Zwei Fremde im Bus: Von Aleppo nach Laaanderthaya

Am 27. August 2015 stieg der Mann in den weißen Bus mit drei grünen Rebstöcken an der Seite, bezahlte beim Fahrer 15 Euro: „Laa- an- der-Thaya, please“, ging die Reihen entlang und wählte einen der hinteren Plätze. Den kleinen Koffer legte er ins Gepäckfach, auf den leeren Sitz neben sich stellte er die Papiertasche mit den goldenen Bögen einer großen Kette. Hinter ihm lagen viele große und kleine Städte, und seine Reise aus dem Osten in den Norden dauerte nun schon mehr als zwei Jahre. Er war an vielen Orten gestrandet, länger oder kürzer. Von Aleppo weg ein Jahr in Beirut und Istanbul, dann eine griechische Insel, in Athen ein ganzes Jahr Tellerwäscher bei Nikolas, dem Tavernenwirt, der wollte wirklich helfen, obwohl es ihm selbst gar nicht gut ging. Später kurz Skopje, Belgrad und Budapest, die ganze schreckliche Balkanroute samt ungarischem Mörderdraht, schließlich Hauptbahnhof Wien. Die Hauptstadt von Austria ist etwas größer als Aleppo einmal war. Vienna war ihm in der alten Heimat schon ein Begriff gewesen, weil er etwas von Sigmund Freud gelesen hatte. Laaanderthaya kannte er natürlich nicht, und er wiederholte dieses schwierige Wort immer wieder – sollte das vielleicht einmal seine neue Heimat werden?
Er versuchte, Assoziationen zu seiner Muttersprache zu finden: La-andertaya. Er drehte das Wort um: Al-redna Ayat, das klang ja fast Arabisch, freute sich der Mann und lächelte auf den Notizzettel im Schoß hinunter: Wien-Hauptbahnhof – U1 bis Stephansplatz- U3 – Landstraße-Waldviertel-Bus Laa-an-der-Thaya – Kirche-Pfarrhof-Seniorenheim-Caritas. Hau-ptb-ahnhof, das ging gar nicht – ptb, das war unmöglich auszusprechen, genauso wie das -ldv- und das -pf-, für ihn waren das keine erkennbaren Laute, und seine Sprechwerkzeuge sträubten sich dagegen wie gegen eine tote Maus. Am Hauptbahnhof hatte eine junge Frau mit Kopftuch, eine „helping hand“ – so stand es in mehreren Sprachen auf dem Klebeschild ihrer grünen Weste – schon ein bisschen mit ihm geübt. Die offizielle Zuweisung der Caritas an das „Seniorenheim“ trug er tief in der linken Innentasche des neuen Sakkos, dort, wo er auch das Foto seiner Frau und der zwei Töchter aufbewahrte. Kein aktuelles Foto, weil seine ältere Tochter schon früher aus Aleppo weggegangen war.

Der Syrer, ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mittelgroß und hager, mit Hornbrille, blauen Augen und Halbglatze, ist auf seinen vielen Stationen seit Aleppo ein geduldiger Reisender geworden. Es war überhaupt seine erste Reise außerhalb Syriens, sogar in der Hauptstadt Damaskus ist er nur einmal gewesen. Und auch diese Reise hätte er nicht angetreten, wenn ihn der Krieg nicht dazu gezwungen hätte. Davor war es ihm und seiner Familie gut gegangen in Aleppo, seiner Frau Rikhiel und den beiden Töchtern Daliah und Myrnah. Schweiß trat auf seine Stirn, als ihn die Erinnerungen ohne Schutz überfielen.
Er stöhnte lautlos, senkte den Kopf tief über die Knie und rieb sich die Schläfen, um die Bilder zu vertreiben. Es war nicht heiß im Bus, aber er zog das Jackett aus und hängte es über die Rückenlehne. Die schwarze Hose war ihm viel zu weit und zu lang, er zupfte immer wieder vorsorglich die scharfe Bügelfalte hoch, wenn er seine Beinstellung änderte. Es war ein feiner, glatter, angenehm kühler Stoff. Mit einem weißen, zusammengefalteten Stofftaschentuch wischte er über die Oberschenkel, als ob er unsichtbare Tabakkrümel, Asche oder Staub beseitigen wollte. Er nestelte mit leichten Gesten an der Hemdbrust und klopfte mit so beweglichen Fingern auf den Knien herum, als hätte er sein Leben am Klavier verbracht. Aber er war kein Pianist, sondern nur Masseur, ein Handaufleger und Wunderheiler. In Aleppo hatte er einen guten Ruf genossen, er galt als ein Meister, als Künstler, manche sagten sogar Magier, seine Praxis war überlaufen, sogar Ausländer kamen zu ihm und die Herren und Damen des innersten Machtzirkels der Stadt durfte er von ihren Leiden erlösen.
Er saß allein in seiner Reihe mit den blau-rot-gemusterten Sitzen, mit einer Fußstütze, einem aufklappbaren Tischchen und einem Netz an der Rückseite des vorderen Sitzes, ein Luxus, wie er ihn noch in keinem Bus erlebt hatte. Die ehemaligen Aschenbecher in den Sessellehnen waren verklebt. Aha, es hatte auch hier andere Zeiten für Raucher gegeben. Aus den Lautsprechern drang leise Musik, vielleicht klang so Wiener Walzer. Ihm gefiel es, und es überkam ihn kurz ein behagliches Gefühl. So ging also Reisen, so sollte es immer sein.

