Apollo 11

Mein Vater wäre gern mit der Apollo 11 zum Mond geflogen. Das war sein Utopia. In den flimmernden Schwarz-Weiß-Bildern auf dem Bildschirm des Fernsehgeräts verfolgte er alles wissbegierig. Die metallene Stimme, die er nicht verstand, da er kein Englisch sprach, verlieh dem abenteuerlichen Unternehmen noch mehr Mysterium. Der deutschsprachige Kommentator übersetzte alles, und mein Vater saß in dem Bewusstsein, etwas ganz Großes mitzuerleben, auf dem gepolsterten Kirschholzstuhl, den er in seiner Jugend selbst getischlert hatte, zu einer Zeit, da seine Finger noch nicht der Kreissäge zum Opfer gefallen waren. Zu einer Zeit auch, in der er weder verheiratet war noch Kinder hatte.

Jetzt, in der neuen Zeit, holte ihn die Mondlandung aus seinem dahindümpelnden Leben heraus. Jetzt saß er alleine im ungemütlichen, grün gestrichenen Wohnzimmer, trank Bier und rauchte unablässig Salem ohne. Die Flimmerfläche des Fernsehgeräts forderte all seine Aufmerksamkeit, und so fiel hin und wieder Asche auf die lieblos hingebreitete Tischdecke und brannte neue Löcher in die Kunstfaser.
Welche Hoffnungen und Sehnsüchte weckten diese Bilder, nicht nur bei meinem Vater. Ein bemannter Flug zum Mond.

Zirka zehn Jahre vorher hatte ebenfalls ein Ereignis aus der Raumfahrt eine seltsame Verbindung zu seinem Leben hergestellt. Damals war es der Sputnik gewesen, der justament an dem Tag startete, an dem in der Werkstatt meines Vaters ein Feuer ausbrach, das sich zu einem Großbrand auswuchs und schließlich nicht nur das Wohnhaus meiner Familie und damit deren Existenz erneut gefährdete, sondern auch drohte, das gesamte Dorf in Asche zu legen, zumal der Feuerwehrkommandant katastrophalerweise den Hydrantenschlüssel verlegt hatte.
Dank der emsigen Löschbereitschaft aus dem Nachbardorf konnte glücklicherweise der Worst Case vermieden werden. Die Geschichte vom Werkstattbrand kenne ich lediglich aus Erzählungen. Ich war damals noch nicht geboren. Ich bin aber mit dem Trauma meiner Eltern vom Feuer groß geworden. Schließlich schreinerte mir mein Vater, als ich sechzehn war, einen Tisch und einen Stuhl, aus Eichenholz, mit einer Tischplatte aus Lärchenholz. Die dafür verwendeten Bretter hatte er aus dem Brand gerettet. Sie waren an den Rändern verkohlt.
Als die Möbel fertig waren, sagte er zu mir: Nur ein Tisch und ein Stuhl sind aus dem ganzen Holzvorrat noch übrig geblieben. Mich hat das unglaublich gerührt. Ich habe seinen verkniffenen Mund noch vor Augen, der das meiste ungesagt hinter den Lippen für die Ewigkeit barg. Mit den steifen Fingern und Fingerstummeln, die vom unablässigen Rauchen braun verfärbt waren, machte er linkisch eine wegwerfende Handbewegung.

Wenige Jahre später habe ich an seinem Sterbebett im Krankenhaus den Feuerwehrkommandanten des Nachbardorfes kennengelernt. Er war ebenfalls ein alter schwerkranker Mann, der im Bett neben meinem Vater lag und sich angesichts des Namens wieder an den Brand erinnerte. Vor allem erinnerte er sich aber an das Päckchen Zigaretten, das er ebenso wie seine Kollegen damals von meiner Mutter nach getaner Arbeit bekommen hatte. So nett, so anständig, so freundlich angesichts dieser Katastrophe.

