Die grotesken Erlebnisse des Anus Jung

Es war die Liebe zu harter australischer Rockmusik, die den alten Jung dazu bewegte, dem Standesbeamten des steirischen Dorfes Gratwein mitzuteilen: “Fredl, der Bub soll Angus heißen!”
Alfred Kriechmann, so hieß der Beamte, erschrak und fragte: “Du möchtest, dass dein Sohn wie eine Rinderrasse heißt? Bist du verrückt geworden, Franz?”
Doch Franz Jung war dies keineswegs. Wissend blickte er auf den Aktenordner mit der Aufschrift ‘Geistige Nahrung’, der im Regal stand, und nachdem Kriechmann zwei Wassergläser mit Geistesnahrung gefüllt hatte, klärte Jung ihn auf: “Nein, Fredl, es geht nicht um Kühe, sondern um Rockmusik.”
Mit bedeutungsschwerem Blick deutete er auf den Schriftzug auf seinem schwarzen Shirt: ‘Black in Back’ stand dort. Er hatte das Textil einem Händler abgekauft, der auf dem letzten Gratweiner Kirtag einen Stand mit Devotionalien gehabt hatte, und der, wie er Franz stolz erzählt hatte, einst der wertvollste Reserveverteidiger der tschetschenischen Nationalmannschaft gewesen war.

“Australische Rockmusik”, fügte Jung erklärend hinzu.
Da verstand der Standesbeamte und bereitete die entsprechenden Papiere vor, und er vergaß auch nicht fleißig nachzuschenken, denn Angelegenheiten von einiger Wichtigkeit werden in der Steiermark nur höchst selten nüchtern behandelt.
Hätte Franz Jung dem auf dem Gebiet der harten Rockmusik unbeleckten Alfred Kriechmann bezüglich dessen Rinderrassentheorie recht gegeben, so hätte dieser tatsächlich den Namen Angus eingetragen. Da er jedoch an jenem Tag der erste Bittsteller in der Kanzlei des Beamten war und dieser logischerweise wenig geistige Nahrung zu sich hatte nehmen können, intellektuell somit noch nicht warm geworden war, verschrieb sich Alfred und dem jungen Jung wurde der Name Anus gegeben.

Auf dem Hof der Familie Jung fiel dieser Umstand niemandem auf. Das Dokument wurde zu den anderen in eine Mappe gelegt und diese in einer Truhe auf dem Dachboden verwahrt. Da die Jungs seit Generationen große Gegner der katholischen Kirche waren und Anus selbstverständlich nicht taufen ließen, lebte dieser die ersten sechs Jahre seines Lebens quasi unerkannt unter falschem Namen auf seines Vaters Grund und Boden.
Für alle war er Angus, der Sohn des reichsten Bauern in der Umgebung. Es war jedem Gratweiner klar, dass der Junge eines Tages das Gehöft seiner Familie übernehmen und, sollten die Rahmenbedingungen günstig sein, sogar vergrößern würde.

Als er im Alter von fünf Jahren seinen ersten Reisepass erhielt, stand tatsächlich Anus darin.
Er eilte zu seinem Vater und sagte: “Papa, sie haben ein g vergessen!”
Franz Jung starrte auf das Dokument und fühlte plötzlich Wärme in sich hochsteigen. Er lief zum Gemeindeamt, doch Alfred Kriechmann war in der Zwischenzeit in Pension gegangen und nach Pattaya verzogen, wie der enervierte Vater erfuhr.
Der neuen Standesbeamtin, Fräulein Magister Beate Schnepf, stand der Sinn nicht nach ‘Geistiger Nahrung’. Hinter ihr stand ein Ordner im Regal, der die Aufschrift ‘Veganes Tagebuch’ trug.
In Franz Jung keimte der Verdacht, dass er mit Fräulein Schnepf nicht so gut auskommen würde wie mit Fredl Kriechmann, aber er beschloss trotzdem, das Problem zur Sprache zu bringen.

