Ghost

(inspired by Eastmountainsouth’s Song)

Klack. Klack. Klack.
02.04.2004. Das Datum war leicht zerkratzt, aber so, wie der Ring vor ihr auf dem Tisch lag, konnte man es noch immer gut lesen.
Klack. Klack.
Immer wieder griff sie mit Daumen und Zeigefinger nach dem Ring, hob ihn hoch und ließ ihn aus geringer Höhe auf den Tisch fallen.
Klack.
Sie rutschte ein Stück mit dem Stuhl zurück und legte ihr Kinn auf die Tischplatte, ohne den Blick vom Ring zu wenden. Ihr Atem war ruhig. 02.04.2004. Davor und dahinter das Unendlichkeitszeichen, eine liegende Acht. Sie presste die Lippen zusammen.
Heute war ihr zehnter Hochzeitstag. Auch Rosenhochzeit genannt. Rosen – ihre Lieblingsblumen. Auch bei ihrer Hochzeit waren die Kirche und die Räumlichkeiten, in denen anschließend gefeiert wurde, mit dem intensiven Duft von Black-Magic-Rosen erfüllt gewesen.

Für einen kurzen Augenblick schweifte ihr Blick nach links auf das Sideboard, auf dem ihr Hochzeitsfoto stand. Sie, inmitten eines blühenden Rosengartens, und er, sie zärtlich von hinten umarmend. Beide lachten glücklich in die Kamera. Ja, glücklich war das richtige Wort.
Mit einem leisen Seufzer suchten ihre Augen wieder den Ring auf dem Tisch. Das Unendlichkeitszeichen. Für immer. Davon waren sie damals überzeugt gewesen. Aber jetzt, zehn Jahre später, saß sie alleine hier am Tisch. Er war nicht mehr hier.

Fünf Jahre waren sie verheiratet gewesen. Waren gerade in ein kleines Reihenhäuschen gezogen und bereiteten sich darauf vor, ihre Familienplanung in die Praxis umzusetzen, als im Herbst 2009 eine Reihe von gesundheitlichen Rückschlägen ihrem Mann schwer zu schaffen machte.
Nach mehreren Wochen, in denen sein Krankheitsbild zwischen grippalen Infekten, Bronchitis und einer Lungenentzündung wechselte, konnte sie ihn überreden, eine zweite Meinung einzuholen. Das Ergebnis erfuhren sie an einem Freitag, den 13. Er hatte Lungenkrebs. Er, der nie geraucht und immer gesund gelebt hatte. Die Heilungschancen lagen bei 50%.
Der wolkenlose Himmel dieser glücklichen Beziehung trübte sich ein. Und wurde täglich dunkler. Die erste Chemotherapie schlug nicht an. Die zweite brachte für einige Zeit wieder Hoffnung, doch der Krebs war stärker. Sukzessive war aus dem sportlichen, charmanten jungen Mann ein abgemagertes Häufchen Mensch geworden, das am Schluss in dem großen Krankenbett so verloren aussah wie ein kleines Kind.
Es tat weh, ihn so zu sehen. Diese Verwandlung mitansehen zu müssen, und nichts dagegen tun zu können. Sie versuchte stark zu sein, stark für sie beide. Er brauchte sie, wie er sie noch nie zuvor gebraucht hatte. Ihre Nähe, ihren Zuspruch, ihre Hoffnung, ihre Liebe. Sie gab ihm alles, was sie konnte, um es für ihn leichter zu machen.
Wenn sie aus dem Krankenhaus ging, fand sie nicht oft den Weg in ihr eigenes Zuhause. Es waren ihre Eltern, ihre Geschwister oder ihre beste Freundin, bei denen sie Zuflucht suchte. Sie, die sie jede Minute, die sie bei ihm war, damit verbrachte, ihm Mut zuzusprechen und Hoffnung zu geben, brauchte auch jemanden, der dies für sie tat. Dieser Rückhalt in ihrem Familien- und Freundeskreis war ihr Lebenselixier geworden, ohne das sie diese Zeit nicht überstanden hätte.

Im März 2011 hatte der Krebs dann gesiegt. Ihr Mann wurde immer schwächer, die ganze Familie hatte ihn im Laufe eines Wochenendes im Krankenhaus besucht. Als hätten alle gewusst, dass es das letzte Mal sein würde, dass sie ihn sahen. Es waren emotionale Szenen, die sich im Krankenzimmer abspielten und die ihn mitnahmen.
Sie kannte ihn, sie wusste es. Es waren seine Augen, die ihn verrieten. Auch wenn der Körper, in dem er steckte, nicht mehr zu ihm zu gehören schien, waren es seine Augen, die bis zum Schluss glänzten und so voller Liebe waren. Liebe zum Leben, zur Familie, zu ihr, seiner Frau. Doch als seine Mutter vor ihm hemmungslos in Tränen ausbrach und etwas davon stammelte, dass es nicht rechtens sein kann, wenn ein Kind vor seinen Eltern stirbt – war es sein flehender Blick, der erkennen ließ, dass er es nicht mehr ertragen konnte. Sanft, aber bestimmt umarmte sie ihre Schwiegermutter und schob sie zusammen mit ihrem Schwiegervater aus dem Zimmer.