Und wiederum vergingen Jahre, ehe ich anlässlich eines Dorffestes – ich wohnte zu der Zeit schon gar nicht mehr in meinem Elternhaus – Fotografien von jenem Großbrand zu sehen bekam. Niemand aus meiner Familie hatte von der Existenz jener Schnappschüsse gewusst. Ein Nachbar, bereits im Besitz einer Kamera, hatte das Ereignis festgehalten. So konnte ich mir endlich auch ein Bild von dem machen, was ich lediglich aus Erzählungen kannte. Ein Inferno, die Teerstraße brannte, die neu erworbene Hobelmaschine, der Stolz meines Vaters, war vernichtet, die Möbel aus dem Wohnhaus wurden von helfenden Händen bereits auf der Straße zusammengestellt, da – oh Wunder – drehte sich der Wind und das Feuer fand keine Nahrung mehr, es konnte gelöscht werden. Inzwischen hatte die einheimische Feuerwehr Gott sei Dank auch den Schlüssel zum Öffnen des Hydranten wiedergefunden. Welche Blamage!

Ich bin Jahre später geboren, damals war die Werkstatt schon wieder notdürftig aufgebaut, eine gebrauchte Hobelmaschine gekauft und im kleinen Garten trocknete wieder ein Bretterstoß seiner Verwendung entgegen, der mir zum Klettern und Herunterfallen diente. Mein Vater aber war alt geworden und hatte den Schwung verloren, sofern er jemals darüber verfügt hatte. Ich kann es nicht wissen.

Jener Brand ist also im Zeichen des Sputnik geschehen. Die Zeitungen waren voll von diesem Ereignis. Bestimmt hätte mein Vater die Berichterstattung im Radio verfolgt, aber die lodernden Flammen hinderten ihn daran. Ich glaube, dass er auch damals schon gern mit dem Sputnik in den Weltraum entkommen wäre.

Die Mondlandung wollte er sich aber nun definitiv nicht entgehen lassen. Aufgeregt wie ein Schuljunge kam er in die Küche, wo sich die restliche Familie versammelte, holte sich frisches Bier aus dem Kühlschrank und erstattete mit leuchtenden verwässert blauen Augen Bericht über den Stand der Dinge, die die ganze Welt in Atem hielten. Aber in der Familie nahm außer ihm keiner ernsthaft Anteil an diesen weltbewegenden Ereignissen. Sicher fand ich es aufregend, aber es war ja doch so unwirklich weit entfernt.
Ich war ein Kind und hielt die Mondlandung wie das Andersen Märchen von der Meerjungfrau für eine phantastische Geschichte, die die Gedanken und Gefühle mitreisen ließ. Seltsamerweise wollte ich die Bilder davon gar nicht sehen. Sie hätten die Vorstellungen, die von den nebenher aufgeschnappten Erzählungen in meinem Kopf entstanden, zum Stillstand gebracht. Die meiste Zeit saß mein Vater allein im Zimmer im ersten Stock vor der Flimmerkiste. Meine Mutter traute diesen trügerischen Bildern von Haus aus nicht. Sie unterhielt sich lieber in der kargen Küche mit den Männern, die auf ihrem Nachhauseweg vom Wirtshaus, das übrigens den verwegenen Namen Bärenhöhle trug, bei ihr am Küchentisch noch einmal Station machten. Die Männer waren allesamt im Krieg gewesen, in Sibirien oder an ähnlich furchtbar tönenden Orten, hatten in der Gefangenschaft ihre Gesundheit eingebüßt und auch ihre Jugend, waren spät und zerrüttet heimgekommen. Träume hatten sie sich allerdings bewahrt, die hatten sie am Leben festhalten lassen.