Die Kleidersachen hatte er heute am Morgen am Hauptbahnhof bekommen. „Train of Hope“ (ToH) nannten die Leute ihre Hilfsaktion. Er kam so früh aus der Caritas-Notunterkunft zum ToH, dass die Schlange vor dem Zelt mit Männerbekleidung noch relativ kurz war. Er staunte, so vieles war da, häufte sich in Stößen und Schachteln und quoll aus den Regalen, von allem genug und in großer Auswahl, vor allem jugendliche Sportbekleidung, Anoraks, Schuhzeug, Wäsche, Mützen, Rucksäcke und Taschen aller Art. Als Erstes hatte er seinen Plastiksack von Billa-Budapest gegen einen kleinen, aber seriösen Koffer eingetauscht.
Es entsprach ihm, David Al-Bahri, dem Juden aus Aleppo, dass er sich für diesen altmodischen Anzug entschied, dazu ein blass-blaugestreiftes Hemd und eine orientalisch gemusterte Seidenkrawatte. Wahrscheinlich war sie an allem Schuld, erinnerte sie ihn doch an Ornamente der Umayyaden-Moschee, oder waren es die Stoffe im Basar oder ein Mosaikfries der frühbyzantinischen Helena-Kathedrale von Aleppo? In seinem Leben hatte er so etwas noch nicht getragen, aber ihm kamen diese fremden Kleidungsstücke auf geheimnisvolle Weise vertraut vor. Irgendwann, irgendwo wollte er jemanden fragen, was die in die Krägen und Stulpen eingenähten Bändchen „KNIZE“ bedeuteten.
Dem Anzug entsprechendes Schuhzeug hatte er im Gedränge nicht finden können. Deswegen trug er jetzt schwarz-weiße, etwas zu große Sportschuhe an den Füßen mit dem eigenartig arabisch klingenden Namen Adi-das. Er genierte sich, wenn er an seinen Beinen hinuntersah, wie sich die weiten Hosenröhren in mehreren Lagen über den Turnschuhen wölbten. Er war in löchrigen Straßenschuhen und mit abgelaufenen Badeschlapfen in Wien angekommen, lächerlich, wofür sollte er sich noch schämen.

