Ausschnittsweise

Lara ist Sozialarbeiterin und lebt schon eine ganze Weile alleine. Manchmal vermisst sie das laute und bunte Familienleben, dessen Teil sie nur noch ist, wenn sie gelegentlich ihre Eltern und ihre Geschwister besucht. Zuhause wird noch immer Litauisch gesprochen; sonst verwendet Lara ihre Zweitsprache nie, die sie fließend beherrscht. Selbst mit Bekannten aus Litauen spricht sie nur Deutsch, auch wenn sie auf Litauisch angesprochen wird. Ihre ältere Schwester Audra und ihr Mann Aidis hingegen sprechen hauptsächlich Litauisch und haben nur litauische Freunde, während Lara in jeder Hinsicht Abstand zu ihrem Geburtsland hält. Auch zur weiteren Verwandtschaft wahrt sie Distanz, sie sieht diese nur bei größeren Feiern wie Hochzeiten. Auf Diskussionen diesbezüglich lässt sie schon lange nicht mehr ein. Auch von ihrer Bisexualität weiß ihre Familie nichts. Nicht, weil Lara sich dafür schämt, sondern weil sie ihr Innerstes schützen will. Ihr haben die Diskussionen nach ihrem Kirchenaustritt schon gereicht.

Lara war schon als Kind ehrgeizig, eigensinnig und unangepasst. Während andere Mädchen miteinander und mit ihren Puppen gespielt hatten, hatte sie sich lieber mit Büchern, dem Familienhund Sam und ihrem besten Freund Görkem, dem türkischen Nachbarsjungen, beschäftigt. Diese Freundschaft ist die längste und stabilste in Laras Leben. Sie ist sich ihrer starken Wirkung nach außen nicht bewusst, sehr zum Leidwesen ihrer Mutter, die sie gerne in einer Beziehung – und noch lieber verheiratet – sehen würde.

Leyla wusste schon als Schülerin, dass sie Jugendsozialarbeiterin werden wollte. Vielleicht, weil ihr schon früh klar war, dass es engagierte und couragierte Erwachsene braucht, um eine mündige und verantwortungsgbewusste nächste Generation aufzuziehen. Vielleicht war es auch die couragierte Betreuerin im Jugendzentrum. Seit kurzem lebt sie in ihrer ersten eigenen Wohnung, die voll von Büchern und Fotos ist. Die meisten Fotos zeigen sie und ihre beste Freundin Sara, die ursprünglich aus Kairo stammt. Leyla ist die einzige Frau in ihrer Familie, die kein Kopftuch trägt, und ihr Auszug hat zum endgültigen Bruch mit ihrer konservativen Famile geführt. Irgendwann war ihr die permanente Einbindung in das Familienkollektiv, die keinen Raum für persönliche Entfaltung ließ, zu viel geworden. Selten sieht sie einige Familienmitglieder am Brunnenmarkt, wenn sie dort einkauft oder sich mit Sara zum Frühstück trifft. Schon als kleines Mädchen hat sie sich nie den Mund verbieten lassen. Wie oft hat ihr Bruder sie mit der flachen Hand auf den Mund geschlagen? Sie erinnert sich noch gut daran, wie oft ihr Vater ihr vorgehalten hat, dass es bei ihrer Schönheit leicht wäre, einen Ehemann für sie zu finden, würde sie sich mehr auf ihre Pflichten als Frau konzentrieren, anstatt sich ihren Verstand mit Büchern zu vernebeln. Sie hatte irgendwann gelernt, taktisch zu schweigen, bis sie in der Lage war, für sich selbst zu sorgen.

Auch wenn sie das laute Familienleben jetzt manchmal vermisst, ist sie doch glücklich über ihre eigene Wohnung. So sehr sie ihre Arbeit im Jugendzentrum liebt, an einem freien Tag ist sie froh, wenn sie es sich mit einem Buch auf der Couch bequem machen oder spazieren gehen kann. Die gleiche Strecke, die Lara immer zum Joggen nimmt.

