Fundstücke

Gestern Abend entdeckte ich auf dem Dachboden des Häuschens meiner Mutter eine Truhe, die mir irgendwie bekannt vorkam.
Ich hatte mich auf den Dachboden zurückgezogen, denn ich wollte vermeiden, dass meine werte Frau Mama mitbekam, in welchem Zustand ich mich um acht Uhr abends als achtunddreißigjähriger Mann befinde, wenn ich die Stunden zuvor, meist drei an der Zahl, mit meiner Lieblingsbeschäftigung verbracht habe.
Ziemlich angetrunken, wie ich eben war, öffnete ich das hölzerne Gebilde und wich vor Erstaunen zurück.

Heute, in nüchternem Zustand, halte ich meinen ersten Gedanken nach dem Aufmachen ‘Eine Schatztruhe!’ für überzogen. Als solche würde ich eher den hintersten Raum unseres Kellers bezeichnen, in welchem meine Vorräte an Bier und Spirituosen lagern und ihrer Konsumation durch mich harren – wobei ich mir natürlich im Klaren über meine luxuriöse Situation bin: Ich verfüge über eine begehbare Schatztruhe.

Ich öffnete also die Holzkiste und war erstaunt. Darin lagen Gegenstände, die ich vor vielen Jahren verwendet hatte.
Ich nahm ein großes Glas mit in Alkohol eingelegten Weichseln heraus, welches mein in allen Belangen umsichtiger Großvater mir geschenkt hatte. Ich erinnerte mich an seine Worte: “Michael”, hatte er gesagt und eine bedeutungsvolle Miene aufgesetzt, “iss die Weichseln und lass die Frauen den Schnaps trinken.”
Nun, es hat funktioniert. Die Weichseln brachten mir von meinem zehnten bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr große Freude, und dann lockerten sich die Mädchen bei meinem Schnaps auf. Danke, Opa! Prost!

Dann bemerkte ich eine seltsame Kappe in der Truhe, blau und mit einem schwarz-rot-goldenen Band verziert. Verdutzt blickte ich auf das Utensil und versuchte mich an dessen Verwendungszweck zu erinnern. Bald kam mir dieser in den Sinn: Der von Staub bedeckte Burschenhut war einst von mir gestohlen worden.
Ein Freund aus Jugendtagen hatte mich eines sehr fröhlichen und noch feuchteren Abends dazu überredet, ihn zum Haus seiner Schülerverbindung zu begleiten. Ich ging mit ihm dorthin, bekam das Käppchen und war plötzlich kein Österreicher mehr, sondern Deutscher. Kaum hatte ich es auf dem Kopf, war ich Germane. Setzte ich es ab, war ich wieder ein Steirer, also ein Österreicher von rustikaler Wesensart.
Ich stahl die Kappe und versuchte etliche Male, mich in einen Deutschen zu verwandeln, doch da kein anderer Kappenträger anwesend war, gelang mir dies einfach nicht. Stattdessen erntete ich bloß mitleidige und spöttische Blicke von den anderen Gästen in meiner Stammkneipe.

Des Weiteren fand ich ein Schienenstück und einen Waggon einer Modelleisenbahn.
‘Ach’, dachte ich, ‘einst wollte ich Lokführer werden, doch es hat nicht einmal zum Zugbegleiter gereicht!’
In diesem Augenblick, gestern, betrunken und allein auf dem Dachboden, wurde mir bewusst, wie glücklich mein Leben verlaufen wäre, hätte ich diesen Beruf ergriffen. Ich hätte eine schöne Mütze tragen dürfen, und mich insgeheim als Germane fühlen können, hin und wieder ein Gläschen mit den Lokführern oder Stammpassagieren geleert und wäre zwangsläufig immer in Bewegung gewesen.
‘Was ist stattdessen aus mir geworden?’, fragte ich mich und zerdrückte eine Träne.
‘Ein Schriftsteller, der sich mit dem Zug von einem Stammlokal ins nächste bringen lassen muss, weil er kein Auto hat und zu faul zum Laufen ist’, beantwortete ich meine Frage und seufzte.

Doch dann beschloss ich, einer plötzlichen Eingebung folgend, das Beste aus der Situation zu machen und meinen Jugendtraum wenigstens für ein paar Minuten in meinem Versteck wahr werden zu lassen, nachdem die bereits vergessene Fundgrube mit Utensilien aus meiner Jugend offen vor mir stand.
Ich nahm einen großen Schluck aus dem Glas mit den Weichseln und fühlte mich sogleich bereit, die Kappe, trotz meines mittlerweile langen Haupthaares, erneut aufzusetzen. Ich tat dies und –
Ich blieb zwar Österreicher, doch kam ich mir sogleich wie ein Schaffner vor.

Nur konsequent, gab ich dem Spielzeugwaggon einen Stoß und rief: “Dieser Zug fährt von der Steiermark nach Nirgendwo! Bitte alle die Fahrkarten vorweisen! Wer keine gültige hat, wird ohne Erbarmen -”
In diesem Augenblick ging das große Dachbodenlicht an und ich vernahm die schneidende Stimme meiner Mutter, die meinen Satz zu Ende brachte: “ein weiteres Mal mit Hausarrest belegt, denn mit knapp vierzig Jahren sollte man vernünftiger sein!”

Michael Timoschek

www.verdichtet.at | Kategorie: anno | Inventarnummer: 16058