Das Ende des Vogelsangs

In sechzehn Stollen und einem Abgesang

1 Da war immer schon viel Verständnis und Freude am Vogelsang. Da wurde das Verlangen nach mehr nicht nur in wissbegierigen Ornithologen geweckt. Da zogen Wesenszüge und Eigengesetze und der musikalische Aussagewert Neugierige schon durch Jahrhunderte in ihren Bann.

2 Nun waren singende Vögel schon immer ein beliebtes Unterhaltungsmittel. Nun wurde Vogelgesang schon immer als wohltönend und angenehm empfunden. Nun ging man oft davon aus, dass Vögel aus Lebensfreude oder zur Erbauung der Umwelt singen.

3 Zumal werden singende Vögel weltweit in mehr oder weniger ausgeprägten Freiräumen gehalten. Zumal singen manche Arten besonders in Isolation sehr stark. Zumal singen sie oft bis zur völligen Erschöpfung. Zumal ist der Vogelgesang eine verhaltensbiologisch bemerkenswerte Leistung. Zumal singen Vögel so, wie sie durch die verschiedensten Umstände beeinflusst werden.

4 Bekanntlich ist der Gesang vieler Singvögel oftmals nicht bloß lyrisch. Bekanntlich ist er meist sogar prosaisch. Bekanntlich verfügen Lyriker oder Prosaisten meist über mehr als einen Strophentyp. Bekanntlich ist der Gesang der Singvögel im Vergleich zu anderen Vogelarten nicht angeboren. Bekanntlich muss diese Kunst, wie jedes Hand- oder Mundwerk, erlernt werden. Bekanntlich gibt es auch versierte Autodidakten unter diesen Tierarten.

5 Derweil ist Vogelsang keine Ausschmückung von etwas, das man auch einfacher oder deutlicher sagen könnte. Derweil ist Vogelsang vielmehr ein Akt, der sich selbst als solcher wahrnimmt und reflektiert. Derweil zeigt sich Vogelsang in seiner Eigentümlichkeit. Derweil ist Vogelsang Vermittler von Welt und Leben. Derweil ist Vogelsang spezifische Ausdrucksform und sich seiner selbst bewusst. Derweil ist Vogelsang nicht kommunikativer Zierrat! Derweil ist Vogelsang nicht Teil von etwas! Derweil ist Vogelsang tiefster Ausdruck der Seele.

6 Aber über den Gipfeln ist keine Ruh. Aber über den Gipfeln kann nie Ruh sein. Aber immer schon lag über den Gipfeln die Unruh. Aber zu allen Zeiten herrschte immer irgendwann Unruh. Aber warum sollte es in einer neuen Zeit anders sein.

7 Ganz plötzlich schien die Vogelwelt erstarrt! Ganz plötzlich lähmte Bestürzung die Singenden. Ganz plötzlich lag Betroffenheit in trock‘nen Kehlen. Ganz plötzlich spie Entsetzen fassungslos sein lähmendes Gift in den Dunst des Spätherbsts.

8 Bewusst wurden schuldlose Leben in den Tod gerissen. Bewusst wurde der Kosmos für Sekunden von Verblendeten vereinnahmt. Bewusst erlaubte eine finstere Macht, ungeschützte Verwundbarkeit feig für mörderisches Spiel zu nutzen.

9 Dann plötzlich ergriff eine Ohnmacht die Hörenden. Dann herrschte die Angst vor koordiniert geistesgestörtem Wahn. Dann hockte man gelähmt von den gräulichen Taten Umnachteter zitternd im Geäst. Dann trat Stille ein, als sich der Pulverdampf verzogen hatte.

10 Danach wuchs stumm im Schatten der ruchlosen Tat tonlos und dornig eine Hecke aus Starre. Danach verstummten die Vögel zur Gänze. Danach schwieg die Natur als Folge der Schauder. Danach ward Grauen und Widerwillen unter den Sängern.

11 Das war das Ende zweckorientierten Gesangs. Das war das Ende belebenden Beitrags Gefiederter. Das war das Ende der Wahrnehmungen ihrer Natur. Das war das Ende der schönen Poesie. Das war der Abschied ihrer provokanten Eleganz.

12 Damit einher begann die Vertreibung des Vogelgesangs. Damit einher ward Vogelsang nie mehr Ruhekissen der Liebesnacht. Damit einher ging das Ende von Idealen ihrer Ziele und Methoden. Damit einher geriet Stummheit zum stillen Protest.