Im spärlich besetzten Weinviertel-Bus merkt niemand, wie er zu kämpfen hat, dass er nicht rauchen darf, wie ihm der Schweiß auf dem Gesicht steht und über Hals und Nacken läuft. Er öffnet das Hemd und wischt mit dem Taschentuch über die Brust, nimmt die Seidenkrawatte ab, kaut an einem Zündholz und schiebt es mit der Zunge ständig von einem Mundwinkel in den anderen. Für einen starken Raucher wie ihn war das Rauchverbot eine Qual, noch eine zu den vielen der Flucht. Aber David Al-Bahri ist ein geduldiger Fahrgast. Und ein aufmerksamer. Als sie aus der Stadt heraus waren, stiegen immer wieder Menschen vorne ein und hinten aus, sehr diszipliniert, langsam und immer in Reih und Glied, fast alle Passagiere waren älter als er, alt oder sehr alt, aber rosig und gut gelaunt.
Wo war die Jugend dieses Landes, wunderte er sich. Zwei Frauen in der Reihe vor ihm hatten bunte Taschen mit Einkäufen bei sich, redeten laut, lachten und schwatzten wie Junge, offenbar miteinander vertraut, obwohl sie an verschiedenen Stationen eingestiegen waren. Alle sprachen den Fahrer an, als wäre er ein Familienmitglied. Am rechten Vordersitz unterhielt sich ein schwerhöriger Mann lautstark und gestenreich mit sich selbst und legte immer wieder die linke Hand ans Ohr, als wollte er sich selbst zuhören.
An einem Halt – er konnte die Ortstafel nicht so schnell entziffern – beobachtete er eine Szene: Der Fahrer bekam ein zwitscherndes Lautsignal, ähnlich einem Vogelruf, da stieg er aus, kam zur Mitteltür und klappte eine Plattform so exakt aus dem Boden des Busses, dass eine einzige Rollstuhlfahrerin, grotesk deformiert an Gesicht und Körper, fast ebenerdig hereinrollen konnte; sie war in Begleitung einer jungen Frau, die den Rollstuhl an dem vorgesehenen Platz in einer leeren Ecke mit einem Riemen befestigte. Gab es irgendetwas, was sie nicht vorhersahen? So viel Aufwand für eine einzige Invalide. Nach nur zwei Stationen stiegen sie genauso wieder aus.
An einem anderen Ort – Ober- oder Unter-Hollabrunn? – schwang sich ein lauter Schwarm von bunten Teenagern in den Bus, Schüler und Schülerinnen mit Rucksäcken. Sie besetzten die hinterste Sitzreihe und wälzten sich so hungrig und durstig über ihre elektronischen Geräte, als seien sie gerade mit dem letzten Wasserschluck der Wüste entkommen. In einem größeren Ort mit zwei Kirchtürmen stiegen sie genauso lärmend wieder aus.

Ein junger Mann, wahrscheinlich noch keine 25, mit einem nagelneuen Seesack über der Schulter stieg zu. Der schaute sich suchend um, ging in den hinteren Teil des Busses und setzte sich genau hinter David. Die lächelnden Augen in dem jungenhaften, rotbackigen Gesicht grüßten ihn beim Vorbeigehen stumm, und David nickte zurück. Als sich der junge Mann auf seinem Platz eingerichtet hatte, griff David neben sich und wandte sich mit dem geöffneten Sack nach hinten. „Please, take some.“ Der junge Mann errötete tief und sagte: „Danke, thank you, very nice, sehr freundlich. My name is August.“ „David, very pleased.“

Der Junge schämte sich ein bisschen dafür, dass er nichts anzubieten hatte, und wurde noch röter. Aber er fuhr ja nur 85 Kilometer bis nach Hause.
Am Bahnhof hatten David ein paar freundliche Jugendliche zwei gigantische, in Stanniol verpackte Veggy-Burger, zwei Apfeltaschen, zwei Bananen und zwei Wasserflaschen „Vöslauer mild“ überreicht. Sie trugen den Proviant in großen Plastikboxen durch die Menge und lächelten jeden an. Bitte, please, bitte please und das noch in Arabisch und rund zwanzig östlichen Sprachen, die an den Plastik-Aufklebern ihrer Westen angeschrieben waren. David kam aus dem Staunen nicht heraus. Wer waren diese Jugendlichen, warum waren sie nicht in der Schule oder in der Arbeit? Was war das hier überhaupt, wohin war er geraten?