An diesem Wochenende war sie von sich selbst überrascht, wie ruhig und gefasst sie die Besuche über sie beide ergehen hatte lassen. Sie war immer mit im Zimmer geblieben, genau für solche Fälle wie jenen mit seiner Mutter. Sie war diejenige gewesen, die stark geblieben war. Als sie wieder den Raum betrat, hatte sich ihr Mann gerade schwerfällig die Tränen aus dem Gesicht gewischt. Sie hatte ihn zärtlich angelächelt und sich mit einem Kuss auf die Stirn verabschiedet.
Zwei Tage später war es so weit. Ihr Mann schien auf sie gewartet zu haben. Als sie sich leise zu ihm gesetzt hatte und seine Hand nahm, hatte er die Augen geöffnet und sie angelächelt. An seine letzten Worte würde sie sich bis zu ihrem eigenen Tod erinnern. „Lebe dein Leben, Süße. Aber vergiss mich nicht. Ich liebe dich.“ Dann schlief er für immer ein. 500 Tage nach der Diagnose. Er war 31 Jahre alt geworden. Die Beerdigung war kurz vor ihrem siebenten Hochzeitstag. Das Schicksal hätte das verflixte siebente Jahr nicht schlimmer enden lassen können.

Witwe mit 31 Jahren. Allein in einem Reihenhaus, das für eine vierköpfige Familie ausgelegt war. Die administrativen Angelegenheiten nach dem Tod ihres Mannes hatten ihr die Möglichkeit gegeben, ihre Trauer in Arbeit umzulegen. Die Schulden für das gemeinsame Haus konnte sie mit der Lebensversicherung ihres Mannes ausbezahlen. Sie verdiente gut, die laufenden Kosten konnte sie auch alleine aufbringen. Also musste sie nicht ausziehen.
Andere wären ausgezogen, um ein neues Leben zu beginnen. Aber so war sie nicht gestrickt. Sie verstand die Erinnerungen, die dieses Haus beherbergte, nicht als Last. Es war schön, in ein Zimmer zu gehen oder ein Bild anzusehen und sich an ihn zu erinnern. Sie wollte – nein, sie musste – sich an ihn erinnern.
Es gab Tage, an denen er so präsent war, als würde er im Nebenzimmer sitzen und fernsehen. Mit der Zeit ertappte sie sich dabei, wie sie panikartig das nächste Foto von ihm im Haus suchte, weil sie nicht mehr wusste, wie er ausgesehen hatte. Oder sich Videos ihrer Urlaube oder der Hochzeit ansah.
Bis auf drei Shirts, die sie zum Schlafen verwendete, hatte sie sich von seiner Kleidung bereits ein paar Wochen nach seinem Tod getrennt. Seinen Telefontarif hatte sie aber erst nach einem Jahr gekündigt, damit sie sich seine Stimme auf der Mailbox immer wieder anhören konnte. Bis heute – drei Jahre danach – stand die letzte Flasche seines Aftershaves im Badezimmerschränkchen, der Inhalt so gut wie verraucht. Trotzdem passierte es ab und an noch, dass sie in schlaflosen Nächten aufstand und an der Flasche roch, um sich an seinen Geruch zu erinnern.

So intensiv sie während seiner Zeit im Krankenhaus die Nähe ihrer Familie suchte, so abgekapselt lebte sie in den Wochen danach in ihrem gemeinsamen Häuschen. Sie weinte viel. So viel, dass es jeden Tag eine Herausforderung war, ihre geschwollenen Augen hinter Tonnen von Make-up und einer großen Sonnenbrille zu verstecken, wenn sie ins Büro ging.
Sie vergrub sich in Arbeit, Hausputz und Spaziergänge. Wollte mit niemandem sprechen, der ihr sein Beileid bekunden wollte. Führte Zwiegespräche an seinem Grab, das sie täglich besuchte. Ihre Familie und Freunde akzeptierten das und taten, was sie brauchte. Sie ließen sie in Ruhe und waren zur Stelle, als sie so weit war, über das Geschehene und ihr Gefühlsleben zu sprechen.
Bald wurde ihr klar, dass sie auf Dauer nicht so weitermachen konnte. Sie vernachlässigte sich selbst und lebte in der Vergangenheit. So konnte sie nicht die nächsten fünfzig oder sechzig Jahre ihres Lebens verbringen. Also nahm sie langsam wieder Kontakt zu ihrer Familie auf, die auch in dieser Zeit ihr Fels in der Brandung war.