13 Zeitgleich begann ein Rückzug der Vögel in sich selbst. Zeitgleich verkrochen sie sich in ihren Nestern. Zeitgleich verdunkelten sie ihre Nistplätze. Zeitgleich lebten sie innerlich und äußerlich nur Nacht. Zeitgleich erstarrt, gewährten sie niemandem Zutritt zu ihrer Behausung.

14 Letztlich zogen sie die Flügel hoch. Letztlich sahen sie bloß zu Boden. Letztlich verdeckten sie mit ihren Federn die unruhigen Augen. Letztlich verharrten sie mit verschränkten Beinen bewegungslos. Letztlich vermieden sie jegliches Geräusch. Letztlich gebaren ihre Kehlen kein Krächzen und kein Krähen. Letztlich erstarrten sie in ihrem Gefängnis des Schweigens. Letztlich erschien dieses Schweigen als Trotz.

15 Am Anfang vom Ende blieb kein anderer Ausweg. Am Anfang vom Ende nur stille Beobachtung. Am Anfang vom Ende blieb allein schöne Erinnerung. Am Anfang vom Ende ward phonische Leistung für immer verweigert. Am Anfang vom Ende gab es kein Weinen, kein Husten, kein Lachen.

16 So waren weder Atemgeräusch noch Laute des Schmerzes. So waren weder Blickkontakt noch Berührung. So waren nur Schweigen und Stille. So wollten Flügel und Beine ohnehin nur schwach zappeln und schwanken. So blockierten Blockaden das Singen, das Trällern und Fiepen.

Ein Abgesang

Das Geschäft mit dem Vogelsang war zur Talfahrt verkommen. Nicht deswegen, weil die Gier der Verleger neuer Partituren grenzenlos war. Nicht wegen der Provinzialität der Händler, dass Vogelsang nicht mehr unter die Leute gelangte. Nicht deswegen, dass überall gespart werden musste. Nicht deswegen, dass Vogelsangsendungen abgesetzt wurden. Nicht deswegen, dass Vogelsanghäuser geschlossen wurden. Nicht deswegen, dass Vogelsangmagazine, die das Ende des Vogelsangs ankündigten, nicht mehr gedruckt wurden. Nicht deswegen, allein wegen der Verunsicherung des Vogelliedmarktes. Nicht deswegen, dass einige wenige mit Sangesmüll renommierten. Nicht deswegen, weil selbst der vernichtende Cocktail aus Vogelsangwettbewerbskampf und schrumpfendem Markt der Branche nichts hätte anhaben können. Nicht deswegen, weil weder die sich minimierende Liste jämmerlicher Vorsänger noch die Rückläufigkeit der Umsätze bis zum Nullpunkt oder die Aushöhlung durch die Preisbindung dem Vogelsang den Garaus hätten machen können. Nicht deswegen, auch wenn man Parallelausgaben verboten hätte.

Sondern vielmehr lag die Ursache darin, dass aus Protest gegen das Unrecht immer weniger Partituren gekauft wurden. Sondern vielmehr lag es einzig und allein daran, dass aus Schmerz über die ruchlose Tat überhaupt nicht mehr gesungen wurde. Sondern vielmehr lag es daran, dass Vogelsang als Unterhaltung oder Sprachrohr einer bestimmten Geisteshaltung seit dem Tage der Katastrophe seinen Stellenwert verloren hatte. Sondern vielmehr hatte die aktuelle Krise die Konsumenten in Katastrophenstimmung versetzt. Sondern vielmehr verlangten sie nunmehr das Seichte, das Unterhaltsame, das Ablenkende. Sondern vielmehr hatte Vogelsang für den Einzelnen und für die Gemeinschaft das Verbindende geleistet. Sondern vielmehr ist sein Wert durch die ruchlose Tat zur Bedeutung eines Gutenachtliedes verkommen. Sondern vielmehr bedeutet der Verlust der Sangeslust jedoch nicht den Verlust seiner geistigen Fähigkeiten. Sondern vielmehr erlaubte das Entsetzen über das Geschehen nur seine Wiederaufnahme nicht.

Norbert Johannes Prenner

www.verdichtet.at | Kategorie: ¿Qué será, será? | Inventarnummer: 16033