Bahnhofshallen und ein Vorplatz, Fahnen mit OeBB, auf einem Container eine Regenbogenfahne, über anderen Containern wehte eine mit dem Roten Kreuz und „Arbeitersamariterbund“, ein schon etwas vergilbtes Transparent mit der Aufschrift „Refugees WELCOME“, daneben ein großes, weißes Zelt mit aufgedruckten Äskulapnattern, „First Aid“ und vielen in Arabisch geschriebenen Zetteln mit hingekritzelten Notizen und Telefonnummern, davor einfache Holzbänke, alle vollbesetzt mit Wartenden. Die meisten hatten offenbar Fußprobleme, sah er mit einem schnellen Blick.
David war gut davongekommen, er musste damals, vor einem Jahr, nur auf seiner ersten griechischen Insel dreißig Kilometer gehen, um in die Hauptstadt Mytilini zu kommen und auf eine Fähre nach Athen gebracht zu werden. Aber er war ja schon vor einem Jahr aus Aleppo aufgebrochen und hatte in Athen bei Nikolas gearbeitet, gehofft, dass er seine Familie zumindest bis Athen nachholen könnte. Die Neuankömmlinge dieses Sommers haben es viel schwerer als er.

Auf allen seinen Stationen hatte er so etwas noch nicht erlebt. An einem Stand in dieser Bahnhofshalle hing ein Plakat mit der Aufschrift LAWYER, umringt von Zetteln in arabischen und einem Dutzend anderer asiatischer Schriftzeichen. SIKH HELP AUSTRIA, die langbärtigen, turbanbekrönten Männer in Gelb fielen ihm auf. Sie verteilten Reis und Linsensuppe aus Hundertlitertöpfen an der Essensausgabe. Andere hatten Aufkleber auf ihren roten Helferjacken, „Legal advice“ las er. Dieser Kiosk war noch dichter belagert als die Tische bei der Essensausgabe und jene mit Hygiene-Artikeln. David bekam Rasierzeug, Zahnpaste und Bürste, alles fabriksneu verpackt, ein ebensolches Paket mit T-Shirts und Socken.
Am lautesten und engsten war es bei der Handy-Ladestation in einer Ecke beim Eingang. Jeder wollte nur seine Verbindungen herstellen, dorthin, wohin sie wollten und woher sie kamen. David hatte kein Handy und kein iPhone. Als er am Stand der LAWYERS an die Reihe kam, stellte sich heraus, dass er eine Erstzuweisung entweder nach Traiskirchen oder nach Laa an der Thaya bekommen könnte; er entschied sich für das unaussprechliche Laaanderthaya. Im Treck von Athen nach Wien hatte er aufgeschnappt, dass in Austria Traiskirchen zu vermeiden sei, es sei ein Lager, ein Camp. Camp klang nicht gut in Davids Ohren. Dort sei es nicht gut, und von dort komme man schwer wieder weg, lautete das Gerücht. Hinter dem Tisch der lawyers saß eine ältere Frau, zu der er sagte: „Please, Laanderthaya, please.“
Sie gratulierte ihm mit einer vorgestreckten Hand, die er nicht annehmen konnte, aber sie lachte und überreichte ihm ein dickes, abgenutztes rotes Buch in der Größe eines Ziegels, das Cassels-Wörterbuch Classical Oxford Dictionary, Deutsch-Englisch/Englisch-Deutsch. „It could be useful to you, maybe.“ Und lächelte. David nahm den Schatz an sich, er war glücklich, wollte er doch so schnell und so gut wie möglich die Landessprache erlernen, damit er sich selbst erhalten und seine Familie nachholen konnte. Die österreichischen lawyers erklärten ihm, wie das ging, der Arabisch-Dolmetsch, ein junger Syrer, der neben Deutsch auch noch Englisch, Kurdisch und Türkisch sprach, übersetzte so, dass er meinte, alles verstanden zu haben.
Er würde in einem „Seniorenheim“ der Caritas ein Zimmer bekommen, als Pfleger und vielleicht später in seinem Beruf arbeiten dürfen, aber außer einem kleinen Taschengeld noch nichts verdienen, solange er keinen positiven Asylbescheid hatte. Dass das schnell ging, diesbezüglich hatten sie ihm keine großen Hoffnungen gemacht. Warten, Monate, vielleicht Jahre, aber für einen Juden aus Syrien wahrscheinlich mit positivem Ausgang – „eine gute Bleibeperspektive“ hatte er. Was sie ihm in der Kürze nicht vollständig erklären konnten, war der Begriff „Seniorenresidenz, Altenheim“.
Bei ihm zu Hause blieben die Alten in der Familie, wurden von allen gemeinsam gepflegt bis zum Ende. Niemand wurde in ein Heim oder eine Residenz gebracht. Wohin sollte er also kommen, was sollte er dort machen, und was war eine „Caritas“? Oh Gott, wie viel hatte er noch zu lernen. Aber David dachte an seine Wunderheilerhände, breitete sie vor sich im Schoß aus und schaute zuversichtlich auf sie herab. Hatte er seine Gabe mitnehmen können in die unbekannte Zukunft?