Beate Schnepf suchte den entsprechenden Akt heraus, las ihn und brach in schallendes Gelächter aus.
“Wissen sie, was Anus bedeutet, Herr Jung?”, fragte sie, noch immer lachend.
“Ja, natürlich weiß ich das”, log Franz.
“Wo ist dann das Problem?”, fuhr das Fräulein fort. “Seien Sie doch froh, dass Ihr Sohn einen derart aus dem Leben gegriffenen Vornamen hat.”
Jung sah sie fragend an.
Da erkannte sie, dass er keinen blassen Schimmer von der Bedeutung des Wortes hatte.
“Es ist schön zu sehen, dass es tatsächlich noch Eltern gibt, die ihren einzigen Sohn nach etwas benennen, das jeder Mensch hat. Sehen sie: Sie haben auch einen.” Wieder begann sie zu lachen. “Stellen Sie sich vor, Herr Jung: Sie haben gleich zwei davon! Den, den Sie sowieso haben, und Ihren Sohn.” Sie wischte sich Tränen aus den Augen. “Ich zum Beispiel überlege, das kleine Mädchen, das ich eines Tages mit meiner Lebenspartnerin adoptieren werde, Vegana zu nennen.”
Diese Information war zu viel für Franz Jung.
‘Zwei Frauen, die ein Kind aus dem Waisenhaus holen und ihm einen derart ordinären Namen verpassen wollen!’, dachte er sich.

“Bitte glauben Sie mir, Herr Jung”, sagte Fräulein Schnepf, erhob sich und reichte ihm die Hand, “es hat schon alles seine Richtigkeit mit dem Vornamen Ihres Sohnes. Seien Sie froh, dass Sie ihm einen so sonnigen Namen gegeben haben.”
“Sonnig?”, fragte Jung und schüttelte ihre Hand. “Was meinen Sie mit sonnig?”
“Nun, Ihr Sohn wird sich mit Sicherheit viel öfter an den warmen Strahlen der Sonne erfreuen als Ihr eigener Anus.”
Jung verließ das Gemeindeamt in der Überzeugung, dass der Terminus Anus wohl die griechische Bezeichnung für einen Teil des menschlichen Körpers sein musste, wie beispielsweise für den Bauchnabel, und er seinem Sohn einen guten Dienst erwiesen hatte.

Brüllend wie ein bei lebendigem Leib am Spieß gebratener Ötscherbär stürzte der junge Jung ein Jahr später auf seinen Vater zu und schlug ihm mit dem Teppichklopfer der Familie, mit welchem er selbst bei verschiedenen Gelegenheiten hatte Bekanntschaft machen dürfen, jedoch ohne dass sich daraus eine Freundschaft oder gar echte Zuneigung entwickelt hatte, zweimal so fest er konnte auf den Allerwertesten.
“Warum hast du das gemacht?”, brüllte er.
“Was gemacht, Bub?”
“In der Schule haben sie mir erklärt, was ein Anus ist!”
“Und?”, gab der Alte verständnislos zurück. “Jeder hat doch so etwas!”

Daraufhin lief der Junge ins Haus und weinte sich bei seiner Mutter aus. Diese holte die Dokumentenmappe vom Dachboden und ein Wörterbuch aus dem Bücherregal im Keller des Hauses.
Da sie im Umgang mit Büchern unerfahren war, dauerte es eine Weile, bis sie herausfand, was Anus bedeutete.
“Franz!” Nun brüllte die Mutter. “Du kommst jetzt her, und zwar sofort!”
Dreißig Sekunden später stand er vor ihr.
“Bub, du schleichst dich sofort nach oben in dein Zimmer! Dein Herr Vater und ich haben etwas zu besprechen.”
Anus ging nach oben.
“Was bildest du dir eigentlich ein?”, schrie Fani Jung, die Mutter von Anus. “Nur weil du süchtig nach Backen bist, nennst du unseren Sohn Anus? Ja, soll denn das ganze Dorf erfahren”, ihre Stimme begann sich zu überschlagen, “was ich mir jede Nacht von dir gefallen lassen muss? Du bringst das wieder in Ordnung, Franz, sonst hat es sich für dich bei mir ausgeanust!”

Allein, die Sache war nicht mehr in Ordnung zu bringen.
Da in den ersten Lebensjahren des vermeintlichen Angus Jung niemand gegen dessen tatsächlichen Vornamen Protest eingelegt hatte, war Verjährung eingetreten und die einzige Möglichkeit wäre gewesen, dem Jungen einen anderen Namen zu geben.
Dies zu tun hätte aber eine Zuwiderhandlung gegen den ursteirischen Brauch bedeutet, nach welchem der Vater den Namen des Sohnes aussucht und der Sohn ihn zu behalten hat. Nennt ein Vater seinen Sohn beispielsweise stets Buakrot, so wird im Reisepass des Jungen unweigerlich Bubkröte zu lesen sein.
Die Eltern von Anus einigten sich mit den Lehrern der Gratweiner Volksschule und den Eltern der Klassenkameraden ihres Sohnes darauf, dass dieser von allen Ani gerufen werden sollte.

