in aller – passiv-aggressiven – Seelenruhe einen in die Rübe zu kippen, hätte ich niemals gedacht, dass ich an diesem Abend auch meine damals beste Freundin, zusammen mit dem Ex, verabschieden würde. Ich saß an der Bar und wartete auf Betty, weil meine erste Wahl, Christina, seit einigen Tagen nicht mehr erreichbar war. Etwas enttäuscht über Christinas Verhalten – da ich sie als offiziell ernannte „beste Freundin“ nach der Trennung dringend als Anker gebraucht hätte – war ich Betty sehr dankbar für ihren Solidaritätsakt, sich mit mir an diesem Abend zu betrinken.
Nach zwei Gläsern Wein wurde das Gesprächsthema immer brisanter, denn Betty hatte sich schlichtweg verplappert und nach meiner selbstmitleidigen Anklage, Christina sei seit einigen Tagen nicht mehr erreichbar, emsig geantwortet, dass diese mit T…horsten um die Häuser ziehen würde. Als ich sie ungläubig ansah, da ich meinte, sie nach ihrer „T-Pause“ entlarvt zu haben, und sie dabei auch noch beschämt errötete, war meine Vermutung also richtig: Sie traf sich mit Tim, meinem Tim, meinem „Wir-sollten-künftig-getrennte-Wege-gehen-Tim“, schlicht, meinem EX! Betty sah mich aus Hundeaugen an und sagte: „Bitte verrate mich nicht, ich habe geschworen, dir nichts davon zu sagen!“ Ich blickte Betty weiter an, nahm ihre Hand und begann leise draufloszuheulen, zum Glück befanden wir uns mittlerweile an einem versteckten Tischchen im hinteren Eck des Gastraumes, so konnte man mich zumindest nicht gleich auf den ersten Blick bei meinem Gefühlsausbruch erkennen.

Der Gefühlscocktail, der sich nun in mir zusammenbraute, bestand aus: 10 cl Trauer, 5 cl Empörung, 4 cl Ärger über meine eigene Dummheit, einem Dash Machtlosigkeit, einer gehörigen Portion Wut als Filler und einer hübschen Garnitur aus zerbrochenen Herzstückchen – feinsäuberlich aufgespießt und drapiert, versteht sich. Ob ich wollte oder nicht, ich trank das giftige Gebräu auf ex und was dann folgte, war ein Gefühls-Kater, der sich über Wochen hinweg bemerkbar machte. Ich konnte der armen Betty dann noch entlocken, dass die Geschichte zwischen ihr und Tim wohl schon während unserer Beziehung begonnen hatte, was mir dann emotional tatsächlich noch den Rest gab. Der Abend mit Betty war natürlich nach weiteren fünfzehn Minuten vorbei und ich schnappte mir das nächste Taxi nach Hause, wo ich sämtliche Hemmungen fallen ließ und ein Heulkonzert der Sonderklasse anstimmte.

Nach einigen Tagen des Grübelns war für mich klar: Der Abschied von meinem Exfreund war nicht der einzige in dieser Phase meines Lebens. Auch meine beste und langjährige Freundin hatte sich mit ihrem Handeln aus meiner Welt und meinem Herzen nicht nur verabschiedet, sondern geradewegs hinauskatapultiert. Nun war mir auch klar, weshalb sie sich immer weiter zurückgezogen hatte und zum Ende hin auch kaum mehr erreichbar war. Nun wurde ich also doppelt sitzengelassen, dachte ich – „großartig, einfach nur großartig.“

Nach etwa sechs Wochen, in denen ich, von innerlichen Höhen und Tiefen gebeutelt, meinen Alltag bestritt, konnte ich meine sogenannte Freundin, die von meinem Wissen über ihren Verrat noch nicht informiert war, zu einem Treffen überreden. Mir war in erster Linie wichtig, ihr meine Meinung ins Gesicht zu sagen, um meinen Gefühlen damit ein Ventil zu verschaffen. Als ich sie an diesem Abend traf, machte ich keinen Hehl aus meiner Enttäuschung und konfrontierte sie umgehend mit den Infos, die Betty mir mit alkoholgelockerter Zunge verraten hatte – allerdings ließ ich Betty wie versprochen außen vor. Christina versuchte im ersten Moment, die Flucht nach vorne anzutreten und war empört darüber, „dass ich sie so in die Falle gelockt hatte“, da ich diesen Abend im Vorfeld jedoch tatsächlich akribisch – fast schon wie besessen – geplant hatte, fiel es mir relativ leicht, im entscheidenden Moment die Ruhe zu bewahren.

Irgendwann begann Christina zu weinen, da Tim sie offenbar eiskalt hatte stehen lassen. Doch um ehrlich zu sein, interessierte mich das nicht im Geringsten. Ich rief den Kellner, bezahlte meine Rechnung und ließ meine beste Ex-Freundin alleine im Lokal zurück. Sobald ich die Türe des Lokals geschlossen hatte, atmete ich tief ein, brachte meine hängenden „Trauerschultern“ der letzten Wochen wieder in Position und ging erhobenen Hauptes zurück in mein neues Leben.

Verena Tretter

www.verdichtet.at | Kategorie: verliebt verlobt verboten | Inventarnummer: 16061