Der junge Mann griff in den angebotenen Sack mit dem goldenen M und nahm sich von allem die Hälfte, nur die Banane ließ er liegen. Er strahlte ihn mit einem Dankedanke, thank you! an. So aßen und tranken sie schweigend, bis der Junge seine Finger an den Jeans abwischte, und der Fremde Hosenbeine, Lippen und Fingerspitzen mit dem Taschentuch abtupfte. David schaute aus dem Fenster und hätte gerne gewusst, was das für Pflanzen waren, lange Reihen von blattreichen, niedrigen Büschen mit weißen und rosa-bläulichen Blüten. Schnell blätterte er im Wörterbuch und deutete mit dem Kinn auf die Felder hinaus: „What is that?“ Der junge Mann strengte seine Augen an und verstand nicht. Was wollte der Mann, da war nichts, Felder eben. „Tobacco?“, versuchte es David, der leidenschaftliche Raucher. Jetzt fiel der Groschen, und der junge Mann lachte herzlich: „Nein, nein, Tabak wächst hier nicht, nicht bei uns! Das sind Erdäpfel, potatoes, patates, pommes.“
Der junge Mann konnte ein wenig Englisch und einige Bruchstücke von anderen Sprachen. Er hatte Kellner gelernt und war mehrere Jahre auf einem deutschen Frachtschiff als Küchengehilfe zur See gefahren. Seine Kollegen waren meist Asiaten, und ihre gemeinsame Sprache war das Kitchen-English. Jetzt kehrte er nach Hause zurück, in seine Heimat Gnadendorf bei Laa an der Thaya, zu seiner schwangeren Schwester, und der Schwager konnte vielleicht Hilfe auf dem kleinen Hof gebrauchen.

Es war auch sein Heimatort gewesen, so lange die Eltern gelebt hatten. Schön ist es dort, ruhig und viel Grün, es gab viele potatoes dort und trees, Bäume, viel Wald. Er würde sich im Dorf ein hübsches, tüchtiges Mädchen suchen, heiraten, eine Familie gründen und ein Haus bauen. Oder doch in umgekehrter Reihenfolge? Da musste David so herzlich lachen, dass sich sein Gesicht völlig veränderte. Der Junge lachte mit, obwohl der Spaß auf seine Kosten ging. Dann spitzte er die Lippen, als ob er pfeifen wollte, schnalzte mit der Zunge und schmatzte mit den Lippen.
Sie verstanden einander und lachten gemeinsam mit zurückgeworfenen Köpfen. Dann beugte er sich zwischen den Sitzen wieder zu dem Mann vor und machte noch einen Versuch, diesmal mit tiefer, verstellter Stimme, um höflich zu wirken: „Sie sind Ausländer – Araber, Muslim?“ David zuckte zusammen. Ja und nein, wie sollte er es diesem jungen Mann aus der Provinz erklären – ein syrischer Jude aus Aleppo, das war schon in Syrien schwer zu verstehen. Und was und wer war er überhaupt, seit er ohne seine Familie auf der Flucht war? Ein Syrer, aber kein Araber, seit zwei Jahren auf einer Odyssee und nun auf dem Weg zu einem Caritas-Heim Sancta Monica in Laa an der Thaya, Weinviertel, Niederösterreich. Sicher kein Araber, aber was für ein Jude war er, der noch nie in einer Synagoge gewesen war und dessen Vorfahren aus Marrakesch stammten?
Der junge Mann seufzte, gab aber noch nicht auf, sondern versuchte eine doch ziemlich peinliche Frage zu formulieren: „Wo sind Sie daheim?“ Auch diese Frage war schwer zu beantworten. David stach mit dem Zeigefinger auf seine Brust und sagte: “I am from Syria, I am jewish, I am a masseur, now in Laa- an- der-Thaya“ – das ging ihm schon ganz gut von den Lippen. Es entstand eine längere Pause, und beide Männer wandten ihre Blicke aus dem Fenster auf die vorüberziehende Landschaft, auf saubere Dörfer, Kirchtürme, Hügel, Wälder und grüne Wiesen, soweit das Auge reichte, und die weiß-rosa-lila blühenden Stauden. Es gab auch noch andere Felder, Getreide und Pflanzen mit runden Kapselköpfen, die kannte er aus seiner Heimat, aber er wunderte sich, dass Mohn hier abwechselnd mit potatoes wuchs.

