Imres Vormittage

In jedem seiner großzügigen Wohnräume war über der Tür eine große Uhr angebracht. Auf rundem Weiß schlichte klare Ziffern in Schwarz, ein nervöser Sekundenzeiger, der pausenlos einem gemächlichen Minutenzeiger hinterherjagte, um ihn und den behäbigen Stundenanzeiger immer und immer wieder einzuholen.
Seit er vor einem Jahr das Gebäude einer ehemaligen Volksschule in einer kleinen Ortschaft erworben hatte, war die Zeit omnipräsent für Imre.
Der Schulbetrieb war seit Jahren eingestellt, die Anzahl der Kinder über die Jahrzehnte überschaubar und das Schulgebäude funktionslos geworden, schließlich zur Vermietung angeboten gewesen.

Die Ereignisse hatten sich geradezu überschlagen, als der Bankbeamte am Ende seiner beruflichen Laufbahn vor einem Jahr pensioniert worden war. Seine Ehe hatte nach vielen Jahren ein abruptes Ende gefunden, sich seiner indessen geballten Präsenz im gemeinsamen Haushalt als nicht gewachsen erwiesen, und seine nunmehrige Exfrau sich außerhäuslich amourös orientiert, was ihn zum Auszug aus dem gemeinsamen Domizil bewegt hatte.

Als ob das nicht schon genug wäre, nein, nicht nur das erwähnte Ungemach, sondern eben auch die schwarzen Zeiger auf weißen Ziffernblättern brachten eine Neuorientierung mit sich, vor allem, weil deren Position immer noch ein durchdringendes Läuten der Schulglocke auslöste.
Am ersten Morgen in seinem neuen Heim weckte ihn die Klingel um 7 Uhr 50. Das schrille Geräusch ließ ihn mit Herzrasen hochschrecken und tat ihm in den Ohren weh. Er drückte sich den Polster auf den Kopf, drehte sich im Bett wieder um und versuchte, nochmals einzuschlafen, schließlich war er im Ruhestand und hatte keine Termine. Doch das unangenehm Grelle klang noch lange nach. Er nahm sich vor, das störende Schellen auf Dauer abzustellen, was ihm aber nicht gelang, obwohl er an diesem Tag einiges an den Einstellungen der Elektrik ausprobierte. Wenn er die Sicherungen ganz herausschraubte, dann blieben die Uhren natürlich stehen, und das behagte ihm auch nicht.

Einer der Gründe für die Konflikte mit seiner Frau war, dass er seit seiner Pensionierung täglich bis 9 Uhr geschlafen hatte. Du lässt dich gehen, hatte sie vorwurfsvoll zu ihm gesagt, als er wieder einmal am helllichten Vormittag im Pyjama in der Küche sitzend seinen Frühstückskaffee getrunken hatte.
Vermutlich hatte sie recht damit. So plötzlich erstens auf sich allein gestellt, weiters der Arbeitswelt und der Gesellschaft seiner Kollegen entrissen und des bisherigen häuslichen Umfelds entwöhnt, musste Imre nun schauen, wo er blieb.
So beschloss er bereits am nächsten Tag nach dem Frühstück, zeitgleich mit dem Pausenklingeln um 8 Uhr 50, klar Schiff zu machen, sein Leben wieder in geregelte, anständige Bahnen zu lenken, möglicherweise würde das Geklingel ja so etwas wie ein Reglement in sein Leben bringen, Strukturen schaffen, denen er nur zu folgen brauchte, ohne selbst disziplinär gegen seinen inneren Schweinehund vorgehen zu müssen. Angewandte Pädagogik – nicht verwunderlich an so einem Ort.