Lara und Leyla haben sich sicher schon oft gesehen; in der kleinen türkischen Bäckerei, am Donaukanal oder an der Straßenbahnhaltestelle. Und unbewusst haben sie sich sicher schon wahrgenommen. Die große, blonde Lara, deren blaue Augen immer eine klare Präsenz ausstrahlen und deren markantes, aber doch zierliches Gesicht stets einen Hauch von Konzentration aufweist. Und Leyla mit ihren schokoladebraunen Locken, ihren bernsteinbraunen Augen, die sie wohl von ihrer Großmutter geerbt hat, ihrer sanften, wohlgeformten Figur und ihrer geerdeten Ausstrahlung. Aber vielleicht verhält es sich auch nur so, dass man einen richtigen Menschen erst zum richtigen Zeitpunkt wahrnimmt. Und dann kann man nur versuchen, den Dingen ihren Lauf zu lassen. An diesem Tag sind Lara und Leyla schon seit vierzehn Stunden auf den Beinen. Die kleine türkische Bäckerei an der Ecke hat bis Mitternacht geöffnet; Spätentschlossene wie sie können so um 23.30 Uhr noch Milch und Brot für den nächsten Tag besorgen. Lara ist müde nach diesem langen Tag und nimmt den Geschmack der Zigarette in ihrer rechten Hand kaum wahr.

Neben ihr, ebenfalls an der Theke, steht Leyla, die lieber Abstand genommen hat von den zwielichtigen Gestalten, die an einem kleinen Tisch Tee trinken. „Auch keine Milch mehr?“, Leyla lächelt Lara an und streicht sich sanft eine schokoladenbraune Haarsträhne aus dem Gesicht. „Nein“, Lara schüttelt den Kopf und erwidert das Lächeln, „aber das ist nicht tragisch, auf mich wartet niemand!“ „Auf mich auch nicht! Es ist leichter, wenn einem das eigene Leben ganz alleine gehört.“ Lara nickt zustimmend.

Celal, der Besitzer der kleinen Bäckerei, ist schon seit über dreißig Jahren in Wien. Als Zwanzigjähriger hat er Istanbul verlassen, der Liebe wegen, die sich noch immer bewährt. Er kennt die beiden jungen Frauen gut, sie kommen oft – getrennt voneinander – zu ihm in die Bäckerei. Manchmal bleiben sie sogar, um ein Gläschen türkischen Tee mit ihm zu trinken und sich zu unterhalten. Lara ist die Tochter eines alten Freundes von ihm, den ebenfalls die Liebe vor vielen Jahren nach Wien geführt hat; allerdings aus Litauen, und der mit seiner Frau in der Wohnung neben Celal und seiner Frau lebt. Leyla ist die Tochter eines Freundes von ihm aus Istanbul. Er weiß auch von dem Bruch innerhalb Leylas Familie; ihr Vater Ahmet fragt oft nach seiner Tochter. Auch jetzt beobachtet er die beiden, wie sie so zusammenstehen und sich unterhalten, als wäre es eines von vielen, schon vorangegangenen Treffen.

Schon aus Gewohnheit bietet ihnen Celal einen Tee an. Und die kleinen, traditionellen Teegläser scheinen das Bild zu komplettieren. Es ist, als wären sie für die beiden Mädchen gemacht worden. An diesem Abend verlässt Celal seine Bäckerei erst um halb zwei, eineinhalb Stunden später als üblich. Hier zeigt sich die Festigung einer Liebe, die schon einige Jahrzehnte hinter sich hat. Celal weiß, dass seine Frau, wie jeden Abend, schon schläft, wenn er kommt. Er weiß auch, dass sie ihre Zeit nicht mehr mit Eifersucht verschwenden wird, wenn er die Wohnung betritt und sie fast automatisch aufwacht und aufsteht, um ihm einen Tee zu kochen. Sie werden über den Tag sprechen, wie er vergangen ist und wie jede Nacht Arm in Arm einschlafen. Und vielleicht ist gerade das der Segen eines ruhigen, zufriedenen und vor allem überschaubaren Lebens. Eben deshalb beneidet er die beiden jungen Frauen auch nicht. Ihre Generation ist eine sehr gehetzte, eine, die beschädigte Dinge lieber austauscht, als zu versuchen, den Defekt zu beheben. Doch er grollt nicht. Er weiß, dass sich in jeder Zeit das Positive und das Negative die Waage halten.