Als sie endlich wieder im Dorf angekommen waren, erkannten sie aber die Häuser und Höfe nicht mehr als ihre Heimat. Dabei hatten diese in der unwirtlichen Ferne in zauberhaften Farben gestrahlt. In der Gefangenschaft hatte sich das Dorf zum Ort der Sehnsucht ausgewachsen: mit den Milchkühen, dem Sägewerk, dem schwer tragenden Birnbaum, von dem sich die Hungerleider uneingeschränkt bedienen konnten, den Läden, Bäckereien, dem Wirtshaus, der Kirche, die sich bei Sonnenschein in der Rossschwemme spiegelte und deren Turm an lauen Abenden von Fledermäusen umkreist wurde, mit den Küchen, in denen geschürzte Frauen neunundneunzig verschiedene Kartoffelgerichte zubereiteten, Frauen, die mit Kargheit und Entbehrungen umzugehen wussten.
Eben diese Frauen hatten sich in den vergangenen Jahren ihr Leben ohne Männer eingerichtet. Und jetzt fiel der neue Zusammenstand schwer, schwerer als alles zuvor Ertragene, und die Kraft war geschwunden. In den gemarterten Hirnen der Heimkehrer erwies sich Utopia als eine geplatzte Luftblase. Aber nachdem Sibirien überstanden war, konnte man in der Heimat nicht kapitulieren. So schufen sie sich, in derlei Dingen geübt, mit Schnaps und Zigaretten einen neuen Sehnsuchtsort, und meine Mutter war ihnen dabei behilflich. Vielleicht hörte sie ja aus den Erzählungen ihr Utopia heraus.
Immer hatte sie eine Flasche Doornkaat mit Ausgießer im Kühlschrank und schenkte, wohl wissend um das ganze Elend, die Gläser voll. Dabei fielen ein paar Tropfen auf die blank gescheuerte Tischplatte. Sie schrieb an, ohne viele Worte darüber zu verlieren. Die Männer hatten meist kein Geld in der Tasche. Ihre Frauen hielten sie kurz. Schließlich musste jetzt, nachdem man die ganze Sach mühsam über den Krieg gerettet hatte und auf den ersten Bulldog sparte, nicht alles versoffen werden.

So blühte manch einer für kurze Zeit noch einmal auf und schwelgte in Erinnerungen. Erstaunlicherweise erzählten sie jetzt von Russland in den düstersten, aber auch schillerndsten Farben. Alles war selbst dort nicht schlecht gewesen, und im Gespräch erhitzten sich die Männer gegenseitig. Sie sprachen von den Kämpfen und dem Hunger und davon, dass immer ein Spezialist dabei war, der etwas zu essen fand. Das Brot musste während der Nacht im Unterschlupf an Fäden aufgehängt werden, um es vor den Ratten zu schützen. In der Gefangenschaft mussten sie auf dem blanken Betonboden schlafen. Die Russen kontrollierten, und wehe, einer hatte sich heimlich einen Rupfen untergeschoben. Der wurde schimpfend und schreiend weggenommen.
Einer der Männer in der Stube meiner Mutter hat sein schweres Asthma auf diese brutale Herzlosigkeit zurückgeführt. Und immer wieder fielen die Worte „Dawai, dawai!“ Sie sprachen davon, wider Willen Russisch gelernt zu haben, aber ich habe aus ihren Mündern nie ein weiteres Wort vernommen, und ich war sehr aufmerksam und hing an ihren Lippen. Meine Mutter strickte nebenbei und hörte meist unbeteiligt zu. Wenige Worte warf sie ein, aber sie war da, wenn auch bei sich.

Trat mein Vater aufgeregt ein, die neuesten Fernsehmeldungen stolz verkündend, so entfuhr einem der Männer der folgenschwere Satz: Jetzt kommt er wieder, der Mondsüchtige. – Darin lag all die Verachtung, die seine Jugendfreunde für ihn übrig hatten. Schließlich hatte er sich ihrer Meinung nach um den Kriegseinsatz herumgedrückt, seiner verlorenen Finger wegen. Er war nicht wehrtauglich gewesen, da er mit dem steifen Zeigefingerstummel der rechten Hand kein Gewehr zweckmäßig bedienen hat können. So ein Glück und so ein Pech!