Um 7 Uhr 50 schwang er sich also jetzt täglich aus dem Bett, die folgenden zehn Minuten verbrachte er im Bad und bereits als die Glocke die erste Schulstunde einläutete, war er dabei, sich Frühstück zu machen und danach kümmerte er sich um den Haushalt, der immer noch aus dem Ausräumen von Umzugskartons, Teppichausrollen und Möbelrücken bestand. Er wunderte sich beinahe – in fünfzig Minuten bringt man so einiges weiter.
Das Einläuten der Pause nutzte er dann auch dementsprechend, fürs Nichtstun nämlich: Er legte die Beine hoch und aß einen Apfel. Das Zusammenräumen setzte er in der nächsten, vom Glockengebimmel ein- und ausgeläuteten, knappen Stunde unbeirrt fort.

Und überraschend zügig fand er Gefallen am schrill tönenden Alarm. Die Uhr schwang ihre drei schwarzen Taktstöcke und dirigierte seinen Vormittag. Ein virtueller Regisseur füllte seinen Tag mit einem Plan. Er fühlte sich getaktet und mit Anweisungen versorgt, verstand sein Leben als sinnerfüllt und dachte nie mehr daran, das Geläut zu demontieren.

Imre konnte die Zeit nicht aus den Augen verlieren. Immer wenn die Schulglocke erklang, beendete sie irgendeine Aktivität oder eine Passivität des einzigen Schulbewohners. Ja, oft schnitt sie jemandem das Wort ab, mit dem er gerade ein Telefonat führte. Der letzte Satz musste dann rasch beendet, ja erstickt werden, was ihm bald als befremdliches Verhalten ausgelegt wurde.

Im Theater gäbe es das ja auch, rechtfertigte er sich einmal, als seine Tochter ihn mit der Enkelin besuchte und sich ärgerte, dass das Baby wach geworden war vom schrillen Geläut. Sie sprach von einer fragwürdigen pädagogischen Geißel.

Der Postbote an der Schultür zuckte beim Läuten zusammen, und als Imres Blick zu flackern begann, er rasch die Post entgegennahm und sich nervös verabschiedete, fragte er ihn mit einem Zwinkern: Rechnen?
Ergometertraining
, berichtigte dieser hastig mit einer entschuldigenden Geste und eilte in den früher als Turnsaal dienenden Raum, der vom Adrenalin und der Aufgeregtheit der Kinder immer noch auf fast heitere Weise ein klein wenig muffig roch. Die Sprossenwände zu seiner linken und den niedrig montierten Basketballkorb auf der rechten Seite, zog er nun bis zum nächsten metallischen Ordnungsruf konzentriert seine einsamen imaginären Runden auf dem Fahrrad, in der unumstößlichen Gewissheit, dass Geschwindigkeit das Leben nicht verlängert.

In der dritten Stunde ab 10 Uhr war immer die Stunde des Gärtnerns. Imres Marotten hatten sich herumgesprochen und die Nachbarin wusste, dass exakt diese Stunde oft ideal war für einen kleinen geselligen Plausch am Gartenzaun, er ließ sich gerne zum Plaudern hinreißen, wohlgemerkt neben der Arbeit, denn gänzlich untätiges Schwätzen während der Stunde war seine Sache nicht.

In den Pausen war es im Gegensatz zu offiziellen Schulen nicht laut und unruhig, sondern diese Auszeit galt wirklich als Rast. Das Militärische hatte er nie gemocht. Den schulischen Rhythmus, die stets gleichmäßigen Vorgaben der 50-Minuten-Einheiten, fand er hingegen äußerst adäquat für sich und seine periodischen Bedürfnisse. Die 10-minütige Unterrichtsunterbrechung bot etwa genug Zeit für Rauch- und Pinkelpause; ja, er rauchte dadurch sogar weniger!