Er wird diesem freundlichen, neugierigen Provinzjungen jetzt noch nicht erklären können, was es bedeutete, kein gewöhnlicher Reisender zu sein so wie er, auf einem Handelsschiff in der Ostsee oder wie jetzt auf dem Weg zur Schwester in Gnadendorf.
Er war ein Flüchtling auf Reisen. Dass seine Reise nicht nach Stunden gemessen wurde, sondern nach Jahren, nicht nach Hunderten von Kilometern, sondern nach Tausenden. Die Reise des Flüchtlings glich eher einem Geisteszustand als einem Reisestadium, das sich mit Landkarten und Fahrplänen errechnen lässt. Laa an der Thaya-Caritas. Und wieder seine Marotte, die Worte umzudrehen, Satirac, um vielleicht eine Sprachverwandtschaft zu finden. „Do you have family? Where are they?“ Der Junge steckte wieder den Kopf zwischen die Sitze nach vorne. David atmete tief durch, als müsste er einen Anlauf nehmen, setzte seine Hornbrille ab und wischte mit dem Taschentuch daran herum.
Er nickte: „Yes, over there, back in Turkey“, und holte das Foto aus der Tasche. Der Junge fand seine Frau und die Töchter nice, very nice. David betrachtete lange das Bild und steckte es wieder zurück. Das hätte er nicht tun sollen, sein Herz schien doppelt so schnell zu schlagen und wollte das Jackett sprengen, so sehr regte es ihn auf, direkt in ihre Gesichter zu sehen. Als sei sie ein Rettungsring, hielt er sich mit beiden Händen an der Wasserflasche fest, dass die Sehnen an den Händen hervortraten. Mehrmals schlug er die Beine in den schwarzen Knize-Hosen übereinander, zupfte die Bügelfalte sorgfältig zurecht und betrachtete seine lächerlichen schwarz-weißen Sportschuhe.

Seine Frau Rikhiel und die kleine Daliah würden früher oder später nachkommen, darüber sorgte er sich weniger. Aber seine Große, die jetzt zwanzigjährige Myrnah, war schon vor drei Jahren weggegangen, sie wollte nach Israel und Schauspielerin werden. Ich bin Jüdin, hatte sie selbstbewusst gesagt, sie müssen mich reinlassen. Ja, hübsch und klug war Myrnah auch noch, aber von allem zu viel, für diese Zeiten. Diese alten, düsteren Sorgen. Zuletzt hatte er von ihr in einem abgebrochenen Telefonat aus Kairo gehört. Später viele Anrufversuche mit Krachen und Rauschen, ohne dass eine Verbindung zustande kam. Er wollte glauben, dass diese schon aus Israel kamen. Wann und wo würden sie noch einmal zu viert zusammenkommen? Er würde mit Rikhiel und Daliah seinen Weg machen, ob in Laa an der Thaya oder anderswo, wenn ihn seine Zauberhände nicht im Stich ließen, wenn sie auch hier ihre Kraft entfalten würden, so wie in seinem früheren Leben.
Der Junge hinter ihm schien zufrieden zu sein, er hatte sich in seinem Sitz zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Wenn der Bus rüttelte oder in eine Kurve ging, fiel ihm der Kopf auf die Brust. Sie hatten zusammen gegessen, getrunken, geredet und gelacht. David breitete das Taschentuch zwischen die Kopfstütze und das Fenster und spürte, wie sich zum ersten Mal seine Beine entspannten und unter dem Vordersitz ausstreckten. Als der Bus an der Endstation hielt, legte er dem schlafenden Jungen die Hand auf die Schulter, und sie stiegen gemeinsam aus.

Veronika Seyr
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Erstveröffentlichung im Standard im November 2015

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