On the Road Again

Einen Spaziergang machen. Zum Nachdenken, zum Runterkommen, zum Erholen, und um alles von sich abzuschütteln, was so an einem unangenehm haften geblieben war die letzten Tage. Alles loswerden, was einen so vereinnahmt. Die kleinen Histörchen, Skandale, die Familiengeschichten, Songtexte und und und. Wenn das so leicht wäre! Landschaft. Konzentrieren auf die Landschaft. Dort ein Baum, ein Strauch, ein Vogel am Himmel. Ein Vogel? Ein Flugzeug. Dahingehen auf einer Straße.

Wieder auf der Straße
Kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen
Das Leben, das ich liebe, besteht daraus, irre Sachen mit meinen Freunden zu machen…

Seine Schritte über die nahen parallel zum See liegenden hügeligen Weingärten lenken. Auf einem – Güterweg, immerhin asphaltiert, mitten im Grünland, wie überall hier. Beinah eine Straße. Das Wetter war gar nicht so mild wie anfangs erwartet. Ein ziemlich kalter Wind fegte von Westen her über die blattlosen Weinstöcke. Wo er auf Widerstand traf, pfiff er sein Lied unaufhörlich an den dünnen Drähten der Weinstöcke. Über den Himmel zogen, aufgefädelt wie Perlen an einer Kette, Flugzeuge im Dreiminutenabstand ziemlich tief ihre Anflugsrunden auf den nahen Flughafen. Kinder hätten vielleicht gewinkt oder ein Taschentuch geschwenkt, das die Passagiere hätten sehen sollen. Erwachsene unterlassen solchen Unsinn. Die Welt der Erwachsenen ist zumeist eine nüchterne. Es findet sich oftmals kein Platz für Träume und Fantastereien darin. Weit hinten am Horizont war der bewölkte Himmel etwas aufgebrochen und ließ den einen oder anderen Sonnenstrahl auf das schwache Grün darunter herniederblitzen. Tief Luft holen und nach oben blicken. An manchen Stellen klarte es etwas auf. Nachdenken. Ein Gefühl, als stünde man barfuß auf dem Rücken zweier Pferde im Galopp, die unaufhörlich weiterlaufen, während man die Zügel zwar in der Hand hält, es aber Mühe macht, die beiden Tiere beisammen zu halten, da sie jederzeit nach links oder rechts ausbrechen könnten. Und alles ist so unaufhaltsam – wie die Zeit, die nicht zu stoppen ist, die einem nicht sagt, wohin denn die eigene Reise geht. Einmal anhalten können. Verschnaufen können. Überlegen, ob der richtige Kurs vorliegt. Korrekturen anbringen.

Wieder ein Airbus über dem Kopf. Der Wind trug Fetzen eines Liedes vom Ortsfriedhof an die Ohren heran. Blasmusikkapelle. Ich hatt´ einen Kameraden! Der junge Mann, den sie begruben, war erst zweiundfünf-zig, wie zu erfahren war, und sie spielten ein Soldatenlied! Zweitau-sendundsechzehn! Nicht etwa Yesterday oder wenigstens Time To Say Goodbye. Weiter auf der Straße, die den Weg bedeutet.
Da kletterte irgendein Junge aus der Fantasie der Erinnerungen, der einmal in Los Angeles ein Kleinflugzeug entführt hatte und mit diesem über Death Valley geflogen war. Die Polizei suchte ihn wegen Mordes an einem Cop.

Sich in Fantasien er- und eine Straße entlanggehen. Sich in die Lage eines solchen Jungen versetzen. So eine Piper selbst starten und über die Rollbahn fegen. Abheben. Über den Wolken sein. Sonne putzen. Wieder bloß ein Lied. Oder doch Wirklichkeit? Seine Blicke dem Kreisen eines Bussards über dem Acker folgen lassen. Die Welt von oben betrachten. Die Sorgen unten lassen, auf der Erde. Alles Irdische der Erde überlassen. Eine Liebesgeschichte träumen.

Daria, ein junges Mädchen, fuhr im Wagen ihres Freundes in Richtung Denville, oder Glenville. Oder war´s Merryville? Egal. Irgendwo in Phoenix, irgendwo in der Wüste. Ein fantastischer Ort zum Meditieren, telefonierte sie ihrem Chef, der sie lieber in seinem Privatflugzeug mitgenommen hätte, als sie alleine durch die Wüste fahren zu lassen. Was sie denn dort mache? Meditieren, antwortete sie. Was sie damit meinte, fragte ihr Vorgesetzter. Über Dinge nachdenken, sagte sie, kurz angebunden, und hängte auf. In irgendeiner Bar in einem Wüstenkaff. Während die Sonne gnadenlos herunterbrennt, gerät die Geschichte in die Gegenwart. An der Bar hängt ein von Wind und Sonne gegerbter alter Mann herum, der sein Bier trinkt und in einem fort Zigaretten raucht. Wissen Sie, wo Merryville ist? Er schüttelt wortlos seinen Kopf. Aus der Musikbox ertönt Tennessee Waltz. I was dancin‘ with my darlin‘ to the Tennessee Waltz. When an old friend I happened to see. I introduced her to my loved one. And while they were dancin,‘ my friend stole my sweetheart from me. Daria setzt ihre Fahrt mit dem grauen alten Zwölfzylinder fort.

Ich kann es kaum erwarten, wieder auf die Straße zu kommen.
Wieder auf der Straße…
Orte besuchen, an denen ich noch nie gewesen bin.
Dinge sehen, die ich danach vielleicht nie mehr wieder sehe.
Ich kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen.