Im Lagerhaus hatte er eines Tages Frieda kennengelernt, er hatte ihr geholfen, einen riesigen Sack Pflanzenerde in ihr Auto zu verfrachten, sie waren ins Plaudern geraten und über die Monate war mehr daraus geworden. Sie war in seinem Alter und alleinstehend, und die beiden unterhielten bald regelmäßigen Kontakt zueinander, sie war angetan von seinem wohlgeratenen Lebenswandel. Außerdem gefiel es ihr, in seinem aufmerksam kultivierten Garten dies und jenes einzelne, noch verbliebene Unkräutlein auszurupfen oder ebendort irgendetwas anderes Nützliches zu bewerkstelligen.
Imre hatte Stabilität und Orientierung gefunden, sein Haushalt war geordnet, sein Garten bestellt, die Kontoauszüge sortiert und vor allem: Er hatte wieder eine Partnerin gefunden.

Nicht nur das, auch eine Katze hatte er sich zugelegt, oder war es umgekehrt? Eines Vormittags – er wollte gerade die Schultüre schließen, denn es schellte zum Ende der Pause – da saß sie einfach auf der Schultreppe und miaute mit der Klingel in unwiderstehlichem Duett. Sie blieb und war willkommen, ganz bestimmt auch, weil sie viel Verständnis für Imres überambitioniertes Verhältnis zur Akustik der Zeit hatte und stets Contenance beim Klingelton bewahrte. Und bald wusste sie, dass sie ihr Fressen täglich am Beginn der Hauswirtschaftsstunde um 8 Uhr bekam. Und auch, dass Zeit für Streicheleinheiten erst der Nachmittag bot, wenn diese merk- und irgendwie unwürdigen Alarmierungen ihren Quartiergeber nicht mehr gänzlich im Griff hatten.

Die Volksschule war immer um eins zu Ende gewesen, daher war zu diesem Zeitpunkt das Läuten zum letzten Mal aktiviert. Die Taktung der fünf geordneten Stunden von acht bis eins entsprach ihm. Frieda – inzwischen nannte sie ihn liebevoll ihren Schulmeister – fand sich meist an Nachmittagen ein, sie bevorzugte die geläutfreie Zeit und schlug vor, die Festlegung zu ändern, in einer Weise, dass das eindringliche Klingeln um ein Uhr Mittag unterbliebe, um in Ruhe gemeinsam kochen und mittagessen zu können, doch eine Umprogrammierung der Uhr auf eine andere Stundenanzahl zog Imre nicht in Betracht.

Den Nachmittag nämlich, in seinem glockenlosen Laisser-faire-Zustand, konnte er zumeist nicht entspannt genießen, der Nachlässigkeit waren Tür und Tor geöffnet, das bereitete ihm Unbehagen, denn Arbeit, Muße oder auch sinnfreies Nichtstun mischten sich so zu einer konturlosen Melange.
Er wunderte sich zwar darüber, aber er liebte die schroff signalisierte Stundentaktung, die Gehorsam und Disziplin einmahnte und seine To-dos verwaltete.
Es kam nur ganz selten vor, dass er in unangenehm nervöser Erwartung des Läutens war. Eigentlich lag in seiner Grundstimmung meist eine freudige Bereitschaft, irgendetwas sofort zu beenden, sei es nun fertiggestellt oder nicht, und was auch immer auf der Stelle neu zu beginnen.
Ob er das Pausenklingeln mehr mochte als das Signal zum Stundenstart? Darüber konnte er lange sinnieren, vorzugsweise an den freien Nachmittagen, wenn er keine Vorgaben zu befolgen hatte.

Frieda drängte auf eine schulglockenfreie Ferienregelung, doch er wollte rein gar nichts davon wissen. Du bist so eingefahren in deinem Denken, musste er sich von ihr freundlich nachsichtig schelten lassen, dabei war er durchaus bereit zu Flexibilität, wenn sie ihm denn angebracht erschien: Beim Erstellen des Stundenplans für den Sommer wollte Imre etwa die ersten beiden Stunden austauschen, also die Gartenpflegeeinheit zugunsten der Hauswirtschaftsstunde gleich als erste disponieren, das könnte sich bei großer Hitze als praktisch, wenn nicht sogar als unumgänglich erweisen.
Jeder ringt auf seine eigene Art um Wohlgefühl.

Michaela Swoboda

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