Es ist spät – oder früh, je nachdem, wie man vier Uhr morgens empfindet –, als die beiden Frauen die Bar neben der nahegelegenen U-Bahnstation verlassen. „Wie heißt du eigentlich?“ In all den Stunden ist ausgerechnet diese Frage nicht gefallen. „Leyla“, wieder erscheint ihr sanftes Lächeln. „Ich bin Lara“, ihre Stimme ist rauchig, „wollen wir noch zu mir gehen?“ Hand in Hand. Und doch schon viel intimer. Sehr viel intimer. Stunden später sind ihre Stimmen schon beinahe brüchig und können dem Gedankenaustausch kaum noch standhalten.

„Weißt du eigentlich, wie wunderschön du bist?“, langsam streicht Lara Leyla eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Suchend, mit geschlossenen Augen berührt sie die warme Hand, erwidert die Geste, zieht ihr Gegenüber bestimmt heran. Und es ist der erste Kuss, der alles Weitere entscheidet. Sie verbringen die Nacht zusammen.

Vielleicht können sich Frauen wirklich besser in andere Frauen hineinversetzen, wenn es um sexuelle Bedürfnisse geht. Oder vielleicht ist es aber auch nur so, dass zwischen den beiden Frauen die Chemie gerade stimmt. Oft schon haben sich die beiden im Morgengrauen aus fremden Wohnungen geschlichen, um peinliches Schweigen oder – noch schlimmer – die Frage nach der Telefonnummer zu vermeiden. Was in diesem Fall anders ist? Es ist keine dieser klassischen Geschichten. Und nichts Pathetisches.

Es ist ein Samstagmorgen, der einen dazu verleitet, einen langen Spaziergang zu machen, obwohl er neblig und verhangen ist. So sitzen sie im Café Central in der Herrengasse, sprechen über ihre Studienzeit, wundern sich, warum sie sich nie begegnet sind, obwohl sie beide oft hier waren. So oft, dass die Kellner beide Frauen noch immer mit dem Vornamen begrüßen. Es ist sogar der gleiche Lieblingsplatz in einer kleinen, versteckten Ecke, wo sie für sich sind. Noch immer Hand in Hand spazieren sie von der U1-Station Donauinsel bis zur U6-Station Neue Donau und wieder zurück. Vier- oder fünfmal, bis sie schließlich in die U6 einsteigen und wieder zu Lara fahren. Weil es irgendwie schon wieder spät geworden ist. Jedenfalls spät genug, um sich noch mit einer Tasse heißen Tee einen Film anzusehen und auf den Sonntag zu warten.

Schweigend liegen sie nebeneinander, ohne etwas anderes wahrzunehmen. Mit geschlossenen Augen und einander streichelnd. Lara genießt es, Leylas Hand auf ihrer Brust zu spüren. Zu spüren, wie die Hand abwärts wandert, nicht zu schnell und nicht zu langsam. Sie zieht Leyla heftig an sich, küsst sie.

Ob es Liebe ist? Das bleibt abzuwarten, es hat doch gerade erst angefangen.

Celal hat die beiden an diesem Tag vorbeigehen gesehen, Hand in Hand. Ob ihn dieses Bild überrascht hat? Nicht sonderlich, über die Jahre hat er viel gesehen. Und seine Einstellung war schon immer sehr liberal. Ob ihm die beiden zusammen gefallen haben? Ja, wenn auch aus ästhetischen Gründen, nicht aufgrund sexueller Phantasien. Solche Bilder reizen ihn nicht mehr in dem Ausmaß, wie sie es in seiner Jugend getan haben. Er muss vor allem an Aphrodite denken, über die er als Junge sehr viel gelesen hat, weil sie ihm von allen Göttinnen die liebste war.

Cornelia Hell

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