Daria fährt in dem alten Buick über eine endlose Landstraße. Vom Autoradio ist Hillbilly-Musik zu hören. Da plötzlich – das Flugzeug des Jungen über ihr! Daria steigt aufs Gas. Was will der Verrückte denn? Er wendet und kommt im Tiefflug direkt auf sie zu. Daria duckt sich hinter dem Volant und schüttelt ungläubig den Kopf. Der hat sie doch nicht alle! Der Junge zieht die Maschine abermals hoch, fliegt einen weiten Bogen und rast aufs Neue frontal auf sie zu. Daria flucht leise. Nun kippt er das kleine Seitenfenster des Flugzeugs auf und wirft ein T-Shirt über Daria ab. Dann beobachtet er, wie sie hinläuft und es aufhebt, es mit beiden Händen an ihren Körper anlegt und zu ihm herauflacht. Der Junge landet das kleine Flugzeug sicher auf dem Highway. Er steigt aus, sie sehen sich in die Augen. Ob sie ihn mitnehmen könne, in die nächste Siedlung. In zwanzig Meilen Entfernung wäre die nächste. Er braucht Benzin. Seine braunen Augen spiegeln sich in ihren blauen.

Wieder auf der Straße
Wie Landstreicher streunen wir den Highway hinunter.
Wir sind die besten Freunde, sagen wir, und toll, dass die Welt sich in unseren Wegen kreuzt.
Und unser Weg ist wieder die Straße.

Da wäre ein Polizist erschossen worden. Daria hätte es im Radio gehört. Der Junge sieht zu Boden. Und dass die Pflanzen hier im ewigen Sand nicht eingehen. Ein Wunder auch, bei der Hitze. Rauchst du?, fragt Daria. Nein, ich gehöre einer Gruppe an, die auf Wirklichkeitstour ist. Das heißt, sie können sich nichts vorstellen, lacht Daria und dreht einen Joint. Der Junge erzählt ihr über sein gescheitertes Uni-Leben und von den Studentenunruhen und er fügt an, ja, da sei ein Polizist erschossen worden.

Aber schon laufen sie schreiend und singend eine Geröllhalde hinunter und legen sich in den heißen Sand eines ausgetrockneten Flussbettes, wo sie im Schatten gemeinsam den Joint rauchen. Man muss sich entscheiden, auf welcher Seite man steht, sagt Daria und man könnte alles anders machen, wenn man nur wollte. Der Junge sieht sie ungläubig an. Es ist friedlich hier. Es ist alles tot hier, entgegnet der Junge. Tun wir so, als wären deine Gedanken Pflanzen, muntert sie ihn auf. Wie sehen deine aus?, fragt sie neugierig. Wie Unkraut? Oder Gänseblümchen? Sie lachen. Es wäre schön, wenn man eine glückliche Kindheit pflanzen könnte. Und liebevolle Eltern, sagt er. Dann beginnen sie, im Niemandsland um die Wette zu schreien.

Als sie die Steinrinne wieder emporgeklettert sind, steigen sie in den alten Buick und fahren weiter. Unterwegs halten sie an einer herunter-gekommenen Hütte. Ein alter Mann mit weißen Bartstoppeln hilft ihnen, das Flugzeug, das der Junge geklaut hat, bunt zu bemalen. Niemand versteht, wie die Piper plötzlich hierhergebracht worden war. Ich werde es zurückbringen, sagt der Junge. Du kannst es nicht einfach zurückbringen, versucht Daria ihm das Wagnis auszureden. Aber der Junge lässt sich nicht beirren. Er küsst Daria auf den Mund und steigt ins Flugzeug. Während es abhebt, winkt sie. Ihr Winken ist das eines Kindes. Danach setzt sie ihre Fahrt fort. Der Radiosender meldet, dass ein junger Mann auf dem Rollfeld in L.A. erschossen worden sei, als er ein gestohlenes Flugzeug gelandet habe.

Kann es gar nicht erwarten, wieder auf die Straße zu kommen
Das Leben, das ich liebe, besteht daraus, so Sachen mit meinen Freunden zu machen und so…

Daria folgt der Aufforderung ihres Chefs, sich bei ihm mitten in der Wüste in einer Luxusvilla einzufinden, in der eine wichtige Konferenz stattfindet. Aber Daria empfindet nur Leere und Einsamkeit. Es interessiert sie nicht, was hier gesprochen und verhandelt wird. Sie kann unbemerkt in ihr Auto zurückkehren. Sie setzt sich hinein und starrt auf das Gebäude. Ihre Gedanken sprengen ihr Bewusstsein. Ihre Gedanken sprengen dieses Gebäude. Heftige Explosionen erschüttern die karge Gegend. Sessel, Lampen, Tische, Bücher, Tassen, Teller Schränke, Einrichtungsgegenstände, zahllose Trümmer fliegen in Zeitlupe vor ihren Augen in die Luft, schweben eine Zeit lang im Raum und sinken lautlos zu Boden. Musik von Pink Floyd begleitet den irren Trümmertanz. Als es still wird um sie, ist ihr, als hörte sie eine Stimme in ihr:

I was dancin‘ with my darlin‘ to the Tennessee Waltz
When an old friend I happened to see
I introduced her to my loved one
And while they were dancin‘
My friend stole my sweetheart from me.

Norbert Johannes Prenner

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