All die Monologe, die sie in der Zeit davor an seinem Grab geführt hatte, führte sie jetzt noch einmal in Gegenwart ihrer Mutter oder ihrer Freundin. Und sie merkte, dass es ihr guttat, darüber zu sprechen. Dass es normal war, zu weinen, wenn sie an ihn dachte. Dass das Gefühl in ihr, diese allgegenwärtige Trauer, ein Teil von ihr war, den sie akzeptieren musste.
Sie strich vorsichtig mit der Spitze ihres Zeigefingers über den Rand des Rings.
Für heute hatte sie sich etwas vorgenommen. Es war der richtige Tag für sie, ein neues Kapitel in ihrem Leben aufzuschlagen. Die Seiten der letzten 34 Jahre ihres Lebens waren festgeschrieben, nicht mehr änderbar. Sie durfte es nicht zulassen, dass sie den Rest ihres Lebens immer nur zurückblickte. Sie musste auch wieder nach vorne sehen, in ihre neue, eigene Zukunft. Sich für neue Beziehungen öffnen. Vielleicht sogar noch einmal jemanden finden, mit dem sie zusammen sein wollte.
Ihre Vergangenheit war ein Teil von ihr, hatte sie geprägt, sie zu dem Menschen gemacht, der sie heute war. Aber es war Zeit, neue Wege einzuschlagen. Sie war jung und hatte ihr Leben noch vor sich. Sie musste wieder anfangen zu leben. So wie er es auch von ihr verlangt hatte.

Ruckartig stand sie auf und steckte sich den Ring wieder an den dafür vorgesehenen Finger. Automatisch fuhr ihr Daumen an die Innenseite des Ringfingers und spielte mit dem Ring. Im Vergleich zu ihrer Hochzeit hatte sie gut fünfzehn Kilo an Gewicht verloren. Der Ring saß recht locker und sie musste sich immer wieder vergewissern, dass er noch da war.
Auch ihr Mann hatte den Ehering getragen, bis er ihm im wahrsten Sinne des Wortes vom Finger fiel. Sie hatte seinen Ring seitdem als Anhänger auf einer langen Silberkette um den Hals hängen. Sie schnappte ihre Schlüssel, zog Schuhe und eine dünne Jacke an und machte sich auf den Weg.
Der Friedhof war nicht weit weg, etwa zwanzig Gehminuten. Diese Wegzeit war prädestiniert dafür, die Gedanken schweifen zu lassen. Die Zeit war die letzten drei Jahre jedes Mal wie im Flug vergangen, wenn sie diesen Weg gegangen war. So auch heute. Da stand sie nun, vor dem Grabstein ihres Mannes, der viel zu früh diese Erde verlassen hatte müssen.

Als sie auf die Grabinschrift blickte, verkrampfte sich ihr Magen und es bildete sich ein Kloß in ihrem Hals. Seinen Namen zu lesen und zu wissen, was sie für sich entschieden hatte, ließ in ihr wieder das Gefühl hochkommen, ihn zu betrügen. Zu vergessen. Das Versprechen nicht mehr zu halten, das sie ihm am Sterbebett gegeben hatte.
Ihr Kopf wusste, dass es kein Betrug war. Ihr Herz wollte es noch immer nicht wahrhaben. Stumm liefen Tränen über ihre Wangen. Sie hatte es bereits zwei Mal versucht. Letztes Jahr zu seinem Geburtstag Ende August, und dann noch einmal zu Weihnachten. Sie hatte es nicht geschafft. Aber heute musste sie es hinbekommen.
Liebe ist das Einzige, das bleibt, wenn wir gehen. Zärtlich zog sie die Konturen der einzelnen Zeichen dieses Satzes, der auf dem Grabstein stand, nach. Es stimmte. Die Liebe war noch immer da. Bei ihr, ihren Familien, ihren Freunden. Solange die Liebe und die Erinnerung zu ihm da war, war er nicht vergessen.

Sie räusperte sich und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Dann blickte sie auf ihre rechte Hand. Es war so weit. Zaghaft zog sie den Ehering von ihrem Ringfinger und hielt ihn ein paar Zentimeter über den Grabstein. Ihre Hand zitterte. Für einen Moment hielt sie inne und erinnerte sich wieder an ihren verstorbenen Mann.
Sie schloss die Augen und dachte an ihr Kennenlernen, Urlaube, Zärtlichkeiten, Küsse. Es war keine Trauer mehr, die sie überkam. Es war Wehmut. Erinnerungen an Erlebnisse, die ihr niemand nehmen konnte. Mit einer Person, die sie immer lieben und nie vergessen würde. Sie ließ den Ring mit einem leichten Lächeln fallen und ging.
Klack.

Petra Hechenberger

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