Da die Familie Jung gut im Gratweiner Dorfleben integriert war, kam Anus viel herum. Er wurde auf andere Höfe mitgenommen und lernte nach und nach die wichtigen Menschen des Dorfes kennen, wie den Arzt, den örtlichen Apotheker und den Betreiber des Gemeindebordells.
Diese Honoratioren wussten zwar, wie Ani wirklich hieß, doch hielten sie sich strikt an die offizielle Sprachregelung.
In der Volksschule und danach in der Hauptschule wurde Anus zwar oft auf dem Pausenhof gehänselt, doch mit der Zeit bildete er eine Resistenz gegen die Verächtlichmachungen seines Vornamens aus.
Nach dem Abschluss der Hauptschule arbeitete Anus auf dem Hof seiner Eltern. Er führte das Leben eines gewöhnlichen Gratweiner Jugendlichen. Er traf sich mit Freunden, trank erst heimlich, dann öffentlich Bier, rauchte Zigaretten und wurde von seinem Vater dafür geohrfeigt, wilderte zwei schöne Rehböcke und einen Habicht, wofür er vom Revierpächter übers Knie gelegt wurde, und macht eine erste Erfahrung bezüglich einer Stellung.

Das Bundesheer war der Ansicht, keinesfalls auf die Dienste des Anus Jung verzichten zu können, und berief ihn zur Musterung ein.
In der Grazer Kaserne, in welcher diese vorgenommen wurde, saßen alle präsumtiven Grundwehrdiener in einem großen Raum und mussten, sobald sie aufgerufen wurden, “Hier!” rufen.
“Anus Ju- Moment mal!”, sagte der Wachtmeister. “Heißen Sie tatsächlich Anus?”
“Sie können mich Ani nennen. Alle nennen mich so”, sagte Jung.
“Das freut mich!”, bellte der Unteroffizier. “Und das ist mir völlig egal!”
Anus begann zu lachen. Der Schnauzbart des Soldaten erinnerte ihn an den von Emil, der der dümmste Knecht auf dem Hof war.
“Was gibt es da zu lachen, Schütze Anus vom letzten Glied?”, rief der Verlachte, als ein Leutnant den Raum betrat und die jungen Männer anwies, ihm zu den medizinischen Untersuchungen zu folgen.

Einer hübschen Krankenschwester fiel die Aufgabe zu, zu verifizieren, dass der Hodensack des Anus Jung gemäß der natürlichen Ordnung gefüllt war, als diesem eine mächtige Erektion schwoll.
Routiniert griff die Schwester nach einem Glas mit eiskaltem Wasser und sagte: “Mach dir keine Sorgen, Anus.” Sie las seinen Namen ein zweites Mal auf dem Papier, das er ihr gegeben hatte, und begann zu kichern. “Das passiert mir oft. Nimm das Glas und geh damit hinter den Vorhang. Dort kannst du dich beruhigen.”
“Das kann ich auch hier”, sagte er und erhob sich.
Er nahm das Glas, prostete der Krankenschwester zu und leerte es in einem Zug, während sein Penis in Richtung der auf einem Sessel sitzenden Frau ragte.
So etwas war der jungen Frau allerdings noch nie passiert. Sie starrte ihn aus vor Schreck geweiteten Augen und mit offenem Mund an, als der Leutnant den Untersuchungsraum betrat.
Sogleich sah er die geweiteten Augen und den offenen Mund, bloß fünf Zentimeter vom Penis entfernt.
“Fräulein Schlauch”, seufzte der Offizier, “ich verwarne Sie hiermit ein weiteres Mal! Machen Sie das doch zu Hause!”
“Nein, Herr Leutnant!”, sagte sie schnell. “Das hier ist eine ganz andere Situation.”
“Das sagen Sie jedes Mal. Jung, Sie kommen mit!”
Anus wurde für untauglich befunden. ‘Zu erwartende Konflikte wegen eigenwilliger Namensgebung vonseiten der Erziehungsberechtigten des Wehrpflichtigen’, so lautete die in schönstem Soldatendeutsch abgefasste Begründung für Jungs Untauglichkeit.