Der „Mondsüchtige“ saß tief, und ohne ein Wort zu verlieren, legte er einen verlorenen Blick auf die feixende Runde und verschwand wieder zu den ununterbrochen gesendeten Bildern aus dem Weltraum. Es waren kalte Bilder von einem unwirtlichen Ort, mit Menschen, die man in ihren Schutzanzügen kaum als Menschen erkannte. Seltsam schwebten sie schweren Schrittes über die Kraterlandschaft, hissten die amerikanische Flagge, sammelten Mondgestein als Beweis für daheim, sonst hätte man ihnen wahrscheinlich gar nicht geglaubt, je dort gewesen zu sein. Seltsame Bilder wurden da um die Welt geschickt, und seltsame Worte. Sie erzeugten eine Anspannung, die schier alles zum Erliegen brachte, bis endlich die Astronauten in der Raumkapsel wieder im Atlantik aufschlugen. Dann ging ein Aufatmen durch die Wohnzimmer und die Gesichtszüge entspannten sich. Es krochen nach der Bergung tatsächlich die gefeierten Helden heraus, schraubten den Helm vom Schutzanzug ab und lächelten in die blitzenden Kameras. Sie waren dort gewesen, wo alle gern hinwollten. Sie hatten den Weltraum erkundet und waren wiedergekommen, allen davon zu künden. Und eines Tages, so Gott will erleben wir ihn noch, werden wir alle zum Mond reisen und vielleicht dort leben, wer weiß.

Mein Vater hat regen Anteil an diesen Ereignissen genommen. Er heftete daran eine letzte Hoffnung. Und das ist nun für mich heute das Erstaunliche. Das ganz und gar Neue und Ferne und Unerreichbare hat ihn seltsam fasziniert. Trotz aller Unbill, die das Leben für ihn bereithielt, hat er darin Trost gefunden. Mit verhaltener Genugtuung begegnete er dem Spott der Anderen. Sie würden schon noch sehen. Der Tag wird kommen. Er weiß darum, er gehört zum engen Zirkel der Eingeweihten, er wird gerüstet sein, wenn es denn so weit sein wird, für den Flug zum Mond oder nach nirgendwo.

Ich bin nun in diese Geschichte hineingeschlüpft und meinem Vater, der bereits seit mehr als fünfunddreißig Jahren tot ist, erstaunlich nahe gekommen. Das ist das Schöne am Erzählen. Immer wieder staune ich darüber, dass so vieles bewahrt wird und bleibt, und sei es nur für die kurze Zeit, die man zum Erzählen einer Geschichte braucht. Für mich ist es wie ein Hineingehen in ein verlassenes Schneckenhaus. Langsam taste ich mich voran und finde im Verborgenen die Fäden, die die Erinnerungsbilder zusammenfügen und ganz machen, was oft lange Zeit quälend diffus im Hirn hin- und herspukt. Es ist mir eine Erleichterung, wenn sich dann doch alles so fügt und zu einem Abschluss kommt, zu einem vorläufigen. Anders geht es nicht.
Aber jetzt muss ich noch einen Schritt weiter gehen. Ich kann nicht bei der Geschichte stehen bleiben. Ich muss vielmehr wieder herausgehen. Das ist das weitaus Anstrengendste. Und das macht das Erinnern auch erst lebendig. Ich muss einen Knoten zu meinem Leben machen, umkehren und den Weg aus dem Schneckenhaus heraus suchen.

Mit dem Erzählen ist mir klar geworden, dass jeder seinen Sehnsuchtsort hat und dass dieser Ort sich unablässig verändert. An guten Tagen finde ich ihn beim Blick aus dem Fenster oder beim Spaziergang durch die Wiesen und Wälder. An schlechten Tagen finde ich ihn tausende Kilometer entfernt und sehne mich nach dem Land, wo Milch und Honig fließt. Wohlwissend, dass das kein geographisch zu lokalisierender Platz ist. Und dann durchlebe ich natürlich auch Tage, an denen ich mich schier ganz unbeheimatet fühle. Und die sich selbständig machenden Gedanken martern mich, sodass ich am liebsten meinem Vater gleich in die Apollo 11 einsteigen möchte, um für immer zu entkommen. Und irgendwann würde sich dann sicher die Gelegenheit ergeben, aus dem Weltraum herabzuspucken und laut Ätsch zu rufen: Seht ihr, ich hab es doch geschafft, ihr Kleingläubigen, ihr Gratler.

Und dann ist es wieder gut, mich an eine Geschichte angebunden zu wissen.

Claudia Kellnhofer
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