Wieder auf dem Hof seiner Familie, wurde Anus von seinen Eltern zur Rede gestellt.
“Anus, wann bringst du endlich ein Mädchen mit nach Hause?”, fragte Fani Jung.
“Was soll ich mit so etwas anfangen?”, gab er zurück. Die Tatsache, dass seine Mutter ihn nicht Ani genannt hatte, machte ihm den Ernst der Situation klar.
“Na, was man mit einer Frau eben macht!”, rief sein Vater.
“Kochen?”, fragte Anus.
Fani Jung seufze und sagte zu ihrem Mann: “Nimm genug Geld mit, Franz. Vielleicht braucht der Bub zwei Stunden.”
“Komm, Bub, heute wirst du ein Mann!”, sagte Franz und zog seinen Sohn aus dem Haus.

In ‘Josefs Knallerbude’, dem Gratweiner Bordell, wurden Anus zwei Frauen vorgestellt. Dusica, eine Zwanzigjährige, und Edeltraud, ein Urgestein des horizontalen Gewerbes im Dorf, erfahrene vierundfünfzig Jahre alt.
Anus deutete schnell auf Dusica und die beiden setzten sich an einen Tisch. Der Besitzer des Etablissements brachte ihnen zwei kleine Flaschen billigen Sekt und die junge Frau füllte die Gläser. Sie stießen an und Dusica rückte dicht an Anus heran.
“Ich Dusica”, flüsterte sie in sein Ohr.
Er gab ihr die Hand und sagte: “Anus.”
Sofort rückte sie von ihm ab, sah ihn streng an und sagte “No! No Anus!”
Er sah sie erstaunt an.
“Anus”, wiederholte er und versuchte sie auf die Wange zu küssen.
“No!”, rief sie. “Anus no good!”
“Anus very good!”, protestierte er und sah, dass sich Edeltraud bereits die Hände rieb. Offensichtlich stand ihr der Sinn danach, dem Sohn ihres Stammkunden Jung zu zeigen, was nur eine erfahrene Gunstgewerblerin wissen und beherrschen kann.
Da schaltete sich der Bordellier ein.
Er klärte das Missverständnis auf und als Anus nach einer Stunde grinsend zurückkam und von seinem Vater, der an der Bar gewartet hatte, die Bezahlung einer weiteren Stunde forderte, erhielt er eine Ohrfeige.

Als Anus sechsundzwanzig Jahre alt war, erfüllte er den Wunsch seiner Eltern und brachte eine Frau mit auf dem Hof.
Sie hieß Notburga Lunz und bald war sie sowohl in die Gemeinschaft auf dem Hof integriert als auch in die des Dorfes Gratwein. Übelmeinende Zungen setzten das Gerücht in die Welt, dass dafür lediglich eine Tatsache verantwortlich sein konnte: nämlich die, dass Notburga eine Inklination zur Promiskuität innewohnte und sie dieser oft und gerne nachgab.
Anus konnte nichts gegen das Verhalten seiner Freundin ausrichten, zumal ihm dämmerte, dass diese nach dem Tod seiner Mutter ohne Weiteres seine Stiefmutter werden konnte.
So kam es dann auch: Fani Jung starb an einer Lungenentzündung und nachdem sie auf dem paganen Friedhof Gratweins unter dem Schädel eines Ziegenbocks vergraben worden war, musste Anus Notburga mit ‘Mutter’ ansprechen. Von diesem Tag an sagte sie nie wieder Ani zu ihm.

Anus übernahm den Hof von seinem Vater, der sich mit Notburga in ein Ausgedingehaus zurückgezogen hatte.
Nachdem dieses von Anus warm abgetragen worden war, und nachdem er seinen Vater und Notburga aus Rache und gegen eine schöne Spende an die Kirche auf dem katholischen Friedhof begraben hatte, verkaufte Jung seinen Grundbesitz und verließ Gratwein.
Zu seinem Nachbarn soll er zum Abschied gesagt haben: “Ich fliege nach Pattaya. Dort habe ich etwas zu erledigen. Und dann”, bei den folgenden Worten soll sich seine Miene etwas aufgehellt haben, “ziehe ich nach Australien. In Sydney soll es eine Selbsthilfegruppe für Anguse geben, die unter Rechtschreibfehlern bei der Namensgebung zu leiden haben.”

Michael